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KAPITEL 1

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Ich wurde im Wald geboren, am Fuß der Berge, auf einer Wiese, die ich als «den Gras-Ort» kannte. Das Erste, was ich sah, war die Sonne, die rot durch die Bäume schien, und sieben zottelige Tiere, die auf ihren Schatten grasten.

Es waren Ponys. Und ich war auch ein Pony, mit Beinen so schwach wie Weidenruten. Meine Mutter musste mich mit ihrer Nase auf die Füße schubsen, damit sie mich säugen konnte. Aber schon nach einem Tag war unsere kleine Herde wieder unterwegs. Ich hüpfte neben meiner Mutter her und glaubte, dass ich bereits so schnell und stark wie jedes andere Pony war. Ich wusste ja nicht, dass die anderen wegen mir langsam liefen, damit ich mit ihnen Schritt halten konnte.

Unser Anführer war ein silberner Hengst. Er war so wachsam wie eine Eule. Niemals überquerten wir offenes Land, ohne dass er vorgegangen wäre. Reglos stand er am Rand der Weide und hielt Ausschau nach Wölfen und Berglöwen. Er war immer der Letzte, der trank, und der Letzte, der graste, weil er Wache hielt, bis wir gesättigt waren. Bis auf einen dunklen Fleck auf seiner Brust war sein ganzer Körper schneeweiß. Ich fand es herrlich, zuzuschauen, wie seine silberweiße Mähne in Wind und Sonne flatterte, wie ein glänzendes Banner.

Wir folgten einem Weg, der uns innerhalb eines Jahres von den schneeverwehten Tälern des Winters zu den hoch gelegenen Weiden des Sommers brachte. Jedes Frühjahr führte er uns wieder zu einem steinigen Fluss, den wir einer hinter dem anderen durchquerten. In dem Wasser, das unsere Knöchel umspülte, machten unsere Hufe auf den Steinen ein lustiges, kicherndes Geräusch. Auf der anderen Seite stiegen wir die Böschung hinauf, liefen durch die Ausläufer eines Waldes und erreichten einen Grasplatz, der für mich der Mittelpunkt der Welt war.

Ich dachte, es würde immer so bleiben, ich würde immer jung und frei sein, ein Tag würde dem anderen folgen und ich würde tausend Sommer erleben.

Aber bereits in meinem ersten Jahr erlebte ich, wie junge Ponys älter wurden und wie ein altes Tier starb. Im Frühling war sie noch eine große, starke Stute gewesen. Aber dann, im Herbst, fing sie auf einmal an, ganz langsam zu gehen, und fiel hinter die Herde zurück. Sie beklagte sich nicht und rief nicht nach uns, wir sollten auf sie warten. Sie zog sich einfach nur zurück, und eines Nachts ging sie davon, zu einer Wasserstelle, und legte sich ganz allein in die Dunkelheit. Sie stand nicht mehr auf. Ich sah sie am nächsten Morgen. Ihre Nase berührte das gefrorene Wasser, die Beine ragten steif in die Luft wie die eines Insekts. Ich stupste sie mit meinen Lippen an und merkte, dass sie kalt und starr war, als ob ihr Körper zu Stein geworden wäre. In diesem Moment erkannte ich, dass nichts ewig lebt, dass sogar ich eines Tages sterben würde.

Das war schwer zu begreifen. Was bedeutete es zu sterben? Dem Gras machte es nichts aus, gefressen zu werden, und dem Wasser war es egal, wenn ich es trank. Aber die Kaninchen schrien, wenn der Fuchs zuschlug, und die kleinen Mäuse fiepten, wenn sie in den Krallen des Adlers baumelten. Warum also hatte sich die Stute so still hingelegt, ohne Groll und ohne Widerstand, fast so wie ein umgefallener Baum?

Daran zu denken machte mir Angst, und ich war froh, als mich unser Anführer von der Stelle wegholte. Auf der anderen Seite des Tals heulten schon die Wölfe und berichteten einander von der Aussicht auf Frischfleisch. Und so machten wir, dass wir wegkamen. Eilig galoppierten wir durch den Wald. Wenn die Wölfe auf der Jagd waren, rannten die Ponys. Wir liefen über einen Hügel, hinunter in ein Tal und wieder nach oben, und wir blieben erst stehen, als wir den Grasplatz erreichten.

Der nächste Morgen war genauso wie der allererste, den ich erlebt hatte. Die Sonne war rot und warf Lichtspeere durch die Zweige. Die Ponys standen auf der Wiese verstreut, die zotteligen Mähnen hingen ihnen um die Ohren, während sie das süße Gras abrupften.

Als wir das Klappern von Hufen im Fluss hörten, schauten alle hoch. Meiner Mutter hingen grüne Halme rechts und links aus dem Maul. Der Anführer drehte den Kopf, seine Ohren zuckten.

Am Rand der Wiese flatterte unvermittelt eine Krähe aus einem Baum. Ich starrte dorthin und fragte mich, was den Vogel aufgeschreckt hatte. Und dann kamen, begleitet von Rufen und Schreien, vier schwarze Pferde mit Männern auf den Rücken aus dem Wald galoppiert. Mit donnernden Hufen stürmten sie über die Lichtung, sodass die Erde erbebte.

Ich hatte noch nie einen Mann gesehen. Ich hatte noch nie ein Pferd gesehen. Ich dachte, es sei jeweils ein einziges Tier, ein doppelköpfiges Monster, das auf mich zugaloppiert kam.

Meine Mutter rief mich, als sie mit einem Satz die Flucht ergriff. Mit zwei langen Sprüngen war sie im Wald und verschwand zwischen den Bäumen, während sie immer noch schrie, ich solle ihr folgen. Aber ich hatte zu viel Angst, um mich zu rühren, und die anderen Ponys rannten mich fast um, als sie versuchten, die Sicherheit des Waldes zu erreichen. Nur der Hengst blieb zurück. Er stellte sich den vier Pferden entgegen, erhob sich auf die Hinterhand und kam mir plötzlich so groß vor wie ein Baum. Er schlug mit den Hufen, bereit, es mit allen vier Monstern gleichzeitig aufzunehmen.

Sie kreisten ihn ein. Die Reiter schrien. Die schwarzen Pferde wieherten und schnaubten. Mit hohen, scheinbar nervösen Schritten staksten sie durch das Gras, als ob sie Füchse zertrampeln wollten. Doch der Hengst überragte sie alle. Seine silberne Mähne umwehte ihn.

Dann wendete einer der Reiter sein Pferd und stürmte auf mich zu. Die Hufe des Pferdes schleuderten Erde und Gras in die Höhe.

Ich rief nach meiner Mutter, aber sie konnte mir nicht helfen. Ich rannte auf die Bäume zu, schneller, als ich je zuvor gerannt war. Ich ließ den Hengst in seiner einsamen Schlacht hinter mir und floh blindlings in den Wald. Ich hörte die seltsamen Laute der Männer und das Schnauben ihrer Pferde, und ich dachte unwillkürlich, dass diese Monster zwei Stimmen hatten. Inmitten dieser tosenden Stimmen erklangen die schrillen Schreie des Hengstes, erfüllt von Wut und Angst, und die verzweifelten Rufe meiner Mutter, die im Wald immer leiser wurden.

Ich folgte diesen Rufen. Ich stürzte mich durchs Unterholz und wich Bäumen aus, sprang durch eine Senke und über eine umgekippte Kiefer. Ich stolperte, fiel hin, rappelte mich auf und lief weiter. Ich schlug Haken, nach links und nach rechts, und die ganze Zeit wusste ich, dass mir das Monster auf den Fersen war. Ich hörte sein tiefes Keuchen und diese unheimlichen Rufe und das Knallen einer Lederpeitsche.

Ich erreichte den Fuß eines lang gezogenen Hügels. Für einen Augenblick sah ich über mir die Ponyherde, meine Mutter mittendrin. Ihre weißen Gestalten galoppierten wie eine Schar Geister durch den lichten Wald. Und dann fiel mir eine Seilschlinge um den Hals, die sich mit einem Ruck zuzog. Ich stolperte nach vorn, und mein Kopf wurde nach rechts gerissen, bis ich dachte, mein Hals sei gebrochen. Halb erwürgt und nach Atem ringend, lag ich auf dem Boden, während das Monster über mir stand und mich mit seinen vier Augen anfunkelte.

Was ich dann zu sehen bekam, ergab überhaupt keinen Sinn: Die Kreatur schien sich zu teilen. Der Mann auf dem Rücken des Pferdes erhob sich ein Stück und stieg dann aus dem Sattel. Und da wurde mir klar, dass ein Pferd fast wie ein Pony war, nur größer und schwarz. Ohne dass der Mann es ihm befehlen musste, machte das Pferd aus eigenen Stücken ein paar Schritte rückwärts, um das Seil gespannt zu halten. Es starrte mich ungerührt an, beinahe kalt und völlig unbeeindruckt von meinem Schmerz. Ich wehrte mich nicht. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, Luft zu bekommen. Ich sah dem Mann entgegen, der auf mich zukam, und ich fragte mich, was für ein Wesen das war, das ein Pferd zum Feind eines Ponys machen konnte.

Die Männer schleppten mich davon, weit, weit weg. Ich rief ständig nach meiner Mutter, aber es hatte keinen Sinn. Sie brachten mich ins Flachland, fort von Wald und Bergen, in ein Land voller Menschen. Sie steckten mich in ein Gebäude, in dem es so dunkel wie in einer Höhle war, in eine schmale Nische aus Holzlatten. Hier gab es keine Wiesen mehr, keine Flüsse. Ich trank aus einem rostigen Eimer, in dem das Wasser einen bitteren Geschmack bekam. Einmal am Tag wurde mir ein Leinensack vor das Maul gebunden, und ich leckte die Handvoll Körner auf, die sich darin befanden.

Jeden Morgen führte man mich nach draußen in einen schlammigen Korral. Dort wurde ich gebrochen. Ich wurde gezähmt und gezäumt, und dann lernte ich, den Menschen zu dienen. Ich lernte, schwere Lasten zu ziehen und Befehlen zu gehorchen, die mir immer zugeschrien wurden. Wenn ich den Befehlen nicht schnell genug nachkam, wurde ich geschlagen, mit einem Stock, einer Peitsche oder einer Faust. Einmal schlug man mich mit einer Glasflasche, wieder und wieder, bis sie an meinem Schlüsselbein zerbrach. Es war jeden Tag das Gleiche. Die Ausbildung zog sich stundenlang hin, bis die Männer es satthatten, mich zu verprügeln.

Nach dem Leben, das ich im Wald hatte, machte mich dieses Leben traurig. Ich wollte aus einem Fluss trinken, nicht aus einem Eimer. Ich wollte über die Hügel laufen und mich ins Gras legen. In meinem Stall konnte ich mich nicht umdrehen, geschweige denn hinlegen.

In dem Gebäude gab es viele Ponys, die alle in solchen schmalen Nischen standen, und irgendwo – so weit weg, dass ich ihn nicht sehen konnte – war der silberne Hengst. Ich hörte ihn oft schnauben und wiehern. Manchmal trat er gegen die Holzlatten und zerbrach sie, woraufhin Männer in das Gebäude gerannt kamen. Dann erklangen schreckliche Geräusche: das Knallen von Peitschen, das Brüllen von Männern, das jämmerliche Schreien eines Ponys.

Ich wollte das nicht hören und schickte meinen Geist auf Wanderschaft. Meistens kehrte ich in den Wald zurück, auf die Sommerwiesen, und ich hörte das Surren der schwarzen Fliegen und das Zischen unserer Schweife. Aber eines Tages ging ich an einen ganz anderen Ort.

Ich sah ein Land aus Schnee und Eis, ein Portal, das so gewaltig war, dass seine Pfosten aus Bergen bestanden und der Bogen aus einer gewölbten Wolkendecke. Ich sah es im Sonnenlicht glänzen, sah die eisige Fläche, wie ein herrliches, funkelndes Feld.

Mein Geist ließ mich dieses Portal nicht durchschreiten. Aber irgendwie wusste ich, was dahinter lag: ein Ort für Ponys. Ich wusste, dass dort die alte Stute aus meiner Herde war und all die anderen, die gestorben waren, bevor ich geboren wurde. Ich sagte mir, dass auch ich eines Tages dorthin gehen würde, wenn ich es schaffte, durch das Portal zu treten. Und wenn es mir gelang, würde dort meine Mutter auf mich warten.

Diese Vision machte mir keine Angst. Der Gedanke, dass es einen Ort für Ponys gab, der auf mich wartete, spendete mir Trost. Jedes Mal, wenn ich traurig oder einsam war, wenn mir das Leben besonders hart vorkam, ging mein Geist zu diesem sonnenüberfluteten, schneebedeckten Hang.

Die Männer verkauften mich an einen anderen Mann, einen Russen, klein gewachsen und fett, der viel und gerne ausspuckte. Als er mich das erste Mal sah, schob er mir sofort seine dicken Finger zwischen die Lippen, zog sie auseinander und begutachtete meine Zähne. Seine Finger schmeckten nach schrecklichen Dingen, und seine Fingernägel waren wie kleine Steine, die sich in mein Zahnfleisch bohrten.

Der Russe brachte mich zurück in den Wald. Erst fand ich das sehr nett von ihm und hoffte, er würde mich freilassen, damit ich wieder mit den anderen wilden Ponys laufen konnte. Aber stattdessen kam ich in ein Lager in den Bergen, weit weg von dem Ort, wo ich geboren worden war. Dort hatte er einen Trupp Männer, die Bäume fällten und sie in Stücke schnitten. Ich musste die Holzscheite aus dem Wald schleppen, während ein Mann an dem Zaumzeug an meinem Kopf zerrte und ein anderer mir mit einer Weidengerte auf die Flanken schlug. Den ganzen Tag hatte ich das Zuggeschirr an und zog Holz – durch Schlamm und Schnee, in Kälte und Hitze, so viele Monate lang, dass ich jegliches Zeitgefühl verlor. Aus den Monaten wurden Jahre. Im Sommer legten die Fliegen ihre Eier in die langen, offenen Wunden auf meinem Rücken, und der Juckreiz trieb mich fast in den Wahnsinn. Im Winter erfroren die Larven, was mir zumindest in dieser Hinsicht Erleichterung verschaffte. Bei jedem Schlag schrie ich auf.

Ich hatte nicht einmal einen Stall. Ich wurde in der Nähe des Hauses angebunden, wo die Männer schliefen. Wenn es kalt war, zitterte ich stundenlang, und wenn es warm war, kamen die Fliegen in Scharen, und ich dachte, ich würde bei lebendigem Leib aufgefressen. Jede Nacht hoffte ich, dass ich im Schlaf davongleiten würde, zu jenem Portal aus meiner Vision. Ich träumte davon, den Hang hinauf bis zu dem Ort für Ponys zu galoppieren.

Fünf Jahre lang schuftete ich dort, und als die Arbeit erledigt war, war ich es auch. Ich war erst acht Jahre alt und fühlte mich wie siebzehn.

Eines Tages – der Frühling hatte kaum eingesetzt und auf dem Boden lagen noch Inseln aus Schnee – wurde ich zum letzten Mal aus dem Wald geführt. Der Russe fuhr einen Wagen, hinter dem ich hergezogen wurde, hinunter in ein Tal und über einen rutschigen Pfad, der zu einer Straße führte, die nach Osten verlief.

Nachdem wir einige Tage unterwegs gewesen waren, kamen wir in ein trockenes Tal, wo sich eine riesige Mauer quer durch das Land zog. Sie erhob sich von einem Hügelkamm im Süden, tauchte in das Tal ein und gewann mit den Bergen im Norden wieder an Höhe – wie eine Schlange, die sich durch die Gebirgswelt schlängelt. Und mitten in diesem Tal lag eine Stadt.

Was für ein Gewusel an Menschen! Zu Tausenden strömten sie von allen Seiten herbei, wie Ameisen, die zu einem riesigen Bau krabbeln und dabei eine Wolke aus Staub aufwirbeln. Straßenverkäufer priesen dem Russen ihre Waren an und versuchten, ihm Teppiche und Schuhe und alle möglichen Tiere zu verkaufen, sowohl lebende wie tote. Kleine schwarze Äffchen schnatterten in ihren Käfigen und streckten die rosigen Hände durch die Gitterstäbe. Doch der Russe schaute nicht nach rechts oder links, sondern fuhr einfach nur weiter, mit mir im Schlepptau.

Auf einem schmutzigen Feld unterhalb der Mauer wurde ein Pferdemarkt abgehalten. Unzählige Ponys waren auf einem Flecken Gras zusammengetrieben worden, und Tausende von Menschen waren gekommen, um sie zu kaufen. Einige der Ponys wurden in halsbrecherischem Tempo durch die Menge geritten, während andere angebunden in langen Reihen dastanden. Viele sahen alt und erschöpft aus, aber es gab genauso viele junge, kräftige Tiere, die noch jahrelang arbeiten konnten. Ein paar von ihnen waren nicht bei Verstand, sondern gingen in blinder Wut auf jeden los, der sich ihnen näherte.

Der Russe übergab mich einem ungepflegten kleinen Mongolen, der ganz in Schwarz gekleidet war, und erhielt dafür eine Hand voll Geld. Er warf mir einen letzten Blick zu und spuckte mir dann vor die Füße.

Ich war froh, ihn los zu sein, aber gleichzeitig voller Angst, denn bislang hatte jede Veränderung für mich auch einen Abstieg bedeutet. Immer war es schlimmer gewesen als zuvor. Der Mongole packte mein Halfter und zerrte mich über das Marktgelände. Sein Haar war zu einem unordentlichen, schmierigen Zopf geflochten, der in seinem Nacken hin und her schaukelte.

Ich dachte, dass man mich zu den anderen kräftigen Ponys bringen würde, die wieder zur Arbeit in den Wald gehen konnten, doch stattdessen steckte man mich zu der bejammernswerten kleinen Gruppe, für die niemand einen Blick übrig hatte. Ich wurde zwischen den Alten und Kranken angebunden, zwischen denen, die verrückt geworden waren, und jenen, die man niemals hatte zähmen können. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass irgendjemand sie kaufen würde, und ich fragte mich zum ersten Mal, was mit ausgelaugten, müden Ponys passierte. Ließ man sie im Wald frei, damit sie zu ihren Herden zurückkehren konnten? Kamen sie auf die Weide eines Bauern, wo sie nichts tun mussten außer fressen und schlafen? Oder erwartete sie ein anderes Schicksal, das ich mir nicht vorstellen konnte? Ich hoffte das Beste und befürchtete das Schlimmste.

Den ganzen Tag standen wir in der Sonne, in der Hitze und dem Staub. Viele Leute gingen vorbei, und der Mongole wurde immer lauter und hektischer. Er wedelte wie wild mit den Armen und fing an, die Passanten an den Ärmeln zu packen.

Die meisten schüttelten ihn mit einem verächtlichen Blick ab, als ob der schmutzige kleine Mongole nur ein weiterer Affe im Käfig war. Der einzige Mann, der stehen blieb und mich musterte, war merkwürdig blass und rosig. Er war Engländer, der erste, den ich je zu Gesicht bekommen hatte. Begleitet wurde er von einem russischen Jungen.

Der Engländer begutachtete mich von Kopf bis Fuß. Er kam näher und hob seinen Arm. Ich zuckte zurück. Doch statt mich zu schlagen, erstarrte der Engländer. Er blieb mit erhobener Hand stehen, bis ich aufgehört hatte zu zittern. Dann schaute er mir geradewegs in die Augen.

«Schon gut», sagte er sanft. «Ich werde dir nichts tun. Versprochen.»

Ich spürte Mitgefühl in seiner Stimme, ein Ton, den ich noch nie gehört hatte. Wieder streckte er den Arm aus, ganz langsam diesmal, und ich versuchte, nicht zu zittern, weil ich Angst hatte, dass ihn das wütend machen könnte. Ich ließ mir von ihm die Nase streicheln. Ich ließ zu, dass er mich zwischen den Ohren tätschelte und mit seinen Fingern durch meine Stirnlocke kämmte. Anfangs wollte ich weglaufen. Aber er sagte «Ist ja gut» in dieser ruhigen Stimme, und so schloss ich einfach nur die Augen und bebte leicht.

Der Mongole wirkte überrascht. Dann packte er den Jungen am Arm, und die beiden fingen an, auf Russisch aufeinander einzureden. Sie schwenkten die Arme, sie schrien, aber der Engländer streichelte mich unbeirrt weiter. Als er die Hand wegzog, war ich enttäuscht. Ich schnaubte und rückte ein bisschen näher, in der Hoffnung, dass er mich wieder berühren würde. Doch jetzt war er derjenige, der zurückwich, und ich sah, dass er auch ein bisschen Angst vor mir hatte, so wie ich Angst vor ihm gehabt hatte. Er fühlte sich unbehaglich, wenn sich ein so großes Tier an ihn drückte. Und so trat er stattdessen an meine Schulter und rieb dort die Muskeln. Als er die Narben bemerkte, berührte er sie sehr sanft. Seine Finger verharrten auf der Stelle, wo jemand vor langer Zeit eine Flasche zerbrochen hatte. Dann flüsterte er: «Jemand hat dir sehr schlimme Dinge angetan.»

Der Mongole und der Russe redeten immer noch, wenn auch nicht mehr so hektisch. Der Engländer griff in seine Tasche, und die schnelle Bewegung erschreckte mich. Mit einem ängstlichen Wimmern scheute ich zurück. Wieder erstarrte er. Dann bewegte er ganz langsam die Hand, und als er sie wieder aus der Tasche zog, sah ich, dass er einen kleinen weißen Würfel genommen hatte, wie ein winziges Stück Schnee. Er hob ihn an mein Maul, die Hand so flach wie ein Stein.

Ich war acht Jahre alt, aber ich hatte noch nie Zucker gefressen. Ich konnte nicht fassen, dass etwas so gut schmeckte. Ich hoffte, dass er noch einen Würfel in seiner Tasche hatte, und stupste ihn an, woraufhin er lachte. «Aha», sagte er, «jetzt habe ich einen Freund fürs Leben gefunden, nicht wahr?» Dann rieb er mir wieder über die Nase und wandte sich seinem Begleiter zu. «Was hältst du von dem hier?»

«Gutes Pony», sagte der Junge. Er deutete auf die Reihe mit den alten Ponys, während der Mongole hinter ihm stand und listig lächelte. «Alles gute Ponys.»

Der Engländer strich sich über das Kinn. Ich versuchte, ihm zu folgen, als er die Reihe entlangging, aber ich war angebunden. Ich hoffte sehr, dass er mich kaufen würde.

Er interessierte sich nur für die Ponys mit hellem Fell. An allen anderen ging er vorbei, obwohl einige der dunklen Ponys in viel besserem Zustand waren. Als er ganz unten am Ende der Reihe angekommen war, hörte ich ein Pony wiehern, ein anderes schrie ängstlich auf. Ich sah, wie eins sich auf die Hinterhand erhob und plötzlich alle anderen überragte. Es schnaubte und wieherte, schlug mit den Vorderbeinen aus. Dann taumelte der Engländer rückwärts, und der Junge versuchte, ihn wegzuziehen.

Das Pony stand immer noch auf den Hinterbeinen, dann fiel es nach unten und erhob sich gleich wieder. Irgendwie kam mir dieses Pony bekannt vor. Die Erinnerung war zunächst vage, doch als ich den dunklen Fleck auf seiner Brust sah, wusste ich mit einem Mal alles wieder. Es war der silberne Hengst, der vor so langer Zeit meine Herde angeführt hatte, der mich beschützt hatte, als ich klein war. Mittlerweile war er eher grau als silbern, sein Rücken war krumm und seine Schultern verkrampft vom Schleppen der Lasten. In den Augen lag ein wildes, verrücktes Starren. Aber als er da auf den Hinterbeinen stand, mit wehender Mähne und Stirnlocke, da sah er genauso prächtig und stark aus wie immer.

Ich rief ihm ein schrilles Wiehern zu, aber er gab keine Antwort. Ich sah, wie der Engländer aufstand und sich die Strohhalme von der Kleidung klopfte. «Tja, der hier hat auf jeden Fall Feuer», sagte er.

Er kaufte den Hengst. Er kaufte noch neunzehn weitere Ponys, einschließlich mich. Die meisten waren alt oder zornig oder gemein, aber alle waren so weiß wie Schnee. Der Engländer schien sehr mit sich zufrieden zu sein, und der Mongole war geradezu entzückt.

Am selben Tag, noch in dieser Stunde, holte uns der russische Junge ab. Einige der Ponys wehrten sich aus Leibeskräften, so wie der Hengst. Sie traten aus und bockten so wild, dass die Leute in den Hauseingängen Schutz suchten. Doch am Ende blieb der Junge siegreich. Er brachte uns zum Bahnhof, wo am nächsten Morgen ein Zug einfuhr.

Der Zug hatte eine Pfeife, die hoch und schrill klang, wie der Schrei eines angstvollen Kaninchens. Ich schaute in die Richtung, aus der das Geräusch kam, und sah über den Gebäuden Rauch aufsteigen, der einen grauschwarzen Strich durch die Luft malte. Die Lok schnaubte und prustete wie ein Ungeheuer. Dann kam sie um die Ecke gestampft, schwarz und schmutzig, stieß Dampf aus und schwankte von einer Seite zur anderen.

Ich bekam Angst. Ich hatte noch nie einen Zug gesehen, und ich mochte weder die Geräusche noch die Gerüche. Als der Rauch sich auf uns niedersenkte, wurden wir unruhig. Jedes einzelne Pony versuchte, sich etwas Platz zu verschaffen, obwohl wir uns nicht einmal umdrehen konnten.

Ein Russe bewachte uns und schrie uns an, wir sollten stillhalten. Mit einem Stock schlug er gegen den Zaun.

Das Keuchen und Atmen der Lok wurden lauter. Wieder ertönte dieses schrille, durchdringende Pfeifen, und der Hengst fing an auszutreten. Er stieg hoch und bearbeitete den Zaun mit seinen Hufen, die Ohren zurückgelegt, die Nüstern weit aufgerissen. Er warf sich gegen die Holzlatten und versuchte wegzukommen.

Wieder schrie der Mann. Sein Stock zischte pfeifend durch die Luft, als er ausholte und dem Hengst quer über das Auge schlug. Eine dunkle Spalte öffnete sich in dem silbrigen Fell.

Der Hengst duckte sich. Er blinzelte und ließ mit einem traurigen kleinen Wimmern den Kopf hängen.

Ich hatte miterlebt, wie dieser Hengst einen Bären vertrieben hatte. Ich hatte gesehen, wie er es mit drei Wölfen gleichzeitig aufgenommen hatte – zwei hatte er niedergetrampelt und den dritten mit den Zähnen gepackt. Aber jetzt war er nur noch ein altes, verschüchtertes Wesen, das Angst vor einem Weidenstock hatte.

Der Mann stellte sich auf die Zaunlatten. Er schlug jedes Pony, das er erreichen konnte, und hörte erst damit auf, als er außer Atem war. Er hustete, krümmte sich und stützte sich auf den Knien ab. In der Hand hielt er immer noch den Stock, von dem unser Schweiß und unser Blut tropfte.

Ich hoffte, der Zug würde mich zu dem Ort für Ponys bringen. Irgendwie tat er das auch, obwohl die Reise dorthin lang und hart war und ich unmöglich ahnen konnte, dass sie hier begann.

Wir wurden in einen Viehwagen gestoßen, und hinter uns schlug die Tür zu. Es war dunkel und unheimlich, bis sich die Sonne zwischen die Holzplanken schob. Sie griff durch die schmalen Ritzen und die Astlöcher und streichelte meine Rippen. Goldener Staub aus zertrampeltem Stroh schwebte durch die Luft, und ich musste niesen und schnauben. Auch die Lok schnaubte auf, und ruckelnd setzte sich der Zug in Bewegung.

Es war schwierig, während der Fahrt das Gleichgewicht zu halten. Wir schaukelten und wiegten uns wie die dicken Frauen, die in den Holzfällerlagern getanzt hatten. Durch Tag und Nacht trug uns der Zug, der nur dann anhielt, wenn die Lok durstig war. Ich hatte ebenfalls Durst, aber ich bekam kein Wasser, obwohl ich hörte, wie es bei jedem Halt draußen auf die Schienen platschte.

Wir fuhren durch Wälder, die nach Moos und Pilzen rochen und mich an meine Kindheit erinnerten. Wir überquerten einen steinigen Gebirgszug, ratterten über viele Brücken, die schäumende und brodelnde Flüsse überspannten. Wir fuhren bis zum Meer, bis hinunter zum Hafen, wo der Engländer auf uns wartete.

Sein Name, so erfuhr ich, war Mr. Meares. Er hatte einen Arzt dabei, der uns unter die Lupe nahm und den Kopf schüttelte. Der Arzt sagte Mr. Meares, dass ihn jemand hinters Licht geführt habe, und ich schaute mich um und fragte mich, wie man hinter das Licht kommen könnte. «Das ist der armseligste Haufen, der mir je unter die Augen gekommen ist», sagte der Arzt. Er deutete auf ein kurzatmiges Pony, dessen Schultern vom Ziehen des Wagens ganz krumm geworden waren. «Das da bleibt hier.»

«Wieso?», fragte der Engländer.

«Sehen Sie es sich doch an», sagte der Arzt. «Zu allem Übrigen hat es den Rotz und wird die anderen anstecken – und womöglich auch Sie.»

Das Pony blieb also zurück. An einem heißen und regnerischen Tag wurde der Rest von uns auf ein altes Dampfschiff verladen, das mit Rostflecken überzogen war. Nacheinander wurden neunzehn Ponys in eine Holzkiste geschoben, die am Ende eines Seils baumelte.

Ich hatte Angst, in die Kiste zu gehen und durch die Luft gehoben zu werden. Ich wusste nicht, wohin das Schiff mich bringen würde. Ich wollte wieder in die Wälder, von mir aus auch zurück in das Holzfällerlager, wenn das möglich gewesen wäre. Der Hengst hatte noch mehr Angst als ich. Als die Männer zu ihm kamen, stieg er hoch. Er sprang zur Seite, durchschlug den Zaun und galoppierte über das Dock.

Ein zweites Pony folgte ihm, und gemeinsam rasten sie durch eine Gruppe von Leuten, die davonhüpften wie Heuschrecken. Aber es dauerte nicht lange, da hatte man sie wieder eingefangen, zurückgeschleppt und auf das Schiff verfrachtet.

Ich war als Nächstes an der Reihe. Zitternd stand ich in der Kiste. Ich schloss die Augen, damit ich das Wasser unter mir nicht sehen musste, und als die Kiste mit einem Rums auf dem Deck landete, dachte ich zuerst, der Boden wäre herausgefallen. Man führte mich hinaus und dann hinein in einen sehr engen Stall. Das alles kam mir gar nicht so schlimm vor – bis die Hunde an Bord gebracht wurden.

Es waren große und bösartige Tiere, mit riesigen Zähnen und kleinen Augen. Sie kamen mir so wild wie Wölfe vor, vielleicht sogar wilder, und sie fletschten ihre Zähne, wann immer Männer, Ponys oder sogar ein Artgenosse ihnen zu nahe kam. Man kettete sie an die Reling und an Kisten und Gerätschaften, bis es auf dem ganzen Schiff vor Hunden nur so wimmelte. Und jeder einzelne von ihnen heulte und kläffte ohne Unterlass.

Wie jedes Pony fürchtete ich Hunde am allermeisten. Ich fühlte mich nicht sicher, solange sie in der Nähe waren, aber mir blieb nichts anderes übrig, als die Augen zu schließen und so zu tun, als gäbe es sie gar nicht.

Dann fuhr das Schiff aufs Meer hinaus, und ich ging einem neuen Leben entgegen. Ich erwartete nichts als Leid und Elend.

Das hatte ich gelernt, als ich jung war: Das Leben ist kurz und die Menschen sind grausam. Ponys sind zum Leiden geboren. Ich beschloss, dass ich so hart arbeiten würde, wie ich konnte, was auch immer man mir auflud. Ich glaubte daran, dass ich am Ende dafür belohnt werden und auf ewig an dem Ort der Ponys leben würde.

An diesem Ort dienten die Menschen den Tieren. An diesem Ort waren die Ställe warm, dick mit weichem Stroh ausgelegt, und die Decken waren auf dem Ofen vorgewärmt, wohlig weich und nach Rauch duftend. Meine Narben würden verheilen. Und nicht ein einziges Mal in zehntausend Jahren würde ich den stechenden Schmerz von Peitsche oder Stock verspüren.

Winterpony

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