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Seid fruchtbar und mehret euch

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Und was ist mit dem Krieg? Wenn Sahlins Darstellung stimmt, und sie wird, obwohl, vor allem aus ideologischen Gründen, sehr angefeindet, immer noch der Konsens in der Sammler-und-Jäger-Forschung, dann gibt es in primitiven Sammler-und-Jäger-Gesellschaften keine nennenswerte Gewalt zwischen Gruppen. Die Archäologen fördern bisweilen mehrere Opfer individueller Gewalt zutage, woraufhin schnell Schlagzeilen über „Massaker in der Steinzeit“ durch die Presse gehen, doch gehen diese Funde nie über das hinaus, was sich nicht auch durch eine tragisch außer Kontrolle geratene Schlägerei erklären ließe.

Was war also zwischen Gardners und Chagnons grimmigen Wilden und Sahlins friedlichen Sammlern und Jägern passiert? Das Augenfälligste lässt sich sofort erkennen: Die Menschen waren sesshaft geworden. Sie waren dazu übergegangen, sich nicht mehr in erster Linie von der Jagd und dem Sammeln wilder Früchte zu ernähren, sondern selbst Feldfrüchte anzubauen und Tiere zur Schlachtung zu halten. In seltenen Fällen waren sie weiterhin Jäger oder vor allem Fischer, die aber in der glücklichen Lage waren, jährlich wiederkehrende Migrationen der Herden – oder von Millionen Fischen auf dem Weg zu ihren Laichgründen – bequem an einem Ort abzuwarten. Dazwischen, und das hatten diese Ausnahmejäger mit den sesshaften Ackerbauern und Viehzüchtern gemeinsam, musste sie ihre Nahrung indes lagern, was die Notwendigkeit, diese Reserven zu schützen miteinschließt.

Vor ca. 12.000 Jahren vollzieht sich im Nahen Osten als erster Region der Welt der Übergang zu einer sesshaften, ackerbauenden Lebensweise. Nordindien und Nordchina entwickeln unabhängig voneinander ihre eigene agrarische Tradition. In Amerika geschieht dies erst viel später. Bald dehnt sich die neue Lebensweise aus. In einer Welt, in der sich in Jahrzehntausenden kaum etwas getan hat, verbreitet sich nun eine radikale neue Lebensweise innerhalb weniger Jahrtausende. Für die Neolithisierung Europas hat man berechnet, dass sich die Ackerbauern jedes Jahr ca. einen Kilometer weiter vorgearbeitet haben müssen. Anders gesagt: 20 Kilometer in 20 Jahren: Die neue Generation gründete ihr Dorf einen Tagesmarsch vom Dorf der Eltern entfernt. So war innerhalb von 5.000 Jahren ganz Europa vom Bosporus bis Irland von Ackerbauern bevölkert. Die Gründe, warum es zur Neolithischen Revolution kam, sind komplex; der genaue Ablauf bis heute noch nicht restlos geklärt. Einig ist sich die Forschung, dass die Klimaveränderungen am Ende der letzten Eiszeit wohl der Auslöser dieses radikalen Wandels waren.

Wenn man sich die zahlreichen Unterschiede ansieht, die einfache Sammler-und- Jäger-Gesellschaften von Ackerbauern, Hirtennomaden und anderen „fortschrittlicheren“ Lebensweisen unterscheiden, fällt einer als ursächlich für viele andere besonders ins Auge: Bevölkerungswachstum. Die beschriebenen Sammler-und Jäger-Gesellschaften der Gegenwart und auch ihre altsteinzeitlichen Vorläufer hatten eine fast konstante Bevölkerungszahl oder sie wuchsen zumindest nur so langsam, dass sie fast 200.000 Jahre brauchten, um alle verfügbaren Landflächen zu besiedeln. Als die letzte Eiszeit vor 10.000 Jahren endete, lebten weniger als 10 Millionen Menschen auf der Erde. Sie waren die Nachkommen der weniger als 10.000 Überlebenden des genetischen Flaschenhalses vor 75.000 Jahren, als ein Großteil der damaligen Weltbevölkerung einem katastrophalen Naturereignis zum Opfer fiel. In den 65.000 Jahren altsteinzeitlicher Jäger-und-Sammler-Lebensweise waren also – wenn man sich das Bevölkerungswachstum als eine lineare Funktion vorstellt, die es natürlich nicht war – jedes Jahr ca. 150 Menschen dazugekommen. In den nächsten 8.000 Jahren im Zeichen des Ackerbaues wurden aus diesen paar Millionen die mehr als 300 Millionen, die die Erde um Christi Geburt bevölkerten. Jedes Jahr kamen in diesen 8.000 Jahren demnach ca. 36.000 Menschen dazu. Die Bevölkerung hatte sich mehr als verdreißigfacht!

Von den 300 Millionen Erdbewohnern zu der Zeit, als Kaiser Augustus die Bewohner seines Reiches schätzen ließ, weswegen ein gewisser Zimmermann aus Galiläa mit seiner hochschwangeren Frau mitten im Winter nach Bethlehem reisen musste, lebten, wie er mit Befriedigung festgestellt haben muss, ca. 57 Millionen in seinem römischen Imperium. 75 Millionen lebten im Reich der Han-Kaiser in China, 50 Millionen in Indien und noch einmal etwa 40 Millionen in den zivilisierten Regionen Asiens von Persien über Südostasien bis Japan. Der Rest verteilte sich großteils auf die weiten Steppen Asiens, die Wälder Europas und die Savannen und Urwälder Afrikas; nur knapp 9 Millionen Menschen – etwa 3 % der Weltbevölkerung – lebten in Amerika, Australien und Ozeanien. Es war eng geworden in dem fruchtbaren Streifen, der sich wie ein großer Halbmond von den britischen Inseln im Westen quer durch Europa und das Mittelmeer über den Nahen Osten, Persien, Indien und China bis nach Japan erstreckte. Dies war die Ökumene, die „bewohnte Welt“, wie die Griechen sie nannten. Innerhalb dieses Bandes und in den Zentren der Ackerbaukulturen in der Neuen Welt und in Afrika südlich der Sahara lebten tatsächlich durchschnittlich 40 Einwohner auf jedem Quadratkilometer. Jenseits der Grenzen der Zivilisation waren es deutlich weniger: vielleicht vier in den Ackerbaugesellschaften Alteuropas und Afrikas; knapp einer unter den Hirtennomaden Zentralasiens, der Sahara, Arabiens und Afrikas; immer noch kaum ein Einwohner je zehn Quadratkilometer in den immer noch von Sammlern und Jägern bevölkerten Weiten Amerikas, Australiens und Afrikas.

Man kann das Ganze auch noch anders rechnen: Von den ca. 110 Milliarden Angehörigen der Spezies Homo sapiens, die jemals gelebt haben, lebten lediglich 1 % in den 65.000 Jahren zwischen dem „Bottleneck“ und der Neolithischen Revolution. In den 8.000 Jahren danach lebte die Hälfte aller Menschen, die es jemals gegeben hat; in den 2.000 Jahren seitdem die anderen 50 %. 6 % davon sind unsere Zeitgenossen, oder anders gesagt:

Jeder sechzehnte Mensch, der jemals gelebt hat, lebt jetzt! Es war etwas Dramatisches geschehen. Die Weltbevölkerung war nicht einfach nur angewachsen. Sie war in den 8.000 Jahren des sesshaften Ackerbaus geradezu explodiert.

Und das natürlich vor allem dort, wo sich diese Lebensweise verbreitete und zur vorherrschenden wurde. Sie sollte diesen Stand bis ca. 1800 behalten, bis die moderne Bevölkerungsexplosion alles davor wieder in den Schatten stellen sollte. Warum es zu diesem rapiden Bevölkerungswachstum kam, kann man wie alles in der Geschichte langwierig und sorgfältig erklären. Für uns mag es reichen, sie an einem plakativen Beispiel zu demonstrieren: Sesshafte Ackerbäuerinnen können den zeitlichen Abstand zwischen den Geburten ihrer Kinder halbieren! Nomadisierende Sammler und Jäger können sich erst ein weiteres Kind erlauben, wenn das ältere in der Lage ist, selbst mit der Wandergruppe Schritt zu halten. Das dauert etwa vier Jahre. Sesshafte und auch Hirtennomaden, die ihre Wickelkinder auf Schlitten, Wagen oder auf dem Rücken von Tragtieren mitführen können, unterliegen nicht mehr dieser Beschränkung. Damit sinkt der Abstand zwischen zwei Geburten auf durchschnittlich zwei Jahre. Recht viel schneller geht es rein biologisch ohnehin nicht. Damit verdoppelt sich die Zahl der Kinder, die eine Frau im Laufe ihrer fruchtbaren Jahre gebären kann. Allein das reicht schon aus für eine veritable Bevölkerungsexplosion. Jeder, der in Mathe aufgepasst hat, weiß, was geometrische Progression bedeutet. Für alle anderen noch einmal ein paar Zahlen, um zu veranschaulichen, wovon wir reden: Frau Sammlerin kann unter idealen Bedingungen vielleicht sechs Kinder gebären, bis die Menopause dem ein Ende setzt. Frau Bäuerin zwölf. Von diesen Kindern sind die Hälfte Mädchen. Allein diese sind „demographisch wirksam“, wie die Bevölkerungswissenschafter es nennen, die einer notorisch unromantischen Zunft angehören. Ihre drei Töchter werden Frau Sammlerin neun Enkeltöchter gebären, die ihr insgesamt vierundfünfzig Urenkel beiderlei Geschlechts schenken werden. Frau Bäuerins sechs Töchter bringen sechsunddreißig Mädchen zur Welt, die dafür sorgen werden, dass sich vierhundertzweiunddreißig stramme Nachkommen an Uromas Geburtstag versammeln werden!

Soweit die reine Mathematik. Doch warum sollten diese beiden exemplarischen Damen so unterschiedliche Fortpflanzungsstrategien verfolgen? Frau Sammlerin weiß, es ist nicht gut, das nächste Kind zu bekommen, ehe das ältere bei den häufigen Wanderungen und ihren täglichen Sammelausflügen in die nähere Umgebung des Lagers mithalten kann. Das ist ihre praktische Erfahrung aus den Fällen, die sie selbst miterlebt hat, wo so etwas passiert ist. Sie kennt die zusätzlichen Mühen, die auf die Gruppe zukommen, wenn nicht alle Frauen darauf achten, dass diese Regel eingehalten wird. Hier kann man, wenn man möchte, die Schlange im Paradies entdecken, denn eine Free-Love-Kommune sind Sammler-und-Jäger-Gruppen sicher nicht, vielmehr haben sie eine Menge Tabus, die dafür sorgen, dass die Chancen zur Empfängnis reduziert werden. Und wenn alles daneben geht, zögern sie auch nicht, unnütze Esser – neugeborene oder alt gewordene – dezent um die Ecke zu bringen, wenn sie zu einer Belastung für die Gruppe werden. Archäologische Funde aus der Altsteinzeit legen nahe, dass unsere Vorfahren das wenigstens nicht leichthin taten. Wenn die Verhältnisse gut waren, überwog die menschliche Empathie-Fähigkeit auch hier. Selbst durch Unfall oder Krankheit schwer beeinträchtigte Gruppenmitglieder konnten überleben und jenes hohe Alter erreichen, das man an ihren aufgefundenen Skeletten ablesen konnte; was voraussetzt, dass sie über viele Jahre durch die anderen in der Gruppe mitversorgt wurden. Ein weiteres Indiz, dass der Homo sapiens im Grunde kein kaltschnäuziger Egoist war – sicher sehr zum Ärgernis neoliberaler Ökonomen, die genau das postulieren müssen, um ihre Theorie aufrechterhalten zu können.

Frau Bäuerin hat indes eine andere Lebenserfahrung. Sie muss ihre Kinder nicht länger herumschleppen. Im Haus am Herd kann sie den schlafenden Säugling niederlegen, während daneben sein zweijähriger Bruder im Staub spielt, zumindest bis das Kind wieder Hunger kriegt. Weil sie mehr oder weniger ständig entweder schwanger ist, stillt oder sich um Kleinkinder kümmern muss, bewegt sie sich ohnehin nicht weit von Heim und Herd weg. Wir ahnen schon, wo das noch hinführen wird … Doch für uns ist diese Seite der Neolithisierung hier nur von nachgeordnetem Interesse. Viel wichtiger ist, dass Frau Bäuerin, während sie das Neugeborene, den Zwei- und den Vierjährigen versorgt, dem Sechs-, Acht- und Zehnjährigen schon Teile der Arbeit übertragen kann, die sich seit der Sesshaftwerdung ärgerlicherweise massiv vermehrt hat. Auf einem Bauernhof gibt es immer viel zu tun. Je mehr Arbeit in den Acker investiert wird, umso höhere Erträge sind zu erwarten. Ackerbau ist ein Knochenjob. Das zeigt sich auch am Skelett. Ackerbauern sind durchwegs kleiner, haben brüchigere Knochen, weniger Muskelmasse und stärkere Abnutzungserscheinungen als Sammler und Jäger. Aber auch das ist eine andere Geschichte. Während für Frau Sammlerin zusätzliche Kinder einfach gesagt zusätzliche Nahrungskonkurrenten sind, bedeuten mehr Nachkommen für Frau Bäuerin mehr Arbeitskräfte, das heißt konkret: zusätzliche Nahrungsproduzenten! Frau Bäuerin hat also gute Gründe, mehr Kinder zu wollen. Und deswegen werden alle Ackerbaukulturen das Lob der Mutterschaft singen und sich besonders freuen, wenn zahlreiche Söhne geboren werden, denn die werden zu stolzen Kriegern heranwachsen, was nun auch bald zu einem Vorteil werden wird.

Rasches Bevölkerungswachstum und die daraus resultierende höhere Bevölkerungsdichte sind die entscheidenden Faktoren, die die friedliche altsteinzeitliche Welt von der kriegerischen neolithischen unterscheiden. Wie aber ist der Konnex zwischen Bevölkerungswachstum und Krieg?

Sammler und Jäger sind „Unterproduzenten“, denn sie entnehmen aus ihrer Umwelt nur einen Teil der verfügbaren, brauchbaren Ressourcen. Ackerbauern und alle anderen späteren Produktionsweisen erzeugen ein Überprodukt, was bedeutet, sie verändern ihre Umwelt dahingehend, dass mehr brauchbare Ressourcen aus ihr entnommen werden können, als sie von selbst zur Verfügung stellen würde. Sie roden Wälder, legen Felder an und Sümpfe trocken, graben Bewässerungsgräben, pflanzen Haine und düngen den Acker. Und trotzdem haben sie nie genug, da – wie Thomas Robert Malthus schon 1798 feststellte – der Zuwachs der agrarischen Produktion regelmäßig hinter dem Bevölkerungswachstum zurückbleibt. Malthus hatte nur das Pech, dass gerade zu der Zeit, als er seine Thesen publizierte, die neuzeitliche Agrarrevolution gerade in Gang kam, welche durch die wissenschaftliche Verbesserung der Landwirtschaft – Düngung etwa – jene gewaltige Steigerung der Erträge herbeiführte, die das gigantische Bevölkerungswachstum des Industriezeitalters überhaupt erst zuließ. Malthus wurde zu Lebzeiten von Leuten widerlegt, die auf ihren Äckern Lupinen pflanzten, und deren ferne Nachfolger es uns heute ermöglichen, eine Weltbevölkerung von 7,4 Milliarden zu ernähren – wenn wir nur wollten. Doch für die Zeit davor sollte er recht behalten.

Seit der Sesshaftwerdung waren die Bauern also in einer grausamen Schere von rasch wachsender Bevölkerung und langsamer wachsendem Agrarprodukt gefangen. Natürlich wehrten sie sich dagegen. Am seltensten durch Innovation. Die Einführung neuer Feldfrüchte oder Techniken kam zwar gelegentlich vor, etwa als man die Neue Welt entdeckte und Kartoffeln, Mais, Bohnen und Tomaten in die Alte Welt gelangten – oder im Mittelalter, als die Araber Reis, Zuckerrohr und verschiedene Gartengemüse im Mittelmeerraum verbreiteten. Insgesamt waren diese Neuerungen jedoch zu selten und zu schwach in ihren Auswirkungen, um die einfache Mathematik der exponentiellen Bevölkerungszunahme durchbrechen zu können. Eine andere Möglichkeit, die Produktion zu steigern, indem man sie intensiviert – also mehr Arbeit oder Energie in dieselbe Ackerfläche steckt –, wird von einem klassischen Gesetz der Ökonomie torpediert: dem sinkenden Grenznutzen. Ein Traktor erhöht den Ertrag eines Bauern beträchtlich. Der zweite vielleicht noch ein wenig, aber der dritte bringt gar nichts mehr. Bleibt zuletzt noch die einfachste Strategie: Mehr Ackerfläche erschließen! Doch diese hat leider auch ihre Grenzen. Im einfachsten Fall natürliche – man erreicht die Grenze des bebaubaren Landes, wie es den Ägyptern und Mesopotamiern in ihren Flusstälern recht rasch passierte – oder aber soziale: Auf dem nächsten Stück bebaubarem Land sitzt schon ein anderer. Nun ist guter Rat teuer.

Der Krieg

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