Читать книгу Der Krieg - Ilja Steffelbauer - Страница 23
ОглавлениеDie Phalanxtaktik ist ein wahrhaft durchschlagender Erfolg. In offener Formation vorgehende Einzelkämpfer sind gegen die tödliche Walze chancenlos. Pferde weigern sich vernünftigerweise, direkt auf die vielen spitzen Speere zuzurennen. Geschosse richten nur wenig Schaden an. Die Aristokratie wird von ihrer eigenen Innovation überrollt und aufgesaugt. Bald spielen Reiter und Leichtbewaffnete auf den Schlachtfeldern Griechenlands nur mehr eine Unterstützungsrolle. Die Phalanx beherrscht alles. Dabei ist sie eine wenig raffinierte Taktik. Sie kann sich mehr oder weniger nur in eine Richtung bewegen und wenn zwei Phalangen aufeinanderstoßen, entwickelt sich ein tödliches Schiebematch, bei dem die Seite verliert, die als erste nachgibt. Dementsprechend ist der „Besitz“ des Schlachtfeldes am Ende des Gefechts das Zeichen für den Sieg. Die Spartaner gewinnen einmal eine Schlacht gegen Argos, weil die letzten zwei Mann, die stehen, eben Spartaner sind. Ein General, der eine Phalanx einsetzt, hat nur zwei taktische Optionen: Mache ich sie breiter, sodass sie den Feind überflügeln und von der Seite bedrängen kann? Oder mache ich sie tiefer, damit mehr Druck aufgebaut werden kann? In beiden Fällen ist derjenige im Vorteil, der mehr Hopliten in die Schlacht führt.
Hier wird aus der militärischen Innovation eine gesellschaftsverändernde Kraft: Um eine möglichst große Phalanx ins Feld führen zu können, sind die adeligen Herren der griechischen Stadtstaaten daran interessiert, möglichst viele Mitbürger zu haben, die es sich leisten können, als Hopliten in den Krieg zu ziehen. Dies erfordert, so legt es etwa die athenische Verfassung des Solon fest, ein substantielles Bauerngut oder äquivalentes Einkommen. Statt also, wie es der natürlichen Tendenz von Eliten entspricht, möglichst viel Kapital – sprich Grundbesitz – in den eigenen Händen zu konzentrieren, sind die griechischen Aristokraten daran interessiert, eine große Zahl an mittelgroßen, bäuerlichen Grundbesitzern als Nachbarn zu haben. Eine breite Mittelschicht entsteht. Die Adeligen können infolgedessen nicht viel reicher sein als der Durchschnitt. Das Gut eines Adeligen in Athen ist vielleicht zehn bis dreizehn Mal so groß wie der durchschnittliche Bauernhof. So entsteht eine Vermögens- und Einkommensverteilung, die heutige Verhältnisse geradezu grotesk erscheinen lässt. Sie ist der Ursprung des Gleichheitsideals, das die ganze athenische Klassik des fünften Jahrhunderts atmen wird, bis zu dem Punkt, dass auch alle Statuen dieselben – idealen – klassischen Gesichtszüge tragen. Die Adeligen berauben sich auf diese Weise auch der Möglichkeit, ihre Güter durch landlose Pächter oder gar Leibeigene bebauen zu lassen, was die Herausbildung feudaler Untertänigkeit verhindert oder gar wieder rückgängig macht. In Randregionen – wie Thessalien, wo die Reiterei wegen der weiten Ebenen weiterhin eine dominante Rolle spielt – gibt es diese später nachweislich, in der eigentlichen Poliswelt von der Nordküste des Golfes von Korinth über die Peloponnes, Attika und die Inseln nach Kleinasien dagegen nicht. Spartas eigenwilliges System der von unterworfenen Heloten bewirtschafteten Landgüter ist ein einzigartiger Kompromiss zwischen beiden Optionen: Er macht alle Spartiaten zu Hopliten und gleichzeitig zu Aristokraten, die sich allein auf das Kriegshandwerk konzentrieren können. Kein Wunder, dass sie als die besten Krieger Griechenlands galten. Überall, wo sich die Phalanxtaktik durchsetzte, sorgt sie dafür, dass diejenigen, die in der Phalanx kämpften, früher oder später politische Mitbestimmung erhalten. Die Logik ist einfach: Wer im Krieg kämpft, will mitentscheiden, ob Krieg geführt wird. Dies schloss umgekehrt alle von der politischen Beteiligung aus, die nicht wehrfähig waren: Frauen, Kinder, Sklaven und Arme, doch für Letztere bestand immer noch die Chance, durch wirtschaftlichen Erfolg in die Klasse der vollberechtigten Bürger aufsteigen zu können. Die attische Demokratie ist die maximale Ausdehnung dieses Grundgedankens auf die Schicht der Besitzlosen, deren Dienst als Ruderer durch die Seemacht Athen mit derselben politischen Mitsprache belohnt wurde, die anderswo auf die Hoplitenklasse beschränkt war. Das griechische System bringt damit ein ungewöhnlich hohes Maß an ökonomischer Gleichheit, sozialer Freiheit und politischer Beteiligung für eine relativ breite Schicht mit sich und schränkt gleichzeitig die Macht des Adels ein; ein ungewöhnlicher Weg von den Häuptlingtümern zur Staatlichkeit, der eben deswegen die erhöhte Aufmerksamkeit durchaus verdient, der ihm seitdem durch die politischen Denker entgegengebracht wurde.