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DER HELD

Achilleus, Sohn des Peleus

(Legendär, 13. Jahrhundert vor Christus)

„Wenn du nach Troja gehst, wirst du Ruhm ernten. Viele tausend Jahre lang wird man Geschichten über deine Siege schreiben … Aber wenn du nach Troja gehst, kehrst du nie wieder heim. Denn deine ruhmreichen Taten gehen Hand in Hand mit deinem Untergang.“ Dies prophezeit die Meernymphe Thetis in Wolfgang Petersens Film „Troja“ von 2004 dem jungen Achilleus. Drei Millennien später hält die Verfilmung immer noch Platz 8 in der Liste der kommerziell erfolgreichsten Filme aus der modernen Mythenwerkstatt. Die Alternative, welche die überprotektive Mutter-Göttin dem Sohn anbietet, ist ein langes glückliches Leben, zahlreiche liebende Nachkommen und das Vergessen. Doch Achill zieht nach Troja und wird damit zum unsterblichen Helden des ersten großen Werkes der abendländischen Literatur.

Der eigentliche Inhalt der Ilias ist der Streit zwischen ihm und dem Anführer der Griechen, Agamemnon, um die schöne Gefangene Briseis. Zwei Krieger streiten um Beute, menschliche, weibliche zwar, doch spielt Liebe dabei im Original keine Rolle. Das ist der Zuckerguss, mit dem Hollywood den Stoff überziehen muss, um ihn für ein modernes Publikum schmackhaft zu machen. Feldzug, Schlachten und Belagerung, „the face that launch‘d a thousand ships“ und die „unbezwingbaren Mauern von Ilion“ bilden nur die Rahmenhandlung für ein Drama, in dem es um gekränkte Kriegerehre geht. Weder die bekannte Vorgeschichte mit dem Urteil des Paris und der Entführung der Helena noch das hölzerne Pferd kommen in der Ilias selbst vor. Auch der tragische Tod des Achilleus durch die Fersenwunde findet sozusagen im Abspann statt. Trotzdem ist der Sohn des Peleus die Achse, um die sich der Epos dreht und die Schlüsselfigur zum Verständnis der homerischen Helden und damit einer ganzen Epoche.

Die Herausgeber diverser „Griechischer Sagen“ für den Schulgebrauch wie den bildungsbürgerlichen Bücherschrank haben traditionell zu dem lässlichen Schwindel gegriffen, ihren Käufern unter dem Titel der Ilias ein literarisches Flickwerk unterzujubeln. Der narrativen Geschlossenheit des Stoffes war dieses Vorgehen zweifellos dienlich, es verstellt aber den Blick auf das, was dem Dichter – Homer nennen wir ihn gewohnheitsgemäß – wichtig war, dem späteren Leser aber eher als mühsamer Ballast erscheint, der die Handlung unnötig verzögert: ausführliche Genealogien, langatmige Reden, Reminiszenzen an vergangene Heldentaten der Beteiligten und ihrer Ahnen, an Gastmähler, Wettspiele, Raubzüge und den Austausch von Geschenken.

Mitten im Gemetzel (im 6. Gesang, ab Vers 119) hält so zum Beispiel auf Seiten der Griechen der Held Diomedes inne und fragt den Feind, der sich ihm entgegenstellt, nach seinem Namen und seiner Abstammung. Ausführlich schildert der Lykier Glaukos – sein so angesprochenes Gegenüber – seine Ahnenreihe, die über Belerophon, den Reiter des geflügelten Pferdes Pegasus, zum tragischen König Sisyphos führt. Freudig stößt nun Diomedes seine Lanze in die Erde und eröffnet dem Feind, dass ihre beiden Großväter – Oineus und Belerophon – Gastfreunde waren und dass er den goldenen doppelhenkeligen Becher, den der Großpapa als Abschiedsgeschenk erhielt, immer noch zuhause stehen hat. Man kommt überein, einander aufgrund der alten Familienfreundschaft nicht zu bekämpfen. Immerhin, so Diomedes, gibt es für beide genug andere Griechen und Trojaner, die man umbringen kann. Zum Abschied tauschen sie noch ihre Rüstungen – ganz wie Fußballer heutzutage mit ihren Trikots verfahren – und ziehen von dannen, jemand anderen zu töten.

Oder nehmen wir den 11. Gesang (ab Vers 670), wo sich der greise Nestor, ältester und erfahrenster der griechischen Heerführer, seiner jugendlichen Heldentaten erinnert. Die erwähnenswerteste davon: Der „Rinderraub von Pylos“, als Nestor, noch jung und voller Tatendrang, mit einigen Kumpanen loszog, um des Königs von Elis schönste Rindviecher bei Nacht und Nebel über die Grenze auf pylische Weiden zu treiben. Die Beute verteilt man anschließend zuhause unter jenen Pyliern, denen vorher von den nördlichen Nachbarn Vieh gestohlen worden war. Nestors Jugenderinnerung gewährt Einblick in eine Abfolge ständiger räuberischer Übergriffe, in denen sich die jungen Krieger zu beweisen suchen, und die blutigen Fehden, die aus ihnen resultieren: Zwölf Söhne hatte Neleus, Nestors Vater. Nestor allein überlebte ins Mannesalter.


Helden tauschen ihre schimmernde Wehr: zeitloses Ritual kriegerischer Männlichkeit.

Hier vorgeführt von Florian Klein vom VfB Stuttgart (links) und David Alaba vom FC Bayern München bei einem Bundesligaspiel in der Allianz Arena München 2015.

Eine eigentümliche, archaische Welt lebt in diesen Details: autonom, ruhmsüchtig, kleinteilig, raubgierig, sippenstolz und bodenständig eng mit ihren agrarischen Grundlagen verbunden. Eine Welt, in der Odysseus der König – basileus, „König“ eben, nennt der Dichter seine Heerführer – selbst hinter dem Pflug über die Fluren Ithakas schreitet, mit eigenen Händen das Ehebett aus dem lebenden Olivenstamm schnitzt und oft am Tisch seines Schweinehirten Eumaios – selbst aus königlichem Geschlecht, aber von phönizischen Händlern als Kind geraubt und nach Ithaka in die Sklaverei verkauft – Platz nimmt, ehe er in den langen Krieg gegen Troja zieht, von dem der „vielgeplagte Mann“ nur nach mühsamer Irrfahrt wieder zurückfinden wird.

Warum gibt das Epos diesen Dingen so viel Raum? Doch nur, weil sie bedeutsam, das eigentlich Wichtige an dem Text sind, vor allem, wenn man bedenkt, wie viel mehr Gewicht jeder einzelnen Verszeile in Anbetracht der Tatsache zukommt, dass das Epos vor der schriftlichen Aufzeichnung über Generationen mündlich überliefert werden musste. Die dichterische Form selbst ist ursprünglich Werkzeug des Vortrages – mit Musikbegleitung, sei angemerkt – und der Mnemotechnik. Das zeitgenössische Publikum vermisste im Unterschied zum modernen Leser und Herausgeber weder den Anfang noch das Ende des Krieges um Troja. Die Rahmenhandlung war ohnehin bekannt. Die eigentliche Leistung des Dichters lag in der Ausgestaltung des Segments der großen Erzählung, das er sich als Thema erwählt hatte, und in der geschickten Anreicherung der Handlung mit Features, die sein Publikum zu schätzen wusste: Genealogien zum Beispiel, Beschreibungen wertvoller Geschenke und Beutestücke – schöner Frauen inklusive. Und wie es scheint: Viehdiebstahl …

Die vielen Gesichter des Helden

Geschichte sei die Suche nach „meaningful patterns“ („Mustern“, so müsste man im Deutschen wohl ungelenk übersetzen, „die auf etwas Bedeutendes hinweisen“) schreibt Arnold Toynbee, der große und wahrscheinlich letzte Universalhistoriker. Ein solches Muster wird sichtbar, wenn man sich die frühesten literarischen Werke der verschiedensten Völker ansieht:

Wann – und wo – auch immer Kulturen beginnen, sich eine Literatur zu schaffen, weil der Gebrauch von Schriftlichkeit weit genug verbreitet ist, dass es eine Leserschaft gibt, schreiben sie Bücher über den Krieg, über Helden und Heldentaten.

All diese Bücher sind voll mit Befremdlichkeit, wie den oben beschriebenen. Es ist der Nachglanz einer Welt, die gerade eben untergegangen war, als diese Völker anfingen, schriftbrauchende „Hochkulturen“ zu werden, einer Welt, die untergehen musste, damit aus Homers heroischen Achäern Herodots historische Hellenen werden konnten. Die wilden Könige mussten der wohlgeordneten Polis weichen, damit sie als epische Helden die Zeiten überdauern konnten.


Buchhalter als Kulturstifter: Der Anfang der Schrift liegt in der Lagerhaltung, wie hier auf diesem Linear-B-Täfelchen aus Nestors Palast in Pylos, Peloponnes.

Schriftlichkeit ist ein Kind des Staates; die schöne Literatur – les belles lettres – ein Bastard der Bürokratie mit den Erzählkünsten wandernder Sänger. Die ersten geschriebenen Texte sind Listen: Lagerbestände, -eingänge, -ausgänge; die banalen Aufzeichnungen einer ebenso fleißigen wie fantasielosen Verwaltung, Leitfossilien des Staates in seiner reinsten Form. Die Erzählkunst ist zu dieser Zeit noch eine allein mündliche, ihre Träger sind die Aöden, die an den Höfen der Fürsten und auf den Marktplätzen der entstehenden Städte ihre Dichtungen vortragen. Um die Gunst der Herrschenden zu gewinnen, reichern sie ihre Erzählungen, die aus einem überlieferten Repertoire bekannter Sagenkreise, wie eben den Krieg um Troja, schöpfen, mit Details an, von denen sie erwarten, dass sie ihrem anvisierten Gönner schmeicheln werden: Heldentaten seiner Vorfahren, Genealogien, welche den örtlichen Potentaten in eine Linie stellen mit den großen Gestalten des Epos, saftige Räubergeschichten, welche aus dem Leben der kleinen, lokalen Räuberbarone gegriffen sind. Denn eben das sind sie, Homers „Könige“: Herrscher von allem, was sie von ihrem Burgberg überblicken und mit der Kraft ihres Armes verteidigen können. Es ist diese Welt der „Dunklen Jahrhunderte“, der frühen Eisenzeit, des „Mittelalters“ der alten Griechen im 12. bis 8. Jahrhundert vor Christus, die uns in den Epen entgegentritt. Zur Zeit von deren Endredaktion (nach gängiger Meinung zwischen 750 und 700 v. Chr.) wird sie gerade eben verdrängt von der aufkeimenden Ordnung des frühen Staates, war aber noch erinnerlich, wenige Generationen zurückliegend, eine kriegerische, romantische Welt: das „Heroische Zeitalter“, wie Hesiod es in seinen Werken und Tagen nennt.

Der Krieg

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