Читать книгу Trolle, Rechthaber, Provokateure - Ilka-Maria Hohe-Dorst - Страница 4
Der Alpha-Lyriker
ОглавлениеDer Alpha-Lyriker will führen. Er verfügt über einen hohen Bildungsgrad, ist oder war beruflich in höherer Stellung tätig, nimmt aktiv und passiv am kulturellen Leben teil und engagiert sich nicht selten in einem sportlichen Verein, in dem er eine tragende Rolle spielt. Er ist extrovertiert und initiiert User-Treffen zwecks persönlichen Kennenlernens, wobei er die Organisation gerne selbst in die Hand nimmt. Da er häufiger als andere User Texte kommentiert, ist er für ein Lyrik-Forum eine Bereicherung, solange seine Kritiken die Regeln der Netiquette nicht verletzen. In der Regel gelingt es dem Alpha-Lyriker, seine Kommentare höflich vorzutragen und ihnen ein wohlwollendes Lob vorauszuschicken, ehe die niederschmetternden Belehrungen folgen, die dem Autor des kritisierten Werks das Gefühl vermitteln, ein totaler Flachkopf zu sein und es dringend nötig zu haben, sich gründlich mit Lehrbüchern über Verslehre und Grammatik zu befassen, ehe er seine geistigen Ergüsse auf die Menschheit loslässt.
Da es sich bei den meisten Opfern des Alpha-Lyrikers um Autoren durchschnittlicher Texte handelt, die oft aus einem emotionalen Impuls schreiben, ohne Wert auf künstlerische Erlesenheit zu legen, reagieren sie entweder mit einem bescheidenen Dankeschön und geloben Besserung, oder sie werfen ihrem Kritiker Verständnislosigkeit gegenüber ihren Gefühlen vor, auf deren Ausdruck es mehr ankomme als auf sprachtechnische Perfektion. Natürlich reizt letztere Reaktion zum Widerspruch, und sollte der Alpha-Lyriker dem nicht widerstehen können, kann es passieren, dass eine heftige Debatte entsteht, an der sich andere User schon deshalb gerne beteiligen, um dem unbeliebten Alleswisser mal einen vor den Latz zu knallen.
Weit kommen die User mit ihrer Parteinahme für den kritisierten Autor allerdings nicht, weil der Alpha-Lyriker hoch über den Dingen steht und mit seinem elaborierten Sprachvermögen immer Sieger bleibt. Er beweist es mit seinen eigenen Gedichten, die an Perfektion nichts zu wünschen übriglassen. Er kennt alle Formen der lyrischen Dichtung, und natürlich beherrscht er virtuos die königliche Disziplin der Dichtung, nämlich das klassische Sonett. Auf unsaubere Reime lässt er sich ehrenhalber nicht ein, und inhaltlich hat er Sublimeres mitzuteilen als das beliebte, in Paarreime gesetzte Herz-Schmerz-Tränen-Gedöns. Er weiß, dass er hochwertige Texte abliefert, die aus der Masse hervorstechen und ihm Anerkennung bringen werden, auch von Usern, die ihn wegen seiner Eitelkeit unsympathisch finden.
Brisant wird es, wenn der Alpha-Lyriker auf einen anderen Alpha-Lyriker trifft. Dann beginnt die Detailarbeit an dessen Gedichten, um möglichst viele Fehler aufzudecken und dem unbequemen Konkurrenten klarzumachen, wer der Herr im Haus ist. Da wird mitunter ein starkes Geschütz aufgefahren und der Konkurrent darüber aufgeklärt, was einen Trochäus von einem katalektischen Daktylus unterscheidet und ob ein Auftakt nicht eigentlich eine Brachykatalexe sei – Begriffe, die nicht einmal den Lyrik-Lehrbüchern des UTB-Verlags, die den Anspruch von Studenten der Literaturwissenschaft erfüllen sollen, eine Erwähnung wert sind. Hauptsache der Konkurrent begreift, welcher Lyriker im Forum die stärkste Feder führt.
Treffen gleichstarke Charaktere aufeinander, stößt der Anspruch des Alpha-Lyrikers, als die Nummer Eins akzeptiert zu werden, oft auf Widerstand. Dann nützen die als Wissenspfeile verschossenen exotischen Begriffe aus der Fachwelt nicht mehr viel, weil kaum ein User, der die Fehde mitverfolgt oder sich sogar an ihr beteiligt, etwas Sinnvolles damit anfangen kann und den Alpha-Lyriker gnadenlos in die Ecke des Fachchinesen stellt, dessen wahres Hauptmotiv Angeberei sei. Derart entlarvt, reagiert der Alpha-Lyriker mit sarkastischen und ironischen Bemerkungen, die sich hart am Rande persönlicher Beleidigungen bewegen, aber so geschickt formuliert sind, dass er an einer zeitweisen Sperre durch die Forenleitung mit Acht und Krach vorbeischlittert. Dann wartet er in Ruhe ab, bis sich der Sturm gelegt und der Widersacher sein nächstes Werk eingestellt hat, das er mit unüberbietbarer Kompetenz bekritteln kann.