Читать книгу Trolle, Rechthaber, Provokateure - Ilka-Maria Hohe-Dorst - Страница 5

Der Anfänger

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Der typische Erstverfasser von lyrischen Texten, der sich in ein Literaturforum verirrt, ist zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig Jahre alt. Die Motivation, sich dem Schreiben zuzuwenden und mit Gleichgesinnten in Kontakt zu treten, liegt bei dieser Altersgruppe auf der Hand: Liebeskummer, Probleme in der Schule oder beim Studium, Außenseitertum, Scheidung der Eltern, fehlgeschlagene Orientierungssuche, chronische Krankheiten und ähnliche Dramen, aber auch die Erfahrung ersten Liebesglücks. Nicht jedem jungen Menschen, egal ob weiblich oder männlich, ist es gegeben, seine intimsten Probleme in der realen Welt zu offenbaren, und da kommt die Anonymität, die ein Forum bietet, gerade recht.

Die vom jugendlichen Anfänger eingestellten Erstlingswerke sind also oft biografischen Inhalts und reichen von schwärmerischen Liebesbekundungen bis hin zu tränenreichen Klagen über Täuschung und Verrat. Sie sind in einer schlichten, gefühlsbetonten Sprache geschrieben, was einerseits darauf schließen lässt, dass der Wortschatz des Jugendlichen noch erweiterungsbedürftig ist, aber auch, dass er sich sein Glück oder seinen Kummer schnellstens von der Seele schreiben muss, um nicht in seiner Gefühlsflut zu ertrinken.

Gleichaltrige User kommentieren solche Liebesschwärmereien und Herz-Schmerz-Texte in der Regel wohlwollend oder zumindest verständnisvoll, denn sie spiegeln ihre eigene aktuelle Situation oder eine gerade hinter sich gebrachte ähnliche Erfahrung wider. Von ihnen bekommt der Anfänger also die Streicheleinheiten, die er dringend braucht.

Alles wäre gut, gäbe es nicht den Alpha-Lyriker, den Sarkast und den Literaturstudenten, Typen also, denen sich bei einem zu trivialen Umgang mit der Sprache das Gefieder sträubt. Während der Alpha-Lyriker sich kraft seiner Selbstbeherrschung noch auf den Hinweis beschränken kann, dass die Poesie vielleicht nicht das geeignete Mittel für den vom Schicksal gebeutelten Anfänger ist, sein seelisches Gleichgewicht wiederzufinden, schüttet der Sarkast über dem unbedarften Neu-Poeten seine ganze Häme aus, indem er ihm rät, noch ein paar Jahre Lebenserfahrung zu sammeln, dann bekäme er allmählich eine Ahnung davon, wie die wirklichen Probleme im Alltag eines Menschen beschaffen sind. Der Literaturstudent treibt es am weitesten, denn er sieht angesichts des seichten Umgangs mit der Dichtung die deutsche Sprachkultur dem Untergang geweiht und empfiehlt dem Anfänger, sich dringend das einschlägige literaturwissenschaftliche Lehrmaterial zu Gemüte zu führen und vor allem das Werk von Martin Opitz „Buch von der Deutschen Poeterey“ gründlich zu studieren.

Spätestens jetzt greifen die Psychologen und Erzieher unter den Usern ein und schelten die harschen Kritiker der Arroganz und Rücksichtlosigkeit gegenüber einem jungen Menschen, der doch lernen wolle und dem man deshalb Vertrauen und Geduld entgegenbringen müsse, anstatt ihn mit kleinlicher Krittelei zu entmutigen. Das Triumvirat der Dichterkoryphäen, das sich ansonsten aus naheliegenden Gründen nicht sonderlich grün ist, hält gegen derartige Vorwürfe zusammen mit dem Argument, eine ehrliche Meinung sei der weitaus bessere Weg, einem Lernwilligen auf die Sprünge zu helfen, als ihn, mit Lobhudeleien reichlich ausgestattet, solange auf dem falschen Gleis fahren zu lassen, bis er gegen einen Berg prallt.

Damit ist in der Regel der Startschuss für eine hitzige Debatte gegeben, in der seitens der Psychologen und Erzieher Vokabeln wie „verbissen“, „überheblich“, „niedermachen“ und „dissen“ fallen, während das Triumvirat kontert, man könne von einem Jugendlichen ab fünfzehn Jahren durchaus erwarten, dass er seine Muttersprache beherrscht und der Lyrik ein bisschen mehr Liebe und Leidenschaft entgegenbringt. Irgendwann schaukelt sich die Debatte dermaßen hoch, dass es die ersten Beleidigungen hagelt, nicht selten von einem der Streithähne provoziert, um seinen Widerpart wegen Verstoßes gegen die Nettiquette melden zu können. Klappt alles nach Plan, wird dieser von der Administration für ein paar Wochen gesperrt. Hat der Provokateur allerdings Pech, trifft ihn die gleiche Strafe, und das ist meistens der Fall.

Mittlerweile hat der Anfänger mit Staunen verfolgt, welche Lawine er mit ein paar reinen Herzens geschriebenen Versen ausgelöst hat, und entschließt sich, dem Forum schleunigst und für immer Adieu zu sagen.

Trolle, Rechthaber, Provokateure

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