Читать книгу Die Ahnenpyramide - Ilse Tielsch - Страница 5

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Ich war das Kind Anni. Ich las zuviel, dachte mir Geschichten aus und träumte mit offenen Augen. Manchmal war ich Prinzessin, manchmal das arme Kind, das sein Hemdchen verschenkte, manchmal der Held, der den Drachen erschlug. Abends holte ich mir heimlich einen ganz kleinen Stern vom Himmel, rieb ihn mit dem Taschentuch blank und lehnte ihn an den großen Kleiderschrank, der im Zimmer stand, er verbreitete ein sehr sanftes Licht und schimmerte wie die sternförmigen Perlmutterknöpfe an jenem Abendkleid, das meine Mutter zum Feuerwehrball trug.

Manchmal erfand ich seltsame Spiele. Zum Beispiel ging ich, einen Spiegel vor mir hertragend, durch alle Räume unserer Wohnung, bewegte mich, in den Spiegel blickend, über die schneeweißen Abgründe der weiß gestrichenen Zimmerdecken, aus denen Glasluster und Hängelampen an Ketten und Seidenschnüren steil emporragten, balancierte über Vorhangstangen, stürzte beinahe von der oberen Kante eines Türstocks in die mit grellbunten Arabesken bemalte Feuerschlucht des Vorzimmerplafonds, fing mich noch rechtzeitig im Fallen, schwebte, entfaltete unsichtbare Flügel, ich war ja keine Menschentochter, meine Mutter hatte mich nicht geboren, sie hatte mich im Wald gefunden, eines Tages würde sie mir gestehen, daß ich ein Elfenkind sei.

Vor den Fenstern schien die Sonne oder rauschte der Regen, klapperten die Hufe von Zugpferden, rollten die eisenbeschlagenen Räder der Bauernwagen über das Granitsteinpflaster der Straße, erklang der schaurige Ruf des Kalkbauern, WAAPNO, WAAPNO, halb gesungen, halb geschrien, ich kannte zwar die Bedeutung dieses Rufes, trotzdem stülpte ich rasch meine Tarnkappe über, sicher war sicher, so würde er mich nicht finden, so war ich unsichtbar geworden, auch für die alte Frau, deren Haus an der Straße zum Hof der Großeltern lag, die einen weißen Spitz besaß und eine Hexe war.

Ich war das Kind Anni, aber ich hatte mehrere Namen, ich hörte auf Anni genauso wie auf Anninka oder moja malinka, was soviel wie MEINE KLEINE hieß. Beim Spiel mit den Freunden zählte ich zweisprachig, EINS, ZWEI, DREI oder JEDEN, DVA, TŘI. Die Landeshymne beherrschte ich in zwei Varianten. KDE DOMOV MUJ, KDE DOMOV MUJ, oder auch WO IST MEIN HEIM, MEIN VATERLAND, WO DURCH WIESEN BÄCHE BRAUSEN, WO AUF FELSEN WÄLDER SAUSEN, WO EIN EDEN UNS ENTZÜCKT, WENN DER LENZ DIE FLUREN SCHMÜCKT. DIESES LAND, SO SCHÖN VOR ALLEN; BÖHMEN IST MEIN HEIMATLAND, BÖHMEN IST MEIN HEIMATLAND.

Als mein weißrotblaues Ansteckfähnchen zerbrach, weinte ich. Noch mehr weinte ich beim Tod des alten Präsidenten. Unsere Köchin Lischa wischte mir die Tränen energisch aus dem Gesicht und sagte: Weine nicht, unser seliger pan Präsident war ja schon sehr alt.

Ich war das Kind Anni, ich stand vor dem ovalen Tisch im Speisezimmer, er hatte eine Platte aus poliertem Nußholz, an den Rändern waren Girlanden aus helleren Hölzern eingelegt. Auf dem Tisch lagen weiße Blätter ausgebreitet, auf einem der Blätter waren sauber gezeichnete rechteckige Kästchen pyramidenförmig angeordnet, in die Kästchen hatte der Vater Namen und Daten geschrieben. Die Breitseite der Pyramide war nach oben gerichtet, die beiden untersten Kästchen waren durch zwei dünne, schräg zueinander laufende Linien verbunden. Wo sich die beiden dünnen, schräg zueinander laufenden Linien berührten, war noch einmal ein Kästchen gezeichnet, in dem Kästchen stand mein eigener Name.

Was ist das, fragte ich und deutete auf das Blatt.

Das sind deine Vorfahren, sagte der Vater. Er nahm einen Bleistift in die Hand, deutete auf die Kästchen und las mir die Namen vor.

Vier Großeltern hatte ich, acht Urgroßeltern, sechzehn Ururgroßeltern. Weiter oben, gegen den Blattrand hin, gab es leere Kästchen, in denen keine Namen standen. Nicht von allen Vorfahren wissen wir, wer sie waren und wie sie geheißen haben, sagte der Vater, aber wir werden es vielleicht noch erfahren.

Von den Namen, die er schon kannte, fand ich manche seltsam, ich hatte sie noch niemals nennen gehört, in unserer Gegend hieß niemand so. Andere klangen mir vertraut, aber ich hatte sie nie mit unserer Familie in Verbindung gebracht.

Die Apfelbecks waren in Kleinmariazell zu Hause, sagte der Vater, die Scheikls in der Steiermark. Die Koblischkes sind vor mehr als sechshundert Jahren nach Böhmen eingewandert, auch die Kröglers, auch jene, die so heißen wie du. Die Steurers kamen aus der Silberstadt Kremnitz, Kremnitz liegt heute in der Slowakei, früher hat es zu Ungarn gehört. Die Vorfahren des Vaters deiner Mutter stammen aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Sloup, das ist dort, wo die großen Tropfsteinhöhlen sind und die Mazocha, du weißt doch, die tiefe Schlucht, von der man sagt, daß einst eine Mutter ihr Kind hinuntergestürzt hat. Ich wußte, und was ich wußte, war tröstlich: Das in die Schlucht gestürzte Kind hatte überlebt, aber man hatte die böse Stiefmutter zur Strafe in die Tiefe gestoßen, das freute mich, ich gönnte der Stiefmutter ihren schrecklichen Tod, ihren Märchentod, meist wurde in den Märchen, die ich kannte, das Böse auf schreckliche Weise bestraft, und mein Gerechtigkeitssinn war sehr stark in jenen Jahren. Die erste Silbe des Namens, den deine Mutter getragen hat, als sie noch nicht verheiratet war, bedeutet Erde, wenn man sie ins Deutsche übersetzt, sagte der Vater.

Dann ist die Mutter früher keine Deutsche gewesen? fragte ich.

Früher, sagte der Vater, als du noch nicht geboren warst, waren wir alle Österreicher.

Das verstand ich nicht.

Ich war klein für meine sechs oder sieben Jahre, der Tisch mit der ovalen Platte war hoch. Ich sah die pyramidenförmig angeordneten Kästchen mit den Namen und Daten der Vorfahren aus nächster Nähe.

Hier, sagte der Vater und deutete mit dem Stift auf das unterste Kästchen, dies ist dein eigener Name, das bist du. Ich dachte mich in das Kästchen hinein, ich sah mich eingeschlossen in das Kästchen, die beiden schräg zu dem Kästchen gezogenen Linien liefen auf mich zu, sie waren mit den Kästchen der Eltern verbunden, ich dachte mir Vater und Mutter eingeschlossen in diese Kästchen, die wiederum durch schräg auseinanderlaufende Linien mit vier weiteren Kästchen verbunden waren, die Großeltern waren noch alle vier am Leben, ich dachte sie mir in die für sie bestimmten Kästchen hinein, sah weitere Linien auf weitere Kästchen zulaufen, in diesen Kästchen lagen die schon Verstorbenen, also die Toten, ich bekam Angst vor der Pyramide, die auf das Blatt gezeichnet war, ich hatte das Gefühl, die Pyramide auf meinen Schultern tragen zu müssen, alle die noch Lebenden und die schon Verstorbenen, die vor mir gelebt hatten, ich fühlte plötzlich ihr furchtbares Gewicht auf meinen Schultern, ich versuchte, meine unsichtbaren Flügel zu entfalten, es gelang mir nicht, ich war kein Elfenkind mehr, ich war ein ganz gewöhnliches Kind, von Menschen geboren, die von Menschen zur Welt gebracht worden waren, die wiederum menschliche Eltern gehabt hatten und so fort. Ich fühlte die Gewichte der Vergangenheit auf meinen Schultern, einer Vergangenheit, die aus Menschen bestand, die Menschen hatten in mir unbekannten Gegenden gelebt, vielleicht in unheimlichen Tropfsteinhöhlen, vielleicht in Schluchten, ich fürchtete mich, mir blieb nur die Möglichkeit, meine Tarnkappe überzustreifen, mich unbemerkt fortzuschleichen, aus dem Zimmer zu laufen, aber auch die Tarnkappe rettete mich nicht, ich war nicht unsichtbar geworden, meine Mutter sah mich trotzdem, ich hörte, wie sie zum Vater sagte: Laß das Kind, belaste es nicht mit dem, was gewesen ist.

Dann hörte ich noch, wie sie sagte: Später einmal wird sie sich vielleicht dafür interessieren.

Die Ahnenpyramide

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