Читать книгу Lebenszeichen - Ilse Wind - Страница 3

Оглавление

1. Kapitel

Ich kann mich nicht erinnern, wann und warum ich „Highway to Hell“ zum Klingelton für die Anrufe meiner Mutter gewählt hatte, aber jetzt schien es mir genau passend zu sein. Es war Sonntagmorgen, draußen war es noch dunkel, im Flur vibrierte mein Handy zur Melodie der AC/DC, und mich interessierte nicht im Mindesten, warum Neptun Konjunktion Pluto mir den Tag vermiesen musste. Meine Mutter wollte es sich einfach nicht abgewöhnen, aus der aktuellen Sternenkonstellation die Berechtigung zu ziehen, mir gute Ratschläge zu geben. Die Astrologie bestimmte ihr Leben und darum musste meines ebenfalls zu jeder Tages- und Nachtzeit darunter leiden. Die Melodie verstummte, die Mailbox hatte den Anruf entgegengenommen. Doch schon eine Sekunde später begann die Musik von neuem und ich wälzte mich aus dem Bett. Ich folgte den verzerrten Klängen in den Flur und fand mein Handy in der Handtasche auf dem Fußboden.

„Mam, es ist Sonntag mitten in der Nacht, ich will schlafen“.

Das ängstliche Schluchzen an meinem Ohr machte mir klar, dass das der falsche Einstieg in das Gespräch mit meiner Mutter war. Sofort war ich hellwach. Ihre Worte kamen gepresst und abgehackt:

„Ich – werde – verhaftet.“

Danach nur noch Laute der Verzweiflung.

„Mama? Mama? - Gib mir den Polizisten! Und sag kein Wort bis ich da bin!“

Ein Herr, der sich am Telefon als Kommissar Specht vorstellte, erklärte mir, dass meine Mutter unter dem Verdacht stehe, einen Mann mit mehreren Messerstichen ermordet zu haben, und daher zur Vernehmung ins Polizeipräsidium gebracht werde.

Eine Leuchtschrift erschien vor meinem geistigen Auge: Mutter der Rechtsanwältin Daniela Stolz eine Mörderin! Schlimmer noch, die Exfrau des Münchener Staranwalts Elmar Stolz eine Mörderin. Zugegeben, nur die zweite Variante hatte das Zeug zur Schlagzeile, denn bisher hatte ich meine vor knapp einem halben Jahr gestartete Karriere als Strafrechtlerin auf der Verteidigung von Kleinkriminellen aufgebaut.

Niemals! Das konnte nur ein Irrtum sein. Meine liebe, manchmal etwas verrückte Mutter war nie und nimmer in der Lage, einem anderen Menschen ein Leid anzutun. Und die Vorstellung, dass sie gerade in Handschellen in einem Polizeiwagen durch München fuhr, pumpte mir stoßweise Adrenalin ins Blut.

Die Morgentoilette reduzierte ich auf Zähneputzen, und das Frühstück auf eine Tasse Kaffee. Diese Maschinchen, die aus kleinen Kapseln einzelne Tassen Kaffee pressten, waren eine segensreiche Erfindung. Gut fünf Minuten später spurtete ich die schiefe Holztreppe des Hinterhofaltbaus in der Schellingstraße hinunter und raste um den Häuserblock. Wo zum Teufel hatte ich mein Auto geparkt? Weit und breit kein rotes Cabrio. Womöglich mal wieder abgeschleppt. Diese Ecke in München-Schwabing war zum Kotzen. Überall Halteverbot und nirgendwo Garagen. Ich stoppte ein Taxi. Klar, dass einer meiner ehemaligen Kommilitonen am Steuer saß. Auch klar, dass ich ihm nur die Adresse „Ettstraße“ nannte und nicht sagte, dass ausgerechnet meine Mutter mein erster Mordfall war.

Es dämmerte bereits, als wir auf die Ludwigskirche zufuhren, die sich im Schein der aufgehenden Sonne leicht rosa färbte. Welche Sternenkonstellation meine Mutter wohl in diese missliche Lage gebracht hatte? An einem Sonntagmorgen aus dem Bett heraus verhaftet zu werden. Da hatte sicher Mars seine Finger im Spiel. Ich hoffte nur, dass ich schnell Jupiters segensreiche Kraft mobilisieren konnte, um ihr aus der Klemme zu helfen. Es war wirklich der falsche Zeitpunkt, mich über das Esoterik-Hobby meiner Mutter lustig zu machen, aber Galgenhumor war das einzige, was mich im Moment aufrechterhielt.

Das Häufchen Elend mit dem aufgequollenem Gesicht, den roten, tränenden Augen und den strubbeligen Haaren, das ich im Polizeipräsidium vorfand, hatte wenig gemein mit der stolzen, selbstverliebten Susanne, die ich als meine Mutter kannte. Sie saß in sich zusammengesunken auf einem hölzernen Stuhl und hob vorsichtig den Kopf, als ich den schmucklosen Raum betrat. Ihr Blick drang kaum durch den Schleier ihrer Tränen aber signalisierte Dankbarkeit und Hoffnung, als er mich erreichte. Es kostete mich große Mühe, nicht mit ihr zu weinen sondern mit fester Stimme nach den Anklagepunkten zu fragen. Weisungsgemäß hatte meine Mutter bisher geschwiegen, aber jetzt schluchzte sie wieder und stammelte „Dr. Karl ist tot“.

„Wer ist Dr. Karl?“ fragte Kommissar Specht mit warmer, weicher Stimme, die nicht zu seinem Gesichtsausdruck und schon gar nicht zu seiner schmächtigen Gestalt passte. „Wir haben die Leiche eines Gabriel de Santos gefunden und zwar mit mehreren Messerstichen im Rücken. Haben Sie diesen Dr. Karl auch getötet?“

Wütend wies ich die Frage zurück. Meine Mutter war unschuldig und wenn dieser Specht etwas anderes dachte, musste er es beweisen. Weder Gabriel de Santos noch Dr. Karl waren durch die Hand meiner Mutter gestorben. Auch wenn ich keinen der beiden kannte, war ich doch sicher, dass diese zarte Person niemals ein Messer in den Körper eines Mannes rammen könnte. Meine Mutter ließ sich sogar eine Forelle vom Kellner filettieren, um das arme Tier nicht zu verletzen. Ich machte von meinem Recht Gebrauch, Susanne unter vier Augen sprechen zu dürfen. Noch begriff ich gar nichts von dem größten Rätsel, das mir das Leben jemals aufgegeben hatte.

In der kurzen Zeit, die man uns zubilligte, erfuhr ich mehr über die spirituellen Aktivitäten meiner Mutter, als in all den Jahren zuvor. Aus Angst davor, von meinem Vater und mir verspottet zu werden, hatte sie nie davon erzählt, dass sie an einer Vielzahl von Seminaren über Geistheilung teilgenommen hatte. Gabriel de Santos war ein brasilianischer Heiler, der mehrmals im Jahr Europa bereiste, um Geld für sein Kinderkrankenhaus in Sao Paulo einzusammeln. Dazu heilte er und gab sein Wissen an Interessierte weiter. Meine Mutter hatte die Organisation seiner Besuche in München übernommen und veranstaltete für ihn sowohl Seminare als auch Heilsitzungen, zu denen eine Vielzahl von mehr oder weniger kranken aber vor allem prominenten Menschen aus ganz Deutschland kamen. Die Namen dieser Menschen wollte meine Mutter nicht preisgeben. Ihre Aufzeichnungen über die vergangenen Tage durften unter keinen Umständen der Polizei in die Hände fallen. Sie bat mich inständig, den Terminkalender aus dem Büro ihrer Boutique zu holen. Bei dem Wort Boutique fiel mir ein, dass meine Mutter Verpflichtungen hatte, die in den nächsten Tagen mir zufallen würden. Denn ihr hübscher kleiner Laden in der Wurzerstraße musste ebenso versorgt werden wie Hermes, der Kater in ihrer Wohnung in Grünwald. Doch diese Gedanken verdrängte ich schnell wieder, um Einzelheiten über die Vorgänge zu erfahren, die sie in diesen Verdacht gebracht hatten. Was hatte es mit diesen Heilsitzungen auf sich? Was geschah, wenn Gabriel de Santos, der selbstverständlich ohne Approbation arbeitete, die Menschen behandelte? „Du weißt, dass es illegal ist, als Arzt aufzutreten, ohne einer zu sein!“ sagte ich vorwurfsvoll, weil ich nicht begreifen konnte, was meine Mutter veranlasst hatte, Sitzungen für einen Geistheiler zu veranstalten.

„Aber Dr. Karl ist Arzt und Gabriel channelt ihn nur“.

„Was heißt das? Er channelt Dr. Karl?“

„Dr. Karl war Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ein begnadeter Chirurg und hat vielen Menschen im ersten Weltkrieg das Leben gerettet. Nach seinem Tod bediente er sich lebender Personen, die ihm als Medium zur Verfügung stehen, um so sein Wirken fortsetzen.“

„Das ist doch Blödsinn. Mit dieser Geschichte können wir den Staatsanwalt nicht überzeugen.“

Ich erschrak über meinen barschen Ton. Doch mir schien die Erklärung so haarsträubend, dass ich fast wütend wurde. Ich legte den Arm um meine Mutter. Diese Geste brauchte ich mehr zu meiner eigenen Beruhigung als zu der ihren.

An dieser Stelle wurden wir von Specht unterbrochen. Irgendwie passte dieser Name zu dem Mann. Er hackte im Stakkato mit Fragen auf meine Mutter ein, weil es ihm offenbar plausibel erschien, dass sie Gabriel de Santos ermordet hatte. Doch egal, was er fragte, meine Mutter hatte keine Erklärung für Gabriels Tod. Als sie sich gestern Abend von ihm verabschiedete, lebte er noch.

„Wie kommen sie darauf, dass meine Mandantin Gabriel de Santos ermordet hat?“

Mit einem süffisanten Grinsen blätterte Specht in seinen Unterlagen und zitierte die Aussage einer Seminarteilnehmerin, die behauptete, meine Mutter habe mit Gabriel de Santos lautstark über Geld gestritten. Gabriel wollte neunzig Prozent der gesamten Einnahmen und Susanne Stolz bestand darauf, vor der Aufteilung der Erlöse die Raummiete in Abzug zu bringen. Darüber seien die beiden in einen so massiven Streit geraten, dass sich die Seminarteilnehmer peinlich berührt verabschiedeten und die Veranstaltung verließen. Gabriel und Susanne blieben nach Aussage der Zeugin alleine in der Physiotherapie-Praxis einer gewissen Henrike Waldheim zurück. In den frühen Morgenstunden sollte die Zugehfrau die Räume von den Spuren des Seminars und den teilweise blutigen Heilsitzungen reinigen und fand den leblosen Gabriel de Santos auf einer Massageliege. Seine Augen waren unnatürlich aufgerissen und sein Hemd von Blut durchtränkt. Specht legte uns großformatige Fotos vor, die den irren Blick in Gabriels Gesicht in grotesker Weise veranschaulichten. Das war für meine Mutter zu viel. Sie verfiel erneut in ein herzzerreißendes Schluchzen, das als ehrliche Trauer über den Tod eines geliebten Freundes absolut überzeugend wirkte. Doch Specht rührte das in keiner Weise.

„Da die Mordwaffe bisher nicht gefunden wurde, stützen wir uns auf den Streit, den ihre Mandantin mit dem Ermordeten hatte. Sie ist in jedem Fall die letzte, die ihn lebend gesehen hat und es ist nahe liegend, dass das aus den Sitzungen bereits vorhandene Messer als Tatwaffe diente.“

„Um was für ein Messer handelt es sich denn?“ unterbrach ich ihn.

„Nun, die Tatwaffe haben wir noch nicht. Die Kollegen sind noch am Tatort. Es war in jedem Fall ein Schneidwerkzeug.“

Er machte eine Pause und sah Susanne triumphierend an. Dann wandte er sich wieder mir zu.

„Vielleicht hat ihre Mutter ja in Notwehr gehandelt, weil de Santos ihr das Geld abnehmen wollte. Aber das ist schon die strafmildernste Variante, die ich ihnen anbieten kann. Ein Geständnis macht die Sache für uns alle am einfachsten.“

Unvermutet heftig schlug meine Mutter mit der flachen Hand auf den Tisch und sprang auf. „Ich habe Gabriel nicht ermordet – er hat mich weg geschickt, weil er mit Dr. Karl alleine sein wollte! Als ich ging, lebte Gabriel. Wegen hundert Euro bringe ich doch niemanden um!“ Ich zog meine Mutter am Pullover auf den Stuhl zurück und bat sie, sich zu beruhigen. Specht grinste überheblich.

„Sie sehen doch, dass ihre Mutter im Affekt durchaus zuschlagen kann. Genauso kann sie auch zustechen. Glauben Sie nicht?“

Noch bevor ich ihm antworten konnte, fügte er sarkastisch hinzu:

„Angesichts der Geschichte, die ihre Mutter über einen Arzt aus dem ersten Weltkrieg zu erzählen hat, können sie ja auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren.“

Diese Frechheit verschlug mir für kurze Zeit die Sprache. Als ich sie wieder fand, hatte Specht bereits nachgesetzt und behauptet, es haben in den von meiner Mutter organisierten Heilsitzungen Operationen statt gefunden, die aufgrund der mangelnden ärztlichen Zulassung von Gabriel de Santos strafbar seien und insofern sei meine Mutter auch hier in eine Vielzahl von Delikten verstrickt. Er werde meine Mutter zeitnah dem Ermittlungsrichter vorführen lassen.

In diesem Moment kam ein Beamter ins Zimmer. Er flüsterte Specht etwas ins Ohr. Specht ging hinaus und kam mit einem breiten Grinsen zurück. In der Hand hielt er einen kleinen Plastikbeutel, darin lag ein Skalpell. Er schwenkte den Beutel vor dem Gesicht meiner Mutter.

„Das haben die Kollegen in der Mülltonne hinter dem Haus gefunden“, sagte er.

Das Entsetzen auf dem Gesicht meiner Mutter verriet nichts Gutes.

„Und Frau Stolz, wie sieht es jetzt mit dem Geständnis aus?“ fragte Specht.

„Meine Mandantin hat keine Veranlassung etwas zu gestehen, was sie nicht getan hat. Haben sie denn die Fingerabdrücke schon überprüft.“

„Formsache“ meinte Specht. „Ich verwette meinen Arsch, dass die Fingerabdrücke ihrer Mutter auf diesem Skalpell sind.“

„Nehmen sie das zurück“, war alles, was mir darauf einfiel. Ich war geschockt.

„Was? Den Wetteinsatz? OK, das ist mir so rausgerutscht. Die Damen entschuldigen.“ Im Hinausgehen fügte er hinzu: „Dann lassen wir mal die Fingerabdrücke überprüfen.“

„Mama, kennst du das Skalpell?“

„Ich nehme an, es ist das Skalpell, das Gabriel gestern benutzt hat“, sagte sie im Flüsterton.

„Hast du es angefasst?“

„Ja.“

„Benutzt ihr keine Handschuhe?“

„Nein, ich habe es so angefasst.“

Specht kam wieder herein.

„Für den Haftrichter wird es reichen, Ladies“, sagte er. „Sie sollten sich das mit dem Geständnis noch einmal überlegen. Mit Notwehr und guter Führung kommen sie vielleicht schon in drei bis vier Jahren wieder raus.“

Hätte das Skalpell noch am Tisch gelegen, hätte ich es Specht gerne zwischen die Rippen gerammt. Er ließ meine Mutter abführen und ich musste ohnmächtig zusehen. Ich wäre sofort für sie in die Zelle gegangen, denn ich wusste, dass es für sie unerträglich würde, ihr freies, unbeengtes Leben auf vier Quadratmeter zu reduzieren und dabei den Glauben an die Gerechtigkeit nicht zu verlieren.

Meine Mutter war unschuldig. Davon war ich überzeugt. Ein bisschen mulmig war mir bei dem Gedanken, Beweismaterial aus ihrer Boutique verschwinden zu lassen. Aber lieber hatte ich die Aufzeichnungen über die vorangegangenen Heilsitzungen, als dass sie der Polizei in die Hände fielen. Am meisten Interesse dürfte allerdings die Presse an diesem Material haben. Ein Schmunzeln überflog mein Gesicht bei dem Gedanken, dass die spirituell angehauchte Münchener Society hier namentlich in Erscheinung trat. In Gedanken zitierte ich die Boulevardpresse mit Geschichten über die göttlich geölte Stimme einer berühmten Sängerin, die gelinderte Arthritis einer alternden Schauspielerin, das geheilte Magenleiden eines Fußballtrainers und das entfernte Furunkel der Society-Lady. Sie alle würden mir sicher persönlich ihre Dankesbezeugung überbringen wollen, wenn sie wüssten, dass ich an diesem kalten Dezembersonntag im Büro meiner Mutter nach einem Terminplaner suchte. Zum Glück war meine Mutter kein Freund der elektronischen Medien, so dass es nicht nötig war, eine Festplatte zu löschen oder gar auszubauen, um die Daten verschwinden zu lassen. Die Suche nach der Agenda gestaltete sich schwierig, denn in dem Hinterzimmer der Boutique „Susanne“ war es fast dunkel und ich wollte vermeiden, dass mich ein Lichtschein zur Straße verriet. Früher oder später würde die Polizei nicht nur die Wohnung meiner Mutter durchsuchen, sondern auch hier aufkreuzen. Ich bewunderte Susannes Weitblick, mir irgendwann einmal die Schlüssel für beides überlassen zu haben. Sie setzte stets darauf, dass ich sie in ihrer Boutique vertreten würde, wenn sie mal nicht die Kraft hätte, den Laden selbst aufzusperren. So waren zumindest ihre Worte gewesen. Dass die Kraft sie auf diese Art verlassen würde, hatte sie sicher nicht erwartet. Ich musste mich sehr beherrschen, nicht in all den Astrologie-Wälzern zu schmökern, die meine Mutter hier stapelte. Tatsächlich erstellte sie für ihre Kundinnen Horoskope. Da tauchten dann auch die ersten Namen auf, von denen ich sicher war, dass sie die Auflage der Abendzeitung in den nächsten Tagen erhöhen würden, wenn ich mich nicht darum kümmerte. Hinzu kam mein Gedanke, dass Mama sicherlich diese Nebeneinnahmen aus astrologischer Beratung in der Steuererklärung vergessen hatte. Meine Mutter saß wegen Mordes in Untersuchungshaft und ich dachte an ihre kleinen Steuervergehen. Das war wohl meine Art mit dem enormen Schrecken, den das Wort „Mord“ in meiner Seele auslöste, fertig zu werden. Ich spürte, wie mein Körper rebellierte, ich begann zu zittern und mir wurde bewusst, dass ich gerade dabei war, in einem Mordprozess Beweismaterial zu unterschlagen. Ein echter Meilenstein in meiner Anwaltskarriere. Hätte ich doch nur auf meinen Vater gehört und wäre bei ihm in der Kanzlei geblieben. Aber nein, ich musste ja unbedingt mit Martin und Ali die Strafrechtssache durchziehen. Egal, jetzt galt es, dieses blöde Terminbuch zu finden und dann nichts wie weg hier. Nervös und zittrig zog ich alle Schubladen auf, kramte, schob sie wieder zu. Warum hatte mir meine Mutter keinen Hinweis gegeben? Hielt sie mich für Mata Hari? Dann endlich kam mir die Idee, es gab einen kleinen Wandsafe, den Susanne vor ein paar Jahren hatte einbauen lassen. Doch weder wusste ich, wo sich dieser Safe befand noch wie er zu öffnen war. Was war ich für eine schlechte Tochter, die sich so gar nicht für die Belange ihrer Mutter interessierte? Weder hatte ich eine Ahnung von ihren spirituellen Kontakten noch kannte ich die banalsten Dinge ihrer Geschäfte. Dennoch hatte sie darauf vertraut, dass ich gegebenenfalls einmal ihren Laden für ein paar Tage führen könnte. So war sie eben. Immer positiv denkend und voller Vertrauen in ihre Mitmenschen. Manchmal fast naiv; wobei ich glaubte, diese Naivität hatte sie sich zum Schutz gegen meinen Vater zugelegt, der sie mit seinem Realismus fast erdrückte. Dann flüchtete sie sich in eine Welt, in der alles heil und gut war, setzte ihrem Gesicht ein glückliches Lächeln auf und verschwand in ihr Zimmer. Diese Frau konnte niemanden ermordet haben und schon gar nicht in einem Streit über 100 Euro Raummiete.

Mein Blick wanderte über die Wände der kleinen, unordentlichen Kammer. Überall hingen indisch anmutende Stoffe. Das wenige Licht ließ die Goldfäden in den Schals, Kordeln und Quasten leicht glitzern. Jetzt erst bemerkte ich den Weihrauchgeruch. Von meiner Aufgabe, das Terminbuch zu finden, getrieben, hatte ich meine Umgebung kaum wahrgenommen. Hinter einem zarten dünnen Seidenschal sah ich ein Bild meiner Mutter an der Wand. Es zeigte sie als junge, glückliche Frau mit blonden, langen Haaren. Ihre Schönheit beeindruckte mich, denn das letzte Bild, das ich von ihr vor Augen hatte, wich meilenweit von der Person auf dem Foto ab.

„Ich hol Dich da raus, Mam!“ sagte ich halblaut zu dem Bild an der Wand und ging darauf zu. Ich war sicher, dass sich der Safe dahinter verbarg. Es ließ sich leicht abhängen und gab ein Zahlenrad zur Eingabe einer Ziffernkombination frei. Es kam nur ihr Geburtsdatum in Frage. Wenn sie ihr eigenes Bild darüber gehängt hatte, hatte sie auch ihre Zahlen verwendet. 5 – 1 – 5 – 1 Fünfter Januar 1951. Mit feuchten Fingern drehte ich das Rad und lauschte dem Klicken. Mein Herz pochte, das schlechte Gewissen meldete sich mit einem kalten Schauer über Armen und Rücken, ich glaubte ein Geräusch an der Ladentür zu hören, mir stockte der Atem. Vor meinen Augen sprang die Safetür lautlos auf. Ich sah in ein dunkles Loch und hatte Mühe, mich nicht einer drohenden Ohnmacht hinzugeben. Wieder hörte ich das Geräusch aus dem Laden. Ich versuchte es einzuordnen, wagte nicht mich zu bewegen. Lediglich meine Augen wanderten ganz nach rechts und ich hatte den Eindruck, im Laden sei es heller als zuvor. Jemand musste das Licht eingeschaltet haben. Ich hielt die Luft an, drehte den Kopf in Richtung Tür und war nun sicher, dass im Laden mehrere Lampen brannten. Da kam mir die Idee, dass Susanne sicher eine Zeitschaltuhr in Betrieb hatte, um ihr Schaufenster bei Einbruch der Dunkelheit zu erleuchten. Ein paar Minuten verharrte ich in diesem Gedanken. Es blieb ruhig und ich wagte wieder mich zu bewegen. Leise ging ich zur Tür und warf einen Blick in den Verkaufsraum. Tatsächlich war die Beleuchtung des Schaufensters angegangen. Wie schön meine Mutter wieder dekoriert hatte. Weihnachtlicher Kitsch kombiniert mit ihrer unbeschreiblich eleganten Mode, die außer ihr selbst nur wenige Menschen wirklich tragen konnten. Doch zum Glück wussten ihre Kundinnen das nicht. Erleichtert ging ich in die Bürokammer zurück und tastete in den Wandsafe. Tatsächlich da lag das Terminbuch. Ein schöner DIN-A4-Kalender in Leder gebunden. Meine Hand suchte noch ein bisschen weiter und griff ein Bündel Geldscheine. Kurze Zeit überlegte ich, was ich damit tun sollte. War es möglicherweise das Geld der Seminarteilnehmer und man würde darauf Fingerabdrücke finden? Nein, das Geld hatte ja Gabriel sicher von ihr bekommen. Stimmt eigentlich, hat man das Geld bei ihm gefunden? Diese Frage musste ich mir für mein Gespräch mit dem Staatsanwalt merken. Ich nahm das Bündel Scheine und legte es in das Terminbuch. Beides zusammen brachte ich zum Schreibtisch, wo die astrologischen Auswertungen lagen. Ich schloss den Safe, drehte das Rad willkürlich in beide Richtungen und hängte das Bild meiner Mutter an seinen Platz zurück. Den Seidenschal zupfte ich darüber zurecht, betrachtete mein Werk im Halbdunkeln und war für eine Sekunde ganz zufrieden. Ich atmete tief durch, packte mein Beweismaterial in eine der schicken großen Designer-Taschen, die Susanne für ein kleines Vermögen im Laden anbot und überzeugte mich noch einmal, dass die Unordnung durch mein Eindringen keinen Schaden genommen hatte. Alles war so, als ob nichts an seinem Platz wäre. Umso gediegener war der Verkaufsraum, den ich nun schnell durchschritt und durch die Ladentür verließ. Ich schloss ab und sah in Richtung Maximilianstraße. Obwohl es erst dämmerte, war alles von Straßenlaternen hell erleuchtet. Ein Streifenwagen fuhr vorbei und erinnerte mich daran, dass ich mich gerade strafbar gemacht hatte. Umso entschlossener setzte ich meinen Weg zum Marienplatz fort. Mit der U-Bahn war ich relativ unverdächtig unterwegs, glaubte ich zumindest.

Ich stapfte durch den Schneematsch auf der Schellingstraße. Es war dunkel und ich presste die Designer-Tasche mit dem Ellbogen fest an meinen Körper. Ein paar Schneeflocken tanzten vor meinem Gesicht und in den Scheinwerferkegeln der vorbeifahrenden Autos. Alle Cafés und Kneipen waren voller Menschen, die Schaufensterscheiben größtenteils beschlagen und vorweihnachtlich erleuchtet. Ich dachte, diese Lichterketten seien längst aus der Mode, aber dann kamen sie doch jedes Jahr wieder um diese Zeit zum Einsatz. Mein Gesicht fror, aber der Rest meines Körpers war von einem undefinierbaren Fieber erhitzt. Noch vor vierundzwanzig Stunden war mein größtes Problem gewesen, wie ich mich dem pubertären Werben meines Kollegen Martin entziehen konnte und jetzt stand diese Frage überhaupt nicht mehr zur Debatte. Zum einen war Martin indiskutabel und zum anderen gab es den gemeinschaftlichen Schwur bei der Kanzleieröffnung vor sechs Monaten: „Never fuck the office“, womit wir ganz klar die Grundregeln unserer Zusammenarbeit definiert hatten. Es ging um den Erfolg und die Gerechtigkeit, nicht um Spaß und Sex. Eine junge Frau in einem schwarzen Kapuzenmantel rempelte mich im Vorbeigehen an, entschuldigte sich und ging weiter. Ich klemmte meine Tasche noch fester unter den Arm. Aus dem Augenwinkel sah ich ein rotes Cabrio am Straßenrand. Nicht zu fassen. Da stand mein kleiner Mazda, genau da, wo ich ihn gestern abgestellt hatte. Warum hatte ich ihn heute Morgen nicht gesehen? Ein ganz legaler Anwohnerparkplatz, der mir gemäß der im Fenster liegenden Berechtigungskarte zustand. Ich warf meinem Gefährt einen freundlichen Blick zu und wünschte ihm Gute Nacht. Das Auto und ich standen in einem sehr persönlichen Verhältnis zueinander, denn bisher hatte es mich nicht im Stich gelassen. Vorausgesetzt ich merkte mir, wo ich es geparkt hatte. Es war das Geschenk meines Vaters zur Promotion gewesen, gewissermaßen ein Deal zwischen uns. In seiner Kanzlei hatte ich viel gelernt und auf sein Drängen hin promoviert. Dr. Daniela Stolz konnte ich seither auf meine Visitenkarte schreiben. Doch als Strafrechtlerin bringt einem der Titel so gut wie nichts. Mein Vater dachte, ich würde bei ihm in der Kanzlei bleiben, aber ich hatte das Gefühl, dort immer seine Tochter und niemals eine Kollegin zu sein.

Im Supermarkt des Vorderhauses leuchtete ein ganz schwaches Licht, das aus einem Nebenraum drang. Niemand war zu sehen. Vielleicht wurde Ware für morgen ausgepackt. Ich ging durch die angrenzende Einfahrt in den Hinterhof, vorbei an großen Mülltonnen und leeren Obstkisten, die im Winter nur mäßig Gerüche von sich gaben. Dennoch waren die Abfälle des Supermarkts ein steter Quell des Ärgers für uns Bewohner des Hinterhauses. Mit klammen Fingern sperrte ich die Haustür auf und drückte den Lichtknopf. Im Haus war es absolut still. Die Stufen knarzten unter meinen Schritten. Im zweiten Stock drang Licht aus dem schmalen Fenster über der Tür. Ich wusste, die alte Frau Riedmann lehnte mit ihrem Ohr am Schlüsselloch. Ihre Augen reichten nicht mehr, um den vorbeigehenden Hausbewohner zu identifizieren. Sie öffnete die Tür und ihr dünnes Stimmchen ließ ein eher fragendes „Fräulein Doktor“ vernehmen.

„Sagen Sie doch Daniela zu mir, Frau Riedmann“.

Obwohl ich mich selbst mit Sorgen überladen fühlte, brachte ich es nicht übers Herz, sie mit ihren Problemen stehen zu lassen.

„Was kann ich für Sie tun?“

„Haben Sie den Brief an die Hausverwaltung geschrieben? Ich habe schon wieder Ratten im Hof gesehen. Der Supermarkt muss seine Abfälle besser entsorgen, sonst haben wir die Ratten bald im ganzen Haus!“

Beim Gedanken an Ratten fiel mir Hermes siedend heiß ein. Mutters Kater war den ganzen Tag alleine gewesen und hatte nichts zu fressen bekommen.

„Tut mir Leid, Frau Riedmann, ich bin noch nicht dazu gekommen. Aber ich vergesse es nicht. Gute Nacht“

Ohne eine Antwort abzuwarten spurtete ich die letzte Treppe hoch, sperrte meine Wohnungstür auf und warf die Tasche auf den Fußboden. Wo fange ich an? Vor meinem geistigen Auge erschien meine Mutter in einer nüchternen Zelle, womöglich mit einer anderen Frau eingesperrt auf ein paar Quadratmetern mit minimalem Komfort und noch weniger Hygiene. Durch eine Türluke wurde ihr trockenes Brot und eine schleimige Suppe gereicht. Ich schloss die Augen und versuchte, diesen Gedanken schnell zu verdrängen. Was nun? Hermes oder der Terminplaner? Sicher war die Polizei noch im Hause meiner Mutter. Die hätten das arme Tier ja auch füttern können. Doch wahrscheinlich hatte sich Hermes ihnen gar nicht gezeigt. Er war zwar nicht scheu, aber hatte ein gutes Gespür dafür, mit welchen Menschen er sich einlassen konnte und welche er besser mied. Die Aussicht, jetzt nach Grünwald fahren zu müssen, quälte mich. Doch weder meine Mutter noch Hermes hätten Verständnis dafür, wenn ich mich jetzt auf die Couch legte und schlief. Also suchte ich ein sicheres Versteck für meine unterschlagenen Beweise und entschied mich für die Gemüseschublade meines Kühlschranks. Die Horoskope und das Terminbuch hatten gerade darin Platz und die darüber drapierte Plastiktüte aus dem Supermarkt schien mir eine optimale Tarnung.

Trotz der großen Enttäuschung, die ich meinem Vater bereitet hatte, als ich mich gegen seine Kanzlei entschied, war er immer auf mein Wohl bedacht. Diese Tatsache hatte mir einen Satz Winterreifen beschert und so kam ich ohne Probleme in Grünwald auf der Eierwiese an. Die Zeitschaltuhren im Haus meiner Mutter taten ihren Dienst, hinter manchen Fenstern brannten kleine oder größere Lampen. Das Anwesen wirkte friedlich und bewohnt. Von außen deutete nichts darauf hin, dass hier heute morgen eine Verhaftung statt gefunden hatte. Anders als im Fernsehkrimi befand sich auch kein Polizeisiegel an der Tür. Man hatte wohl bereits alles sichergestellt, was man für beweiskräftig hielt. Ich klingelte, ohne zu wissen, was ich mir davon versprach. Denn meine Mutter war mit Sicherheit nicht zu Hause, Hermes würde wohl kaum öffnen und nach Polizisten im Haus sah es nicht aus. In der Garageneinfahrt parkte nur mein eigener Wagen und die Straße war frei von Fahrzeugen. Ich schloss auf, öffnete die Tür und rief laut nach dem Kater. Es war das ängstliche Rufen eines Kindes, das im dunklen Wald singt. Nichts als Stille hallte mir entgegen. Ich tastete nach dem Lichtschalter, den ich rechts von der Eingangstür in Erinnerung hatte. Doch da war er ganz offensichtlich nicht. Plötzlich gingen um mich herum verschiedene Lichter an, als ich den Flur betrat. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich begriff, dass ein Bewegungsmelder diese Inszenierung bewirkt hatte. Meine Mutter ließ offenbar keine Gelegenheit aus, den Elektriker kommen zu lassen. Ich schloss die Tür, stellte meine Handtasche auf die kleine Kommode und begann die Suche nach Hermes. Das sicherste Lockmittel müssten wohl eindeutige Geräusche mit dem Fressnapf in der Küche sein. Es genügte das Öffnen der Kühlschranktür um einen leisen Druck an meiner Wade zu spüren. Er schmiegte sein Köpfchen an mein Bein und sah mich erwartungsvoll an. Für eine Katze war er ganz schön berechenbar. Eben ein Mann. Susanne legte Wert darauf, dass Hermes nur vom Feinsten bekam und die Futtermittelindustrie erfüllte ihr diesen Wunsch mit teuersten Menüs in Aluschälchen.

„Wonach steht Dir der Sinn, Bursche? Kalbsleber, Hühnerfrikassee, Wildragout, Fischtöpfchen oder Ententerrine an zartem Bärlauchpüree?“

Jetzt wurde mir klar, dass es gut war, das Geldbündel an mich gebracht zu haben, denn die Verpflegung des pelzigen Götterboten könnte mich in den nächsten Tagen ruinieren. Während ich Hermes beim Fressen zusah, dachte ich darüber nach, wie ich meine Mutter aus ihrer schrecklichen Situation befreien konnte. So sehr ich mich dagegen sträubte, so sehr wurde mir auch klar, dass ich möglicherweise meinen Vater zu Rate ziehen musste. Es stand zu viel auf dem Spiel, um nicht alle Möglichkeiten auszuschöpfen. Nur wie würde mein Vater reagieren, wenn er erfuhr, dass seine Ex-Frau unter Mordverdacht einsitzt. Schließlich hatte er sie ja mal sehr geliebt und wäre da nicht diese übereifrige und mindestens ebenso attraktive Sekretärin Tanja Hahn gewesen, hätte er es sicher noch einige Jahre mit ihr ausgehalten. Für mich ist bis heute nicht ganz klar, ob Mama sich immer weiter in die Spiritualität vertieft hatte, weil er sie verlassen wollte, oder ob er sie verließ, weil sie in seinen Augen den Bezug zur Realität verlor. Dabei bewies sie uns aktuell, dass sie offenbar viel realistischer war, als Vater und ich das für möglich gehalten hatten. Sie verdiente ganz offensichtlich gutes Geld mit ihrem esoterischen Hobby. Es wurde Zeit, dass wir uns mit ihrer Welt beschäftigten.

Zufrieden leckte Hermes sich das Mäulchen und sah mich erwartungsvoll an.

„Bist Du etwa nicht satt geworden?“.

Hermes setzte sich auf sein Hinterteil und legte seinen buschigen Schwanz dekorativ um den rötlich getigerten Körper. Wir sahen uns eine Weile an, ratlos und allein gelassen. Ich hatte selten eine solche Seelenverwandtschaft mit dem Tier empfunden. Da wurde mir klar, dass ich ihn mit zu mir nehmen musste, denn ich konnte wohl kaum jeden Tag zum Katzen-Sitting nach Grünwald fahren. Noch dazu jetzt, wo ich neben all den lächerlichen aber zeitaufwändigen Mandaten einen richtigen Mord zu bearbeiten hatte.

Lebenszeichen

Подняться наверх