Читать книгу Lebenszeichen - Ilse Wind - Страница 6
Оглавление4. Kapitel
Im Traum war mir seit mehr als zwanzig Jahren zum ersten Mal wieder meine Großmutter erschienen. Es war ein schöner Traum voller glücklicher Momente und mit der Botschaft, dass sie da war, um ihrer Tochter und mir zu helfen. Mit diesem beruhigenden Gedanken wachte ich auf und spürte den warmen kleinen Körper von Hermes auf meinem Bauch. Meine Gedanken wanderten zu meiner Mutter. Ich hatte sie gestern nicht besucht, obwohl ich wusste, wie übel es ihr ging, und ich im Moment die einzige war, die sie besuchen durfte. Ich musste zu ihr, egal welche Termine heute anstanden. Vorsichtig schlug ich die Bettdecke zur Seite und beobachtete meine pelzige Wärmflasche. Überrascht hob Hermes das Köpfchen. Wieso gestattete ich ihm eigentlich, in meinem Bett, schlimmer noch, auf meinem Bauch zu schlafen? Offenbar hatte ich seit Sonntag alle meine Prinzipien über Bord geworfen. In meinem Kühlschrank lag unterschlagenes Beweismaterial, in meinem Bett lag eine Katze und ich sprach mit meiner vor sechsundzwanzig Jahren verstorbenen Großmutter.
Hermes begann, sich die Pfoten zu lecken und nahm keine Notiz von meinem Wunsch aufzustehen. Also drehte ich mich zur Seite und er trollte sich. Ein Blick auf meinen Radiowecker unterstrich die Notwendigkeit, den Tag flott zu beginnen. Ich ging ins Bad, drehte die Dusche auf, damit das Wasser warm werden konnte, während ich mir die Zähne putzte. Es war mir unerklärlich, wie manche Menschen kalt duschen konnten. Mit der rotierenden Zahnbürste im Mund ging ich in die Küche, schaltete die Kaffeemaschine ein, füllte mit einer Hand Wasser nach und wählte eine starke Sorte Kaffee aus dem Sortiment bunter Kapseln. Zurück im Bad tauchte ich ein in den warmen Regen der Dusche. Ich hatte das Gefühl, es würde ein guter Tag werden.
Frisch gewaschen und mit gestylten Haaren betrachtete ich mich zufrieden im Spiegel. Irgendwie sah mich eine ganz neue Daniela an. Rein äußerlich hatte sich nichts verändert: ich war noch immer eins sechsundsiebzig groß, war mit zweiundsechzig Kilo durchaus an der untersten Grenze meines Gewichts, hatte brünettes, langes Haar, das ich meist zu einem Pferdeschwanz am Hinterkopf zusammenfasste und fand, dass ich mit meinen rehbraunen Augen zwar auf den ersten Blick wenig von der Schönheit meiner Mutter geerbt hatte, aber mich dennoch nicht allzu weit hinter ihr verstecken musste. Auch mein Vater hatte ein paar ganz gute Gene zu vergeben. Ich konnte es nicht genau definieren, weshalb ich den Eindruck hatte, dass eine Veränderung mit mir statt gefunden hatte. Die Gesichtszüge wirkten irgendwie etwas weicher – vielleicht. Es war etwas mit mir passiert. Trotz des irrwitzigen Drucks, der auf mir lastete, fühlte ich mich selbstbewusst und zufrieden. Im Flur brummte lautstark mein Handy. Es hing am Ladekabel und gab die Standardsignale von sich. Ein Blick auf das Display verriet mir den Anruf meines Vaters. Mit einem Schlag war mein gutes, zufriedenes Gefühl verschwunden. Ich zog den Stecker aus dem Apparat, drückte die grüne Taste und sagte möglichst überzeugend
„Guten Morgen, Dad.“
„Guten Morgen, Kleines. Ich hoffe, Du hattest triftige Gründe für Deine Absage gestern. Wie Du weißt, habe ich eine gut gehende Kanzlei. Es ist inakzeptabel, dass Du meine Termine über den Haufen schmeißt.“
Ich hörte seinen Vorwürfen eine Weile zu bis mir der Kragen platzte:
„Dad, es geht nicht um Dich! – Es geht um Mama. Mama sitzt unter Mordverdacht im Gefängnis – für einen Mord, den sie nicht begangen hat. Und die Polizei, der Staatsanwalt und die Presse jubilieren, dass sie eine C-Prominente an den Pranger stellen können. Darum geht es, Dad! Und wenn Du mir helfen willst, dann nicht mit Standpauken, sondern mit konstruktiven Vorschlägen. Also, wann kannst Du in meinem Büro sein?“
Das lange Schweigen am anderen Ende bedeutete mir, dass mein Vater mich mal wieder unterschätzt hatte und über eine gute Replik nachdachte. Es fiel ihm allerdings nicht mehr ein, als mir zu sagen, dass er sich unverzüglich auf den Weg in meine Kanzlei machte.
„Prima, dann sind wir ja schon zu zweit“, sagte ich und legte auf.
Den ganzen Weg dachte ich darüber nach, wie mein Vater auf all die Dinge reagieren würde, die aus einer ihm stets verschlossenen Welt in die Geschichte eingriffen. An der Ampel erhaschte ich einen Blick auf die Zeitungskästen mit den heutigen Schlagzeilen.
„Geistheiler in München ermordet.“
Jetzt hatten sie es also entdeckt, dass der Mord an Gabriel eine viel interessantere Komponente hatte, als nur die Verhaftung meiner Mutter. Jetzt würden sie mit ihren Recherchen beginnen, wer in die Sache verwickelt war. Erstaunlich, das sich bisher nur Michaela Wind und Professor Gerber gemeldet hatten. Doch solange ich das Terminbuch im Kühlschrank frisch hielt anstatt hineinzusehen, konnte ich über weitere Kandidaten nur spekulieren. Ich musste endlich anfangen, den Fall strategisch aufzubereiten. Bisher hatte ich mich nur von den Ereignissen treiben lassen. Geradezu sträflich, wie ich mit der Sache umging. Doch sicher würde mein Vater System reinbringen. Das ist seine Stärke. Im Sternzeichen Jungfrau geboren, ist mein Vater der Inbegriff der Ordnungsliebe. Ich kenne niemanden, der so wie er Vorgänge klar strukturiert und stets alle Gegenstände in seiner Umgebung im rechten Winkel zueinander legt. Wenn ich dagegen an das kreative Chaos im Büro meiner Mutter dachte, gab es wohl doch eine ganze Menge Dinge, die meine Eltern entzweit hatten.
Als ich die Kanzleitür aufschloss, kam mir neben dem schon vertrauten Stimmengewirr auch ein merkwürdiger Geruch entgegen. Die Iso-Matten auf dem Fußboden erklärten die Situation: die Kanzlei war zum Asylantenheim geworden. Klasse, das würde meinen Vater tief beeindrucken. Ich hielt mir die Hand vors Gesicht und überlegte kurz, ob ich das Gespräch mit Dad nicht ins Cafe verlegen sollte. Doch dafür war es vermutlich zu spät, es klingelte bereits an der Haustür. Egal, da musste er jetzt durch. Ich begrüßte Sonja und bat sie, alle Fenster aufzureißen. Sie strahlte mich an, drückte mir mit einem fröhlichen „Guten Morgen“ die Abendzeitung und eine Liste der gestrigen Anrufe in die Hand. Da waren sie, all die Namen, die ich in Mutters Terminbuch längst hätte lesen sollen. Diese Liternei dürfte wohl ausreichen, um ein ganzes Regiment an Zeugen für den Prozess aufmarschieren zu lassen. Nur war mir auch klar, dass die meisten Personen auf dieser Liste nur anriefen, um genau davor gefeit zu sein.
Ich setzte mich hinter meinen Schreibtisch und fuhr den Laptop hoch. Mein Vater sollte den Eindruck haben, dass ich bereits tief in Arbeit steckte. Warum eigentlich? Hatte ich ihm nicht vor einer halben Stunde richtig schön den Wind aus den Segeln genommen? Warum wollte ich jetzt wieder die brave Tochter sein? Da platzte er auch schon ins Zimmer. Nervös gestikulierend mit verzweifelt hoch gezogenen Schultern lief Sonja hinter ihm her und gab sich geschlagen, als mein Vater sich zu ihr umdrehte und ohne jede Höflichkeitsfloskel einen Kaffee orderte.
„Ja, sei so lieb, Sonja. Bring uns beiden – bitte - einen Kaffee!“ sagte ich betont freundlich.
Dennoch schloss Sonja die Tür etwas zu laut hinter sich.
„Du duzt dein Personal?“ bekam ich strafend als Begrüßung zu hören.
Ich ging um meinen Schreibtisch herum und umarmte meinen Vater. Er erwiderte die Geste und gab mir einen Kuss auf die Wange. Da offenbar merkte er, dass er seine Haltung für unser Gespräch etwas korrigieren musste. Seine Gesichtszüge wurden weicher und der Staranwalt wich dem liebenden Vater, der er im Grunde seines Herzens war.
„Eine schlimme Geschichte. Das hat Susanne nicht verdient“, sagte er leise und mitfühlend. „Wie kann ich Dir helfen?“ Unter meinen Augäpfeln begann es zu kribbeln, doch ich konnte die Tränen zurückhalten. Meine Hilflosigkeit wurde mir immer dann so brutal bewusst, wenn mir jemand seine Hilfe anbot. Ich hätte so gerne gesagt, er solle den Fall übernehmen und ich würde ihm zuarbeiten. Doch ich wusste, dass meine Mutter diese Konstellation nicht gutheißen würde. Außerdem war der Fall für mich eine enorme Reputation aufgrund des zu erwartenden Medieninteresses.
„Danke, Dad. Ich glaube, ich kann Deine Hilfe gebrauchen.“
Seine Gesichtszüge wurden wieder etwas härter und der Anwalt in ihm ergriff das Wort.
„Ich weiß ja aus der Zeitung mehr als von Dir. Das Ganze ist offenbar wieder so ein esoterischer Ausrutscher deiner Mutter. Kennst Du den Stand der Ermittlungen? Hast Du schon mit dem Staatsanwalt gesprochen?“
Ja, da waren sie, die Fragen, die ich mir selbst schon gestellt hatte. Versäumnisse an allen Ecken und Enden. Anstatt mit dem Staatsanwalt oder meiner Mutter zu sprechen, plauderte ich mit einer berühmten Schauspielerin, die mir ihre medialen Fähigkeiten offenbarte.
„Nein, ich bin gestern einer eigenen Spur nachgegangen, denn offenbar sind eine ganze Reihe prominenter Persönlichkeiten involviert. Der ermordete Heiler genoss hohes Ansehen in der Society.“
Mein Vater, der selbst gerne die einschlägigen Events wie Vernissagen, Premieren und Bälle besuchte, nickte. Selbst ihm war Gabriel de Santos ein Begriff.
„Ja, der Mann wurde als Geheimtipp weiter gereicht. Allerdings wusste ich nicht, dass ausgerechnet Susanne seine Managerin war.“
„Ich denke, Mutter war nicht die einzige, die seine Sitzungen organisierte. Sie war lediglich für die Münchener Termine zuständig“ gab ich zurück, da ich den Eindruck hatte, mein Vater sah in diesem „Management“ allein schon einen strafrechtlichen Vorgang.
„Das spielt ja keine Rolle. Hat Susanne irgendetwas gesagt, wer ein Interesse am Tod dieses Mannes haben könnte? Gibt es außer Susanne Bezugspersonen in Deutschland, die uns weiterhelfen könnten? Andere Manager, Verwandte, Freunde?“
Verdammt, mir wurde bewusst, dass ich bisher wirklich völlig naiv an die Sache rangegangen war. Ich konnte nicht verhindern, dass meine Augen einen Kleinmädchenblick annahmen. Offenbar wollte mein Vater mich genau da haben, wo ich jetzt war: Hilfe suchend, auf ihn angewiesen und demütig. Egal, wenn es dem Zweck diente.
„Ich stehe erst am Anfang meiner Recherchen.“
„Deine Recherchen in Ehren, Kleines, was hat die Polizei ermittelt?“ Da war es wieder, dieses Wort, das mich aus seiner Kanzlei getrieben hatte: „Kleines“
Ich richtete mich zu meiner ganzen Größe auf und versuchte, in meinem Innersten die Tochter gegen die Anwältin einzutauschen:
„Du hast Recht. Ich mache sofort einen Termin mit dem Staatsanwalt.“
„Ja, und dann sprich mit deiner Mutter. Sag ihr, dass ich ihr gerne helfe.“
In seinen Augen und seiner Stimme war eine gewisse Rührung zu erkennen.
„Sie soll dir alles sagen, was sie über Gabriel de Santos und sein Umfeld weiß. Es muss Menschen geben, die seinen Tod wollten. Das können ehemalige Patienten sein, das können Schulmediziner sein, das können Menschen sein, denen er Geld schuldet oder jemand, dem er die Frau ausgespannt hat. Die meisten Morde passieren wegen Geld, die zweit meisten wegen Eifersucht oder unerwiderter Liebe. Also frag deine Mutter, was sie weiß und natürlich, was sie der Polizei erzählt hat.“
„Mutter will die Patienten von Gabriel de Santos nicht nennen“ gab ich kleinlaut zu Bedenken.
„Das ist doch Blödsinn!“ rief mein Vater und sprang von seinem Stuhl auf. „Will sie einen Mord auf sich nehmen, um die Schickimicki-Gesellschaft vor ein bisschen Negativpresse zu schützen?“
Ich zuckte mit den Schultern, während mein Vater sich in Rage redete:
„Was haben diese Menschen zu befürchten? Sie waren bei einem Geistheiler – und? Wo ist das Problem? Das gilt doch sicher als schick. Oder haben sie alle so schlechte Erfahrungen mit diesem Mann gemacht, dass sie sich schämen müssen? Es kann ja wohl nicht angehen, dass Susanne für diese – ihre so genannten – Freunde den Kopf hinhält. Sag Deiner Mutter das!“
Er machte eine kurze Pause und ging in meinem Büro auf und ab.
Da fiel mir auf, dass Sonja bis jetzt den Kaffee nicht gebracht hatte und es auf dem Flur immer lauter wurde.
„Wenn Du Deine Mutter da rausholen willst, dann beweg Deinen süßen Hintern, mein Schatz und sag Susanne, dass sie einen verdammt guten Schutzengel braucht, wenn sie glaubt, sie könne Gabriels Patienten aus der Sache raushalten!“
In diesem Moment wurde die Bürotür aufgestoßen und Sonja stand mit einem Tablett und zwei Tassen Kaffee im Raum. „Entschuldige. Die Polizei hat gerade unser Asylantenheim geräumt“, sagte sie mit verlegenem Lächeln.
Im Hinausgehen griff mein Vater sich eine der beiden Kaffeetassen, leerte sie in einem Zug und stellte sie auf das Tablett zurück.
„Ich muss los, Kleines, Du weißt Bescheid.“
Hatte mein Vater tatsächlich das Wort „Schutzengel“ in den Mund genommen? Sicherlich mehr ironisch als dass er wirklich glaubte, jemand anderer als er könne Mama aus dem Gefängnis holen. Ich war da ebenfalls nur seine Marionette, die den Fall bearbeiten durfte, um dank der Publicity meine Karriere zu pushen. Leider war es ja tatsächlich so, dass ich bisher nur rumgestümpert hatte. Weder hatte ich am Sonntag bei der Vernehmung einen professionellen Eindruck gemacht noch war ich bei der Suche nach dem wahren Täter auch nur ansatzweise sinnvoll vorgegangen. Michaela Wind hätte weiß Gott warten können. Allerdings die Hilfe meiner Großmutter hätte ich ohne Frau Wind wohl kaum so deutlich wahrgenommen. Da war zum einen mein Vater mit seiner Strategie im Hier und Jetzt und zum anderen meine liebe Oma mit Hinweisen, die sie vielleicht von Gabriel aus der geistigen Welt beziehen konnte. Zwei wirkliche Helfer, wenn man beides zulassen wollte. Und so hilflos wie ich mich fühlte, ließ ich alles zu. Am einfachsten wäre es natürlich, Gabriel würde selbst seinen Mörder benennen. Aber ganz so gottergeben konnte ich dann doch an die Sache nicht herangehen. Obwohl ich vor kurzem gelesen hatte, dass in Brasilien Botschaften aus der geistigen Welt von anerkannten Medien empfangen, notariell protokolliert und bei Prozessen zugelassen werden. Doch davon waren wir in Deutschland weit entfernt. Ich musste meine Verteidigung schon auf handfeste Beweise stützen.
Sonja machte mir einen Termin beim Staatsanwalt und einen Besuchstermin bei meiner Mutter. Dafür, dass sie erst im zweiten Lehrjahr war, kämpfte sie sich tapfer durch solche Aufgaben. Sie war ein echter Glücksgriff von Martin gewesen. Der hatte aus einem Stapel von Bewerbungen Sonja rausgezogen. Sie war zuvor schon in einer anderen Kanzlei gewesen und wollte dort weg. Genau war nicht herauszuhören, was der Grund für ihren Wunsch zu wechseln war. Aber unterschwellig glaubte ich aus ihren Worten zu entnehmen, dass der Chef sie angebaggert hatte. Und so wie sie Martin beim Vorstellungsgespräch taxierte, wollte sie auf Nummer Sicher gehen, dass ihr das nicht wieder passierte. Als Martin ihr unsere goldene Büroregel nannte, schien sie beruhigt zu sein. Bisher hatte Martin sich ja auch an die Regel gehalten und nachdem ich ihn seit drei Tagen nicht mehr gesehen hatte, glaubte ich, dass er und ich seine Annäherungsversuche der vergangenen Woche wieder vergessen konnten. Akuter sexueller Notstand mag sein Balzen ausgelöst haben. Sicher hat er zwischenzeitlich irgendeine alte Liebe aufgewärmt oder etwas Neues gefunden. Es war mir auch so egal, weshalb er mich in Ruhe ließ. Nicht egal war mir jedoch, dass er mich offenbar ganz ignorierte. Daher bat ich Sonja, für morgen früh eine Kanzleibesprechung anzusetzen.
Bevor ich mich auf den Weg zum Staatsanwalt machte, ging ich die Namen der gestrigen Anrufer durch. Es las sich wie die Gästeliste einer Filmpremiere; der Mannschaftsarzt des hiesigen Fußballvereins war ebenso dabei wie die Hamburger Modeschöpferin, die Frau eines Formelpiloten und eine Reihe bekannter Schauspieler. Sie hatten sich gestern alle gemeldet, aber keiner hatte eine Telefonnummer hinterlassen, um zurück gerufen zu werden. Nur hinter einem Namen, der mir nichts sagte, stand eine Rufnummer. Das weckte meine Neugier. Es meldete sich eine Sofia Ragalli, die sofort in Tränen ausbrach, als ich meinen Namen sagte. Unter Schluchzen und mit einem undefinierbaren Akzent stotterte sie ihre tiefe Trauer über Gabriels Tod heraus. „Gott ist groß“, sagte sie immer wieder und ich hatte den Eindruck, dass sie sich jedes Mal bekreuzigte, wenn sie das sagte. Allmählich wurde mir klar, dass Sofia Ragalli die Putzfrau war, die Gabriel in der Nacht zum Sonntag gefunden hatte. Offenbar war sie auch selbst Patientin von Gabriel gewesen. Ich fragte sie, ob sie bereit sei, sich mit mir zu treffen, und sie stimmte sofort zu. Da sie kleine Kinder hatte und in den Abendstunden meistens putzen ging, lud ich sie für morgen Mittag zu mir ein.
Das Büro des Staatsanwalts konnte ich von der Kanzlei aus zu Fuß erreichen. Dennoch war ich wegen des Telefonats mit Sofia etwas spät dran. Während ich die Nymphenburger Straße entlang lief, kämpfte ich gegen einen rauen Wind und eisige Kristalle, die wie Nadelspitzen gegen mein Gesicht prasselten. Ich redete mir selbst gut zu, um diese winterlichen Strapazen nicht als schlechtes Omen zu deuten. Nicht alles, was mir seit Sonntag passierte, hatte esoterische Wurzeln. Es war eben Winter und es war eben kein Spaziergang, sich mit dem Staatsanwalt zu treffen, der die eigene Mutter für eine Mörderin hielt. Das Gebäude des Amtsgerichts war wohl temperiert und das Büro von Dr. Schnell leicht zu finden. Ich musste einen Moment vor seiner Tür warten und ging den kahlen Flur auf und ab. Als hinter mir eine Männerstimme meinen Namen rief, drehte ich mich um. Ich sah in ein paar stahlblaue Augen in einem offenen, freundlichen Gesicht, umrahmt von dunklen, kräftigen Haaren, die vermutlich nur schwer zu bändigen waren. Dr. Schnell war Mitte dreißig, fast einen Kopf größer als ich und streckte mir die Hand entgegen. „Wie schön, Sie kennen zu lernen“, begrüßte er mich und ich zweifelte daran, den richtigen Gesprächspartner vor mir zu haben. „Dr. Schnell?“ fragte ich mit leicht geneigtem Kopf und ebenfalls ausgestreckter Hand.
„Ja, kommen Sie herein. Ich bin ja erschüttert, was ihre Mutter getan hat.“
Diese Formulierung bereinigte meine Zweifel und ich ließ mich nicht länger von seinen Husky-Augen irritieren.
„Meine Mutter hat nichts getan. Sie ist unschuldig, und wenn die Polizei richtig ermitteln würde, wüssten sie das auch.“
„Na, nun mal nicht so feindselig. Ohne Beweise säße ihre Mutter wohl kaum in Untersuchungshaft.“
„Ich denke, dass die Beweise sehr dünn sind, aber sie können mich ja eines Besseren belehren.“
Ich stand unschlüssig vor seinem Schreibtisch, auf dem sich in sympathischer Unordnung eine Vielzahl von Papieren stapelte. Irgendwie hatte Dr. Schnell es geschafft, dem spröden Charme seines Amtszimmers eine persönliche Note zu verleihen. An den Wänden hingen in dezenten Rahmen Gemälde von Miro, deren einheitliche Größe darauf schließen ließ, dass es sich um die Kalenderbilder eines früheren Jahres handelte. Auf dem Sideboard standen schmucklose Glasrahmen mit Kinderzeichnungen darin, so dass ich sicher war, einen jungen glücklichen Vater vor mir zu haben. Er deutete mit einer Handbewegung an, dass ich mich auf den Stuhl neben seinem Besprechungstisch setzen sollte. Die Akte auf dem Tisch schien mir nicht besonders dick zu sein. Die Aufschrift „Strafakte Stolz“ allerdings gab mir einen deutlichen Stich. Er setzte sich neben mich und begann in der Akte zu blättern.
„Halten sie es für eine gute Idee, die Verteidigung ihrer Mutter selbst zu übernehmen“ konfrontierte er mich mit einer Frage, auf die ich trotz meiner eigenen Zweifel nur empört reagieren konnte.
„Haben Sie eine bessere?“
„Nun, ich denke, es…“
„Es wäre besser, wenn mein Vater den Fall übernähme?“ unterbrach ich ihn gereizt.
„Oh, nein. Das wäre sicher die schlechteste Lösung. Der Fall hat genug medienwirksame Komponenten. Ich denke viel mehr daran, dass sie emotional zu stark involviert sind.“
„Sie sind um mein Seelenheil besorgt?“ fragte ich mit leicht spöttischem Unterton.
„Könnte man so sagen. Es hat schließlich einen Grund, warum ein Polizist niemals in einer Sache ermitteln darf, in die ein Familienangehöriger involviert ist. Das gibt einfach zu viele Konflikte.“
„Ich habe zwei sehr gute Kollegen in der Kanzlei. Wenn mir die nötige Distanz fehlt, werde ich auf deren Rat zurückgreifen. Lassen Sie uns zu den Ermittlungen kommen“ sagte ich mit möglichst neutralem Ton in der Stimme.
„Nix für ungut, pflegen wir in Bayern zu sagen“ meinte Dr. Schnell und schlug die Akte auf. „Im Internet konnte ich ja eine ganze Menge über Gabriel de Santos finden.“
Bingo! Da war wieder der Beweis dafür, dass ich meinen Job mehr als dilettantisch erledigte. Bisher hatte ich nicht einmal die öffentlich zugänglichen Fakten über den Toten recherchiert. Ich war wohl wirklich nicht die geeignete Verteidigung für meine Mutter.
„Diese Daten sind ihnen ja sicherlich selbst bekannt. Erstaunlich ist, dass es keine Anhaltspunkte dafür gibt, wann und wo dieser Mann in Deutschland aufgetreten ist. Trotz Internet werden die Informationen wohl nur auf dem direkten Wege, also persönlich von Menschen wie ihrer Mutter, weiter gegeben.“
„Ich bin zu dem gleichen Ergebnis gekommen“ log ich.
„Umso wichtiger wäre es, dass ihre Mutter die Namen der Seminarteilnehmer benennt. Es macht doch keinen Sinn, dass sie sich mit der Sache selbst belastet und andere schützt. Ich habe hier die Aussage ihrer Mutter, die sie ja kennen und die Aussage der Seminarteilnehmerin Claudia Freidank, auf die sich im Wesentlichen die Anklage stützt. Frau Freidank behauptet allerdings ebenfalls, dass ihr die Namen der anderen Seminarteilnehmer unbekannt seien. Ihre Mutter muss Aufzeichnungen über die letzten Tage vor dem Mord haben und natürlich eine Datei oder ein Adressbuch. Doch darüber schweigt sie und die Polizei hat nichts Derartiges im Haus ihrer Mutter gefunden.“
Es war mir nicht besonders wohl in meiner Haut und so zuckte ich nur mit den Schultern.
„Ich habe meine Mutter seit Sonntag nicht mehr gesprochen, allerdings morgen bin ich bei ihr. Vielleicht erfahre ich da etwas mehr.“
„Denken sie nicht, es wäre besser, wir würden kooperieren? Sie wissen doch, wo ihre Mutter die Aufzeichnungen hat.“ Er sagte diese Worte mit einem verführerischen Schmelz in der Stimme, als ob wir seit Jahren ein freundschaftlich eingespieltes Team wären und gab mir gleichzeitig zu verstehen, dass er mir kein Wort glaubte.
Ich spürte wie mir das Blut in den Kopf stieg und zweifelte einmal mehr an meiner Kompetenz. Dennoch blieb ich bei meiner Haltung und bemühte mich um einen möglichst unschuldigen Gesichtsausdruck. Dabei machte ich den Fehler, ihm genau in seine Augen zu sehen und der Boden unter meinen Füßen begann zu wanken. Ich schrieb diesen Schwindelanfall meiner Lüge zu, denn es konnte wohl nicht angehen, dass mich diese Augen so hypnotisierten. Auf sein Gesicht flog ein Lächeln und er streckte die Hand nach meinem Arm aus. „Ist ihnen nicht gut?“
Um seiner Geste zu entgehen, lehnte ich mich rasch zurück und massierte mit beiden Händen meine Schläfen. „In der Tat, mir wird etwas übel. Haben sie einen Schluck Wasser?“
Er sprang auf und ging zu seinem Schreibtisch, wo eine schlichte Karaffe und mehrere Gläser auf einem silbernen Tablett standen. „Natürlich, entschuldigen sie, wie unaufmerksam.“ Er schenkte ein Glas ein und brachte es mir. „Denken sie noch einmal darüber nach, den Fall einem ihrer Kollegen zu überlassen.“
Als ich das Glas nahm, berührten sich unsere Hände und mir wurde klar, dass der Schwindel nicht allein durch meine Lüge hervorgerufen worden war. Was machte mich plötzlich so anfällig für die Signale der Männer? Erst Ali, jetzt Dr. Schnell und dabei hatte ich doch wirklich andere Probleme, als mich mit Amouren zu beschäftigen.
Ich trank und atmete tief durch, um wieder Herr meiner Sinne zu werden.
„Ich werde über ihren Rat nachdenken. Aber ich glaube, meine Mutter baut darauf, dass ich sie verteidige.“
Dr. Schnell setzte sich wieder zu mir an den Tisch und blätterte weiter in seinen Unterlagen.
„Kann ich mir eine Kopie ziehen?“ fragte ich und deutete auf die Akte.
„Das ist ihr gutes Recht. Ich wünschte, ich könnte mir auch Kopien von ihren Unterlagen ziehen“, sagte er mit einem unwiderstehlichen Lächeln.
„Es gibt nichts, was sie nicht besser wüssten als ich. Was ist zum Beispiel mit dem Geld, um das sich meine Mutter mit Gabriel gestritten haben soll? Haben Sie es bei Gabriel gefunden?“
Er blätterte in den Aufzeichnungen und meinte, dass man einen Aktenkoffer mit Gabriels persönlichen Dingen, einen Laptop und rund dreitausend Euro in den Praxisräumen sichergestellt habe. „Den Laptop werten die Kollegen gerade aus“.
„Liegt das Obduktionsergebnis schon vor?“ fragte ich und wurde von dem Läuten seines Telefons unterbrochen. Gerade jetzt, da ich meine Fassung wieder gefunden hatte und richtig los legen wollte, klingelte dieses blöde Telefon.
Schnell sah mich mit leicht verlegener Mine an und entschuldigte sich
„Es ist vermutlich wichtig, denn ich hatte gesagt, dass ich nicht gestört werden will.“ Er ging zu seinem Schreibtisch.
„Kein Problem“, flötete ich gönnerhaft, als ob mir diese Großzügigkeit das Gefühl der Überlegenheit geben könnte.
„Schnell, was gibt’s?“ fragte er knapp in den Hörer. Seine Gesichtszüge verdunkelten sich. Er drehte sich zum Fenster, dass ich ihn nur noch von hinten sah. Seine Stimme wurde leise. „Gibt es dafür eine Erklärung? – Wie ist das möglich?“
Er fühlte sich durch meine Anwesenheit ganz offensichtlich gestört.
„Ich rufe in einer Minute zurück“.
Er wandte sich mir wieder zu und legte auf. Offenbar überlegte er, wie er mich loswürde. „Mögen Sie sich in der Zwischenzeit ihre Kopie ziehen? Ich habe ein wichtiges Telefonat zu führen.“
Er stockte und sah mich mit seinen blauen Augen eindringlich an.
„In einer anderen Sache“, schob er nach.
Bereitwillig schnappte ich mir die Akte und ging hinaus. Letztlich standen die Antworten auf meine Fragen ja alle in der Akte. Ich würde das Gespräch also nicht fortsetzen müssen. Dennoch interessierte mich, welche Nachricht er offenbar gerade über das Telefon bekommen hatte. Ich war sicher, dass es unseren Fall – nein meinen Fall – betraf.