Читать книгу Lebenszeichen - Ilse Wind - Страница 4
Оглавление2. Kapitel
Schon im Treppenhaus hörte ich lautes Palaver aus unseren Kanzleiräumen im zweiten Stock dringen. Vorsichtig öffnete ich die Tür und befand mich auf einem türkischen Bazar. Der lange Flur, an dessen Ende mein Büro lag war von Frauen mit Kopftüchern und Männer mit Perlenschnüren bevölkert. Ich konnte vor lauter Menschen nicht einmal unsere Empfangstheke sehen, für die wir zur Kanzleieröffnung richtig investiert hatten. Damals waren Martin, Ali und ich uns einig gewesen, die Theke ist die Visitenkarte der Kanzlei und muss Eindruck machen. Daher hatten wir eine zeitlose Designertheke von einem nahe gelegenen Einrichtungshaus aufbauen lassen. Nur im Moment war sie beim besten Willen nicht zu erkennen. Die Menschenmasse war mit Blicken nicht zu durchdringen. Aber auf meinen freundlichen Gruß hin, bildeten die arabisch anmutenden Gestalten eine kleine Gasse, damit ich die Theke erreichen konnte, hinter der Sonja, unsere angehende Rechtsanwaltgehilfin ihren Dienst mit großer Hingabe tat.
„Feiert Ali ein Familienfest?“ fragte ich. Sonja lächelte mich mitleidig an, überreichte mir eine zusammengefaltete Tageszeitung und einen Notizzettel mit der Telefonnummer meines Vaters.
„Guten Morgen, Daniela. Du sollst ihn sofort anrufen. Wenn er in einer Besprechung ist, lass ihn rausholen. Es ist wichtig.“
Das hatte sich ja schnell rum gesprochen. Ein Blick auf die Zeitung erklärte die Dringlichkeit. Da stand ziemlich genau das, was ich mir gestern vorgestellt hatte: Susanne Stolz verhaftet: Mord? Offenbar gehörte meine Mutter doch so sehr zur Münchener Schickeria, dass ihr Name allein die Schlagzeile rechtfertigte. Der Bezug zu ihrem prominenten Gatten war gar nicht nötig. Das Fragezeichen hinter Mord gab mir eine kleine Beruhigung. Noch war sie nicht verurteilt. Auch nicht in der Öffentlichkeit.
Während ich in mein Büro ging, läutete mehrmals das Telefon und ich hörte, wie Sonja immer wieder beteuerte, dass ich noch nicht im Haus sei. In der Zeit, in der ich mit Hermes das Bett geteilt hatte und nach langem Grübeln in tiefen Schlaf gefallen war, hatte die Story enorme Wellen geschlagen. Der Artikel in der Abendzeitung zeigte mir, dass sich der Presse die Hintergründe noch nicht offenbart hatten. Man konzentrierte sich vorwiegend auf ein Mitglied der Münchener Society, das unter Mordverdacht stand. Zwar war von dem Brasilianer Gabriel de Santos als Opfer die Rede. Aber welche Bedeutung diesem Mann zukam, wusste man offenbar nicht. Geschrieben wurde etwas über einen Freund der Familie Stolz aber mit Recherchen hatte sich ganz offensichtlich niemand aufgehalten. Dabei hätte es vermutlich genügt, den Namen in die einschlägigen Internetsuchmaschinen einzugeben, um der Geschichte eine wirklich spektakuläre Wendung zu geben. Für eine Titelstory reichte es allerdings aus, dass meine Mutter einen Freund der Familie ermordet hatte. Bis zum Redaktionsschluss waren die Hintergründe nicht zu ermitteln gewesen. Allerdings stand da, dass nicht der prominente Ehemann der Verdächtigen sondern ihre Tochter Daniela die Verteidigung übernommen hatte. Das musste meinen Vater ins Mark erschüttert haben. Ich griff zum Hörer und wollte seine Nummer wählen. Die lauter werdenden Flurgeräusche verrieten mir, dass sich meine Bürotür geöffnet hatte. Sonja hielt eine Tasse Kaffee in der Hand.
„Soll ich Dich mit Deinem Vater verbinden?“
Dankbar hielt ich ihr den Notizzettel entgegen. Für ein so junges Ding hatte sie ganz schön viel Grips und Gespür.
„Ich hab die Nummer“, sagte sie lächelnd im Hinausgehen. „Willst Du anschließend mit Frau Wind sprechen?“
An meinem Blick musste Sonja erkennen, dass ich mit dem Namen im Moment nichts anfangen konnte. Dennoch verschwand sie ohne meine Antwort abzuwarten. Meinte sie Michaela Wind, die Schauspielerin, die vor kurzem ihr spirituelles Coming-out gehabt hatte und seither über ihre Jenseitskontakte in den diversen Talk-Shows plaudert? Ab jetzt war wohl alles möglich.
Das Telefon summte und Sonja kündigte mir meinen Vater an. Er fand es albern, dass ich mich hinter einer Sekretärin verschanzte, kam aber sofort zum Thema:
„Selbstverständlich übernehme ich Susannes Verteidigung.“
Meine Contenance überraschte mich selbst:
„Da wird Mama sich sehr freuen, wenn Du mir bei der Sache hilfst, aber ich glaube, sie möchte, dass ich den Fall zu Ende bringe. Ich möchte sie ungern enttäuschen. Außerdem ist Strafrecht...“ ich macht eine kurze Pause, „doch nicht Dein Gebiet.“
Beinahe hätte ich ihn mit seinem Lieblingssatz „Strafrecht ist unter Deiner Würde“ zitiert. Doch das konnte ich mir in letzter Sekunde verkneifen. Für meinen Vater gab es ehrenhafte Rechtsgebiete und solche, um die sich die Idealisten der Juristerei kümmern sollten. Wir vereinbarten für den Nachmittag einen Termin in meinem Büro, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Dem wollte ich mich nicht verschließen, denn alles, was Mama helfen würde, musste ich unternehmen. Nur eines war mir klar, Dr. Elmar Stolz hatte keine Freunde bei der Staatsanwaltschaft. Auf diese Karte konnte ich nicht setzen.
Ali steckte den Kopf durch die Tür.
„Alles klar?“
Der Spruch war einen Lacher wert, doch ich gestattete mir nur ein gequältes Grinsen.
„Komm rein und erklär mir bitte, was da draußen abgeht.“
„Aufenthaltsprobleme, was sonst“, sagte er gelassen und schloss die Tür hinter sich. Sein Blick fiel auf die Zeitung und er sah mich entsetzt an.
„Das ist doch Deine Mutter?“
Dieser Satz öffnete bei mir die Schleusen und ich brach in Tränen aus. Bis hierhin hatte ich das alles wie ferngesteuert erledigt und die Sache als eine zu lösende Aufgabe empfunden, aber Alis Entsetzen und sein Mitgefühl gaben mir den Mut, meinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Er legte seinen Arm um mich und zog ein frisch gebügeltes Stofftaschentuch aus seiner Hosentasche. Zärtlich betupfte er meine Wangen und Augenlider und hielt das blütenweiße Tuch mit den Initialen AY vor mich hin, bis ich es nahm. In diesem Moment wahr mir klar, dass ich für den Fall einen Verbündeten brauchte und dass dieser nicht mein Vater sein konnte. Martin schied aus, weil er in letzter Zeit die wichtigste Büroregel missachtete. Aber Ali mit seinem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und der Liebe zu seinen Mitmenschen würde vielleicht sogar Zugang haben zu den Mächten zwischen Himmel und Hölle, die hier vermutlich im Spiel waren.
Ich sah Ali in seine fast schwarzen Augen in dem leicht olivfarbenen, schmal geschnittenen Gesicht. Der Dreitagebart war mir noch nie aufgefallen, sein dunkles, kräftiges Haar schimmerte leicht bläulich. Sein starker Arm lag schwer aber wohltuend auf meiner Schulter. Ich erschrak, dass ich offenbar ganz plötzlich den Mann in Ali entdeckte und gab ihm sein Taschentuch zurück. Er legte es auf meinen Schreibtisch und setzte sich mir gegenüber auf den Stuhl.
„Kann ich dir helfen?“
So sehr ich mir diese Frage gewünscht hatte, so sehr entkräftete sie mich auch. Ich nahm das Taschentuch wieder auf und verdeckte damit mein Gesicht. Wie gerne hätte ich mich ganz hinter dieser weißen Fahne als Zeichen meiner Kapitulation verschanzt. Noch hatte ich nicht mit dem Fall begonnen und schon glaubte ich, gescheitert zu sein. Ich war emotional viel zu stark involviert, um einen klaren Gedanken zu fassen. Wieder spürte ich Alis warme Hand an meinem Arm und ich hob den Kopf hinter meiner Deckung.
„Meinst du, du kannst mir helfen?“
„Wenn du mich lässt“, sagte er leise.
Das Telefon beendete meinen kleinen Schwächeanfall. Als solches wollte ich die letzten Minuten zumindest einstufen. Ich richtete mich auf, konzentrierte mich und nahm den Hörer ab.
„Michaela Wind will Dich unbedingt sprechen“, drang es an mein Ohr.
Die Ehrfurcht in Sonjas Stimme war nicht zu überhören. Ich hielt die Sprechmuschel zu und überlegte kurz. Es war wohl besser, Ali hinauszuschicken, denn sein Mitgefühl schwächte mich und das wollte ich nicht länger zulassen.
„Ich bring dir dein Taschentuch später vorbei“, sagte ich mit gefasster Stimme. Es war eine dämliche Formulierung für einen Rauswurf, aber mir fiel nichts Besseres ein. Brav stand er auf und ging zur Tür.
„Ali?“
Er drehte sich noch einmal um und sah mich fragend an.
„Danke!“
Er verließ den Raum, während ich mir die berühmte Schauspielerin durchstellen ließ. Ihre Stimme war unverkennbar und ich konnte mich nicht dagegen wehren, ihr durch meine aufrechte Haltung ein gewisses Maß an Bewunderung zu zollen. Sie war bestürzt über den Tod von Gabriel, den sie als ihren Freund bezeichnete. Sie hatte stets seine karitative Arbeit in Brasilien unterstützt und war seit Jahren seine Patientin gewesen. Ich war erstaunt, wie offen sie mit mir sprach und folgte gerne ihrer Bitte um ein persönliches Gespräch. Offenbar kannte sie auch meine Mutter seit vielen Jahren und sie wollte mir Dinge erzählen, die mir vielleicht helfen könnten.
Kaum hatte ich aufgelegt, kündigte mir Sonja das nächste Gespräch an. Diesmal war es der Schönheitschirurg Professor Gerber. Kurze Zeit überlegte ich, ob es nicht besser war, erst das Terminbuch zu studieren, um auf die Telefonate besser vorbereitet zu sein. Doch dann nahm ich das Gespräch entgegen. Auch Professor Gerber lud mich zu sich an den Starnberger See ein. Es sei ihm wichtig, dass der Name Gerber nicht mit Gabriels Tod in Verbindung gebracht würde aber es sei ihm ebenso wichtig, diesen großartigen Heiler vor dem Spott der Medien und dem der Schulmediziner zu schützen. Daher sei in diesem Fall ein besonders diplomatisches Geschick vonnöten. Er drückte mir noch sein Bedauern darüber aus, dass meine Mutter in dieser schlimmen Situation sei. Auch er kannte Susanne gut und war sicher, dass hier die Falsche verdächtigt wurde. Er würdigte meine Mutter voller Zuneigung, so dass ich fast den Eindruck hatte, dieses Verhältnis ginge über das freundschaftliche ein wenig hinaus. Mein Gott, wie wenig wusste ich über meine Mutter?
Für das nächste Telefonat hätte ich Sonja gerne den Hals umgedreht, denn sie kündigte mir ein neues Mandat an: Helfried Sommer. Da ich mir zwar den Vorschuss für diesen Mordfall bereits aus dem Safe genommen hatte, aber auch wusste, dass die Kanzleimiete jeden Monat fällig wurde, wollte ich mich nun nicht generell gegen neue Mandate sperren. Dennoch sagte ich ganz offensichtlich etwas anderes als ich dachte:
„Gib ihn Martin!“
Doch Martin hatte gerade einen Mandanten bei sich und so landete Helfried Sommer bei mir. Der Fall war an Komik kaum zu übertreffen. Herr Sommer wollte den Blumenladen verklagen, bei dem er die Rosen für seine Geliebte geordert hatte. Die Rechnung für die Rosen war ihm zu Hause zugestellt worden und die Empfängerin darauf namentlich erwähnt. Daraufhin verließ Frau Sommer ihren Mann. In seinen Augen ist der Blumenladen schuld am Scheitern seiner Ehe. Und ich sollte Schadenersatz geltend machen. Widerwillig gab ich Herrn Sommer einen Termin in der kommenden Woche. Es gab so viel Wichtigeres im Moment und ich musste den Anfang des roten Fadens finden, der mich durch den Fall führen würde.
Ich klappte mein Laptop auf, um die anstehenden Termine in unser Planungssystem einzutragen. Doch noch bevor ich das Programm geöffnet hatte, wurde mir bewusst, dass ich Michaela Wind und meinem Vater denselben Termin gegeben hatte. Meine Gefühle hatten mich ganz schön durcheinander gebracht. Die Entscheidung, wem ich absagte, fiel mir leicht, zumal ich meinen Vater ohnehin nicht persönlich erreichte. Seine Sekretärin wollte einen zeitnahen Rückruf veranlassen. Ich hinterließ meine Handynummer, obwohl ich sicher war, dass mein Vater sie hatte. Warum hatte er eigentlich heute Morgen nicht auf dem Handy angerufen? Ich kramte danach in meiner Handtasche und sah, dass der Akku leer war. Klasse! Wie dämlich kann man eigentlich sein? Obwohl, eigentlich war es eine glückliche Fügung, meinem Vater nicht unvorbereitet in die Hände gefallen zu sein.
Die Vorstellung, Michaela Wind persönlich kennen lernen zu dürfen, fand ich ungemein aufregend. Schon als ich ein Kind war, hatte ich sie in vielen Filmen bewundert. Sie war ungemein vielseitig und als sie vor ein paar Jahren feststellte, dass ihr Mann sie mit einer Jüngeren betrog, litt ich gewissermaßen mit ihr. Die gesamte Leserschaft der Yellow-Press zollte ihr Solidarität. Das half ihr vielleicht ein bisschen. Danach nannte sie sich „eine Suchende“, nicht im Sinne der Partnervermittlungen, sondern um sich selbst zu finden. Dabei hat sie wohl ihre esoterischen Neigungen entdeckt und stark ausgelebt. So zumindest schildert sie es gerne in den Talk-Shows.
Bis ich aus dem Haus musste, um Michaela Wind zu treffen, waren noch ein paar Minuten Zeit und ich überlegte, wie ich diese Zeit sinnvoll nutzen konnte. Mir fielen die Ratten im Hof eine und ein Blick in mein Planungssystem zeigte eine ganze Reihe von Aufgaben, die alle auf Erledigung warteten. Dennoch entschied ich mich für das Schreiben an die Hausverwaltung. Die geistige Visualisierung von Ratten in unserem Haus machte die Angelegenheit unheimlich brisant. Da fiel mir ein, dass ich Ali noch sein Taschentuch bringen wollte und so verschwanden die Ratten wieder von meinem Schirm. Ich fuhr meinen Laptop runter und legte mir die Handtasche und einen Block zurecht, um mir eventuell bei Michaela Wind Notizen machen zu können. Als ich schon im Hinausgehen war, fiel mein Blick noch einmal auf die heutige Zeitung. Da waren ein Bild von Michaela Wind und die Ankündigung, dass sie bald in einer völlig neuartigen Talkshow zu sehen sein würde. Ich steckte die Zeitung in meine Handtasche, um später den ganzen Artikel zu lesen. Als ich an Alis Bürotür klopfte, bekam ich keine Antwort. Ich öffnete vorsichtig und ging in sein Zimmer. Zum ersten Mal fiel mir auf, dass ich mich nie mit der unterschiedlichen Gestaltung unserer Räume beschäftigt hatte. Beim Einzug hatten wir uns darauf verständigt, dass jeder sein Zimmer individuell gestalten könne, lediglich der Empfang und das Besprechungszimmer sollte eine harmonische Einheit sein. Die schweren altenglischen Holzmöbel bei Ali erinnerten an das königlich bayerische Amtsgericht oder ein Notariat im Stile der siebziger Jahre. Ich glaubte mich zu erinnern, dass Ali diese Möbel als Honorar von einem Mandanten bekommen hatte. Das war wohl das einzige, was dieser aus seiner Insolvenz noch zur Verfügung hatte. Dennoch hätte ich die schweren Teile lieber verkauft, als mich täglich davon im Büro erschlagen zu lassen. Aber vielleicht gefiel Ali diese Dominanz seiner Möbel. Vielleicht entsprach ich ja mit meiner femininen hellen Einrichtung ganz und gar nicht dem Bild einer Anwältin. Ich setzte mich auf den mit dunklem, hartem Leder bezogenen Besucherstuhl an Alis Schreibtisch, weil ich davon ausging, dass er nur kurz den Raum verlassen hatte. Doch nach fünf Minuten beschloss ich, zu gehen. Michaela Wind wartete. Auf meinem Weg durch den noch immer dicht bevölkerten Flur erfuhr ich von Sonja, dass Ali mit einem Mandanten im Besprechungszimmer sei.