Читать книгу DSA: Die Löwin von Neetha Sammelband - Ina Kramer - Страница 10
Оглавление4. Kapitel
Acht Monde und neun Tage waren ins Land gegangen, seit Zordan Fuxfell Brelak verlassen hatte: Am siebenundzwanzigsten Peraine war er davongeritten, und inzwischen war es Hesinde geworden, der 6. Hesinde. Damilla wußte das deshalb so genau, weil sie die Tage gezählt hatte. Sie hätte auch sagen können, wie viele Stunden mehr als acht Monde und neun Tage es waren – vier und eine halbe nämlich –, aber wem hätte sie das erzählen sollen, wer wollte das wissen?
Langsam und schwerfällig schritt sie den staubigen Weg zum Gutshaus entlang. Ja, es hatte lange nicht geregnet, so war es letztes Jahr um diese Zeit auch gewesen. Da war das kleine Fräulein noch selig im Bauch der Herrin geschwommen, und nun machte es schon die ersten wackligen Schritte. Die letzten acht Monde waren nicht sehr schön gewesen, dachte sie, oder doch? Damilla dachte nach, während sie beobachtete, wie ihre Strohschuhe den kalten Staub aufwirbelten. Also, der Ingerimm: Da hatte es überraschend viel geregnet, aber dem Herrn war das recht gewesen. »Wenn nur der Rahja nicht auch noch verregnet«, hatte er gesagt, »das wäre nicht gut.«
Und dann, Ende Ingerimm, an einem schönen warmen Tag um die Praiosstunde – sie entsann sich deshalb so gut, weil ihr gerade an diesem Tag zum erstenmal ganz übel und benommen wurde von den Dünsten, die aus der Küche drangen – hatte der Herr das ganze Gesinde im Hof versammelt, und alle hatten sie sehr fromm und schön zu der guten Frau Peraine gebetet, ihr gedankt für all die guten Gaben und ihren Segen erfleht für die kommende Ernte. Und gesungen hatten sie auch: »Peraine, güt’ge Nährerin, du Mutter ohnegleichen, dir folge ich mit Herz und Sinn, von dir will ich nicht weichen.«
Damilla summte die Weise vor sich hin, während sie zusah, wie ihre Strohschuhe und die nackten Füße allmählich immer dichter von einer blaßbraunen Staubschicht überzogen wurden.
Und dann war der Rahja gekommen, und es war so sonnig geblieben wie Ende Ingerimm – da waren also die Gebete erhört worden, denn das Korn stand gut, und die Tomaten waren schon größer als Kastanien, allerdings noch grün. Und Mitte Rahja hatte Hilgert sie einmal dabei ertappt, wie sie hinter dem Pferdestall das Frühstück wieder von sich gegeben hatte, obwohl sie sich doch sosehr bemüht hatte, ihre Unpäßlichkeit vor allen zu verbergen, und er hatte sie so grimmig angeschaut wie immer und gesagt: »Armes Kind, du solltest zu Danja gehen; vielleicht kann sie dir helfen.« Das hatte sie dann auch getan, denn mit irgend jemandem mußte sie sich einmal aussprechen über die seltsamen Vorgänge in ihrem Körper. Zur Herrin konnte sie nicht gehen – die war zu streng und unnahbar. Und was hätte sie ihr auch sagen sollen? Daß es ihr morgens oft im Magen rumorte? Daß es das letzte Mal ausgeblieben war? Mit so etwas geht man doch nicht zur Herrin! Und Titina sitzt immer die Hand so locker, wenn man ungeschickt ist und etwas fallen läßt. Und Witwe Westfahr ist mit dem kleinen Fräulein beschäftigt und hat für dumme Fragen keine Zeit. Und zur Mutter gehen, nach Shilish, das ist doch viel zu weit …
Da war sie also mit sieben Hellern zu Danja gegangen und hatte ihr alles erzählt, und Danja hatte gelacht und ihr erklärt, daß es gar keine Krankheit sei, sondern von der Liebe komme, worüber Damilla sehr froh gewesen war. Ja, damals, am 18. Rahja war sie wirklich froh und glücklich gewesen! Danja hatte auch sehr freundlich mit ihr gesprochen und ihr ein Stück Zuckerkuchen geschenkt und auch zwei Beutelchen mit Kräutern in die Tasche gesteckt. »Den Silbertaler kannst du mir später geben, wenn du etwas gespart hast«, hatte sie gesagt. Die eine Kräutermischung war gegen die morgendliche Übelkeit und die andere dafür, das Kind aus ihrem Bauch zu vertreiben.
Damilla hatte sie gar nicht nehmen wollen, aber Danja hatte darauf bestanden. »Überleg es dir, Mädchen«, hatte sie gesagt, »du bist sehr jung und hast kein Geld – wer soll für das Würmchen sorgen? Noch hast du Zeit, zehn Praiosläufe lang kannst du noch darüber nachdenken, aber dann ist es zu spät. Hörst du mir auch zu, Kind? Nach zehn Praiosläufen ist es zu spät! Wenn du den Tee nach dieser Frist trinkst, kannst du sehr krank davon werden und vielleicht verbluten!«
Und dann hatte sie ihr den Beutel wieder abgenommen und gemeint, Damilla könne ja innerhalb der nächsten zehn Praiosläufe vorbeikommen, wenn sie sich in diese Richtung entschieden hätte. Sollte sie sich aber anders entscheiden, so sei sie ihr auch kein Geld mehr schuldig, denn mit den sieben Hellern seien die Beratung und der Morgentee bezahlt.
Damilla mußte lächeln bei dem Gedanken an das Hin und Her mit dem Tee. Für sie war es gar keine Frage gewesen, und es gab auch nichts zu entscheiden. Was würde Frau Tsa wohl dazu sagen, wenn sie das Kind in ihrem Bauch ermordete? Und was würde erst der Magister Fuxfell sagen, wenn er erführe, daß sie sein Kind, nein, ihrer beider Kind ermordet hätte. Gewiß würde er sie von sich stoßen, und nie wieder dürfte sie ihm unter die Augen treten. Ihm unter die Augen treten, das war ja alles, wonach sie sich sehnte: ihn von Angesicht zu Angesicht zu sehen, seine Stimme zu hören und seiner Rede zu lauschen. Aber sie hatte ihn seit dem 27. Peraine nicht wiedergesehen und auch keine Nachricht von ihm erhalten, und so war sie im Laufe der Monde immer trauriger geworden. Am Anfang noch nicht – da war sie überglücklich gewesen, und auch Hilgerts Firunsgesicht konnte ihre Freude nicht vertreiben. »Da ich sehe, wie du dich entschieden hast – was gedenkst du nun zu tun, Kind?« hatte er sie begrüßt, als sie vom Dorf heimgekehrt war.
Aber das hatte sie sich ganz genau überlegt auf dem langen staubigen Weg von Danjas Kate zum Gutshaus. Seltsam, auch damals war der Weg so trocken gewesen, und auch damals hatte sie während des Nachdenkens beobachtet, wie ihre klobigen Pantinen den Staub aufwirbelten und er mit der Zeit Füße und Fesseln umhüllte wie gelbliche Socken. Im Sommer war er irgendwie heller und gelber, fand Damilla. Aber zurück zu Hilgert, dachte sie.
»Ich will dem Herrn Magister Fuxfell einen Brief schreiben«, hatte sie sofort geantwortet. »Helft Ihr mir dabei, alter Mann? Ich gebe Euch auch einen Heller dafür.«
»So, du willst ihm schreiben, dann folge mir in meine Kammer, damit wir es hinter uns bringen. Dein Geld kannst du behalten«, hatte der Stallmeister gesagt und einen Bogen Pergament aus seiner Lade geholt, der vom vielen Schreiben und Abschaben, Schreiben und Abschaben schon ganz dünn geworden war. Damilla erinnerte sich noch ganz genau, wie verlegen sie geworden war, als sie dem alten Mann den Brief diktiert hatte, der doch in ihrem Kopf ganz klar und deutlich geschrieben stand, nun aber, da sie die Worte aussprach, so dumm und unbeholfen klang. Allein die Anrede! »Ehrenwerter Magister Fuxfell«, hatte sie gesagt, und Hilgert hatte grimmig gelächelt, als er es niederschrieb. Da wußte sie, daß es falsch war und nicht der Etikette entsprach, und hatte ihn gebeten, es besser zu machen.
Aber der Stallmeister hatte nur genickt und gesagt: »Es ist schon recht, Kind, fahr fort.«
Also hatte sie die Worte gesprochen, die sie sich auf ihrer Wanderung zurechtgelegt hatte: »Durch Eure Liebe und den Segen der Frau Tsa habe ich ein Kind empfangen. Ich bin sehr glücklich. Gewiß seid auch Ihr glücklich, dieses zu erfahren. Ich bitte Euch, kommt recht bald, denn ich sehne mich nach Euch. Die Eure, Damilla.«
»Vergiß nicht, der Herrin deinen Zustand zu melden«, hatte Hilgert gesagt, nachdem er den Brief gefaltet, adressiert, mit Wachs versiegelt und ihr überreicht hatte. Auch Danja hatte sie ermahnt, zur Herrin zu gehen, und so hatte sie sich also mit klopfendem Herzen zur Bibliothek aufgemacht, wo die Herrin einen ganz frisch aus Neetha eingetroffenen Folianten über Kriegskunst studierte, wie man ihr berichtet hatte. Warum sie eine solche Scheu vor der Herrin hatte, hätte Damilla nicht zu sagen gewußt. Die Herrin war zwar streng und genau, aber auch gerecht – darin war sich das Gesinde einig. Vielleicht liegt es an ihren kalten blauen Augen, die so selten lächelten, und wenn, dann meistens spöttisch, dachte sie.
Es war dann sogar noch schlimmer gekommen, als sie erwartet hatte. Was sie erwartet hatte, wußte sie nicht – vielleicht daß die Herrin sich auch ein ganz klein wenig freuen würde. Aber davon konnte keine Rede sein.
»So, da bist du also schwanger«, hatte sie nur gesagt, »und mein Halbbruder ist der Vater, hm … Und was nun?«
Aber Damilla wußte ja selber nicht, was nun, und auch nicht, was sie auf die Frage der Herrin hätte antworten sollen, und so hatte sie nur auf ihre Schuhspitzen geschaut und mit den Schultern gezuckt.
»Ja, denkst du, daß er dich zur Frau nimmt, Mädchen? Erwartest du das? Verlangst du das? Und schau mich doch an, wenn ich mit dir rede!« Dann hatte sie ärgerlich ihren Folianten zugeschlagen und war mit großen Schritten und auf dem Rücken verschränkten Armen im Zimmer auf und ab gegangen.
Damilla hatte insgeheim gehofft, daß die Herrin ihr im Vorüberschreiten übers Haar streicheln würde. Statt dessen fühlte sie sich unters Kinn gefaßt, das sie tief auf die Brust gesenkt hatte, und die Herrin zwang sie, ihr in die harten blauen Augen zu schauen.
»Ist mein Halbruder Zordan Fuxfell wirklich der Vater deines Kindes? Sag die Wahrheit, Mädchen!« hatte sie verlangt, und als Damilla nickte, hatte sie schweigend ihre Wanderung wieder aufgenommen. »Das sieht ihm ähnlich«, hatte sie gemurmelt. Dann war sie vor dem Bücherschrank stehengeblieben und hatte nach einer Weile einen in goldgeprägtes blaues Leder gebundenen Band herausgezogen, den sie beim Gehen zu studieren begann. »Also«, hatte sie nach einer Weile gesagt, »du bist eine Freie … Aber dennoch – die Ehe erzwingen kannst du nicht. Hat er dir die Ehe versprochen?«
Damilla hatte nur wieder den Kopf gesenkt und mit den Schultern gezuckt, denn sie verstand überhaupt nicht, wovon die Herrin sprach. Der Magister Fuxfell hatte von Liebe zu ihr geredet, und sie liebte ihn auch, aber das konnte sie der Herrin doch nicht erzählen, und sie wußte auch nicht, was das mit den Fragen der Herrin zu tun hatte.
»Nun«, fuhr die Herrin fort, »hier steht …«, Sie blätterte in dem Buch, bis sie die Stelle gefunden hatte. »Also, hier steht, daß kein Anspruch auf Entschädigung besteht, wenn die Ehe nicht versprochen und kein Ehevertrag unterzeichnet wurde. Was nun das Kind betrifft … Kannst du beweisen, daß Herr Fuxfell und kein anderer der Vater des Kindes ist?«
Wieder hatte Damilla stumm die Schultern gehoben. Beweisen? Was gab es da zu beweisen? Wer sonst sollte denn der Vater des Kindes sein? Ihr wurde langsam ganz wirr zumute. »Aber du bist über zwölf und hast Haare unter den Armen und zwischen den Beinen, nicht wahr?« hatte sie wie durch einen Nebel die Stimme der Herrin vernommen. Sie hörte das Rascheln von Pergament, während sie überlegte, was wohl für ein Zusammenhang zwischen den Haaren unter ihren Achseln und der Liebe und dem Kind und dem Magister Fuxfell bestehen mochte.
»Den Tag nach übermorgen werde ich fünfzehn«, hatte sie geflüstert.
»Nun, das ist gut … nein, nicht für dich, Mädchen, aber für den ehrenwerten Herrn Fuxfell. Für dich und das Kind sieht es leider gar nicht gut aus, soweit ich das im Moment beurteilen kann. Aber das werde ich noch genauer ergründen. Nun, was ist zu tun … Mach dir keine Sorgen, daß ich dich davonjage …«
Davonjagen? Dieser Gedanke war Damilla gar nicht in den Sinn gekommen, aber so etwas gab es, fiel ihr ein, und plötzlich war ihr so bang und kalt ums Herz geworden, daß sie gar nicht weiter zuhören konnte. Wenn die Herrin sie davonjagte, dann würde sie eben auf Wanderschaft gehen und so lange wandern, bis sie den Magister Fuxfell gefunden hatte. Ja, das würde sie tun … Damilla begann zu frösteln, als sie sich besann, wie beklommen ihr damals geworden war, und sie zog das wollene Umschlagtuch enger um die Schultern. Dann blieb sie stehen, um ein wenig zu verschnaufen. Das Kind in ihrem Leib regte sich, und zärtlich strich sie über die Falten des schweren Tuchrockes, der ihren geschwollenen Bauch noch mächtiger erscheinen ließ. Sie lehnte sich an einen der Apfelbäume, die den Weg zum Gutshaus säumten. Nun war es nicht mehr weit, den Göttern sei Dank. Schon konnte sie die Schornsteine auf dem roten Ziegeldach zählen und auch die winzigen dunklen Fensteröffnungen in der Vorderfront des Hauses. Im fahlen Licht der winterlichen Nachmittagssonne schien das weißgetünchte Gebäude geradezu zu leuchten. Fast mehr noch als im Sommer, wenn die Praiosscheibe hoch am Himmel steht, dachte sie. Ja, im Sommer, im Rahja, da war sie noch guter Dinge gewesen und auch viel beweglicher als jetzt, obwohl sie noch nie zu den Behendesten gehört hatte. Bei der Heumahd jedenfalls hatte niemand ihr etwas angemerkt, und sie hatte gut mit den anderen Knechten und Mägden mithalten können. Das hatte sie gewiß auch Danjas Morgentee zu verdanken gehabt, der ihr die Übelkeit vertrieben hatte. Damilla liebte das Heuen, die langsamen, gleichmäßigen Schritte und den immer gleichen Schwung der Arme, das Sssst der Sense, wenn sie zwischen die Halme fuhr, und den Anblick des fallenden Grases. Und wenn man sich dann am Ende der Wiese umblickte und die gleichmäßigen Schwaden sah, dann wußte man, was man getan hatte, und das war ein schönes Gefühl. Die Kornmahd im Praios war ihr schon nicht mehr ganz so leichtgefallen, aber verglichen mit heute war sie damals so leichtfüßig wie eine Elfe gewesen.
Wie schwer mir das Gehen inzwischen fällt, dachte sie, als sie nach der kurzen Rast ihren Weg zum Gutshaus fortsetzte. Aber Danja hatte ihr auch gesagt, daß es nun nicht mehr lange dauern würde bis zur Niederkunft – eine oder zwei Wochen vielleicht. Damilla war froh, daß sie seit einiger Zeit keine schweren Arbeiten mehr verrichten mußte. Sie half Titina in der Küche, polierte die silbernen Löffel und Messer, flickte die Kleider des Gesindes – alles Arbeiten, die sich gut im Sitzen erledigen ließen. Das hatte die Herrin auch damals in der Bibliothek versprochen, so entsann sie sich nun. »… und wenn dir in einigen Monden die schweren Arbeiten nicht mehr von der Hand gehen, dann wird man dir eben leichtere zuweisen«, hatte sie gesagt.
Damilla hatte zunächst gar nicht verstanden, worauf die Herrin hinauswollte – so viele Monde in die Zukunft hatte sie gar nicht denken können, und daß sie einmal so unförmig und ungelenk werden würde wie jetzt, war ihr damals gar nicht richtig klargewesen, obwohl sie es natürlich wußte. Und dann hatte die Herrin gesagt, sie werde ihrem Halbbruder schreiben, ihm den Fall unterbreiten und hören, was er dazu zu sagen habe. Da hatte Damilla sich auf Hilgerts Brief besonnen und ihn aus der Tasche ihrer Schürze geklaubt.
»Ich habe ihm auch geschrieben«, hatte sie leise gesagt, während sie das Schreiben zögernd der Herrin reichte.
Die hatte es eine Weile seltsam lächelnd betrachtet und die wächsernen Siegel geprüft und schließlich gemeint: »Morgen werde ich einen Boten mit beiden Briefen nach Methumis schicken, und nun geh wieder an deine Arbeit, Mädchen!«
Bei diesen Worten war Damilla erst klargeworden, daß so ein Bote Geld kostet, viel mehr, als sie besaß – das hatte sie nicht bedacht! Und so hatte sie sich tief verneigt vor der Herrin und ihre Hand ergriffen, um sie zu küssen, doch die Herrin hatte sie nur unwirsch abgeschüttelt und gesagt: »Laß doch den Unfug! Und nun los, an die Arbeit!«
Es war dann aber keine Antwort aus Methumis gekommen, im Rahja nicht, im Praios auch nicht und im Rondra auch nicht. Im Efferd hatte die Herrin noch einmal geschrieben, und Anfang Boron ein drittes Mal. Aber immer, wenn die Boten zurückkehrten, hatte es geheißen, der Herr Fuxfell sei nicht zu erreichen gewesen, oder der Herr Fuxfell befinde sich auf Geschäftsreise, und allmählich hatte Damilla sich Sorgen gemacht. Vielleicht, so dachte sie, waren ihr deshalb die vergangenen Monde so traurig erschienen, weil sie von Warten, Sehnen und Sorgen erfüllt gewesen waren, die ihr das Herz verschlossen hatten für alles Schöne ringsumher. Die Sorgen waren fast das schlimmste. Was konnte nicht alles passieren auf einer so langen Reise? Denn von Kabash aus war der Magister Fuxfell wohl gar nicht mehr zurückgekehrt zu seiner Herberge in Methumis. Sonst hätte er ja die Briefe gefunden, die die Boten dort für ihn hinterlegt hatten, und hätte darauf geantwortet. Bilder und Namen von schrecklichen Krankheiten tauchten in Damillas Geiste auf: Blaue Keuche, Schlachtfeldfieber, Zorgan-Pocken, Duglumspest … Nein, nein, nein! rief sie sich zur Ordnung, ich darf nicht an so etwas denken! Ich darf nur an schöne Dinge denken, hat Danja gesagt, sonst kann das Kind zu früh kommen oder mit zwei Köpfen geboren werden. Aber das letzte war nur ein Scherz gewesen, denn zwei Köpfe hat ein Kind nur dann, wenn ein Dämon die Gestalt des Liebsten annimmt und der Frau beiwohnt …
Damilla hatte das Gutshaus erreicht. Die exakt nach Westen ausgerichtete weiße Front schimmerte nun rötlich im Licht der sinkenden Sonne. Die Magd freute sich jedesmal, wenn sie den Weg vom Dorf her kam, daß die klare Form des herrschaftlichen Hauses nicht durch Nebengebäude verunziert wurde. Die Stallungen, die Schmiede, die Küche, das Waschhaus, das Gesindehaus, sie alle lagen um den großen Hof gruppiert auf der nach Osten zu den Hügeln hin gerichteten Seite. Mit schweren Schritten stapfte sie über den hellen Kiesweg, der, von kugelig und kegelig beschnittenen Bäumchen und Büschen gesäumt, in großem Bogen um das Gebäude führte. Sie mußte sich nun sputen, denn in zwei Stunden würde der Gong zum Abendmahl rufen, und Titina hatte gewiß noch viel für sie zu tun. Damilla freute sich schon auf die warme Küche – auf dem langen Weg war ihr doch recht kühl geworden. Und Hunger hatte sie auch. Sie hoffte, daß es Rüben mit Speck und Grütze gäbe, das war ihr Leibgericht. Nun hatte sie schon an drei schöne Dinge gedacht, sagte sie sich: Sie hatte den Anblick des Hauses bewundert und sich an dem sauber geharkten Kiesweg mit den putzigen Bäumchen daneben erfreut, und sie hatte sich das leckere Abendessen vorgestellt. Lächelnd strich sie sich mit der Linken über den Leib. Du kommst nicht zu früh, kleiner Zordan oder kleine Zulhamin, und zwei Köpfe hast du auch nicht, dachte sie. Als sie in den Hof einbog, kam ihr Witwe Westfahr entgegen. Sie trug einen großen leeren Korb unter dem Arm. Vermutlich hatte sie gerade die Wäsche des kleinen Fräuleins zum Waschhaus gebracht.
»Damilla, Kind, wo kommst du denn her?« rief sie dem Mädchen zu.
»Aus dem Dorf«, erwiderte die Magd.
»Ich hätte es mir denken können, so staubig, wie du bist. Und was sagt Danja? Ist es bald soweit?«
»In sieben bis vierzehn Praiosläufen.«
»Nun, sei froh, dann hast du es ja bald hinter dir. Obwohl, die Schwangerschaft steht dir gut, du bist richtig hübsch geworden durch das Kleine, so rosig, und wenn der dicke Bauch nicht wäre, dann würde ich fast meinen, du seist nicht mehr ganz so stämmig wie zuvor.«
Damilla strahlte – seit der Magister Fuxfell abgereist war, hatte ihr niemand mehr eine Artigkeit gesagt. Gerade als sie wieder an den geliebten Mann dachte, wandte Susa, die den Weg zur Hintertür eingeschlagen hatte, sich noch einmal um.
»Als du fort warst, ist ein Bote vorbeigekommen. Ich meine, ich hätte die Herrin zu ihrem Gemahl sagen hören, daß sie eine Nachricht von ihrem Bruder erhalten habe. Vielleicht wird ja doch noch alles gut, Kind.«
Ein Brief vom Magister Fuxfell! In Damillas Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander, und sie lehnte sich einen Moment lang an die Küchenwand, damit der Aufruhr in ihrem Innern sich besänftigte. Aber das geschah nicht, und als sie schließlich die Küche betrat, war sie noch ebenso verwirrt wie zuvor. Sie wußte nicht, ob sie sich freuen oder weinen sollte und wäre am liebsten zur Herrin gelaufen, was natürlich nicht angehen konnte. Außerdem fürchtete sie sich davor, nicht vor der Herrin diesmal, das heißt, vor der auch, aber mehr noch zu erfahren, was in dem Brief stünde, oder zu erfahren, daß gar nichts für sie in dem Briefe stünde und es nur um geschäftliche oder familiäre Belange ginge … Ach, ach, was sollte sie nur beginnen? Acht Monde und neun Tage hatte sie auf eine Nachricht gewartet, und nun, da diese endlich eingetroffen war, war sie vor lauter Glück und Hoffnung ganz verzweifelt.
Das Rübenputzen wollte Damilla an diesem Abend gar nicht von der Hand gehen, und zweimal hätte sie sich fast in den Finger geschnitten. Als Titina den gewürfelten Speck in den gewaltigen Kessel über dem Feuer warf und es kurz darauf appetitlich brutzelte und duftete, spürte das Mädchen kein Verlangen, das Schauspiel zu betrachten, wie die Würfel allmählich schrumpften und der Boden des Kessels sich mit Schmalz bedeckte, und sich dann eine der knusprigen Grieben zu erbitten, wie es sonst immer ihre Gewohnheit war. Stumm reichte sie der Köchin die Schüssel mit den Rübenschnitzen und setzte sich wieder auf ihren Schemel.
»Was ist, Damilla, willst du heute keinen Speck?« fragte Titina. »Du mußt doch hungrig sein.«
Aber die Magd schüttelte nur den Kopf. Nein, hungrig war sie wirklich nicht. Ihr war der Appetit vergangen und auch die Müdigkeit, und sie würde heute nacht kein Auge zutun, das wußte sie ganz genau.
»Nun«, wandte sich Kusmine an ihren Gatten, der soeben die Lektüre des Briefes beendet hatte, »was hältst du davon?«
Durenald faltete den Bogen sorgsam zusammen und reichte ihn seiner Frau. Eine Weile betrachtete er sie schweigend, dann lächelte er. »Liebes Herz«, begann er, »du weißt genau, was ich davon halte, aber wenn ich es dir sage, dann heißt es wieder, ich könne deinen Bruder nicht leiden. Warum sollen wir uns den schönen Abend durch einen Mißklang verderben?«
Kusmine legte das Schreiben auf ein Tischchen zu ihrer Seite, dann ergriff sie mit beiden Händen die Rechte ihres Gemahls. »Durenald, Liebster, ich sehe es diesmal genauso wie du: Ich glaube dem windigen Bürschchen kein Wort. Nun, kein Wort ist vielleicht ein bißchen arg, aber …« Sie überlegte mit gespielter Anstrengung. »Drei Viertel aller Worte glaube ich ihm nicht. Der Rest bleibt bestehen, und daran gibt es nichts zu deuteln: Sie hätte sich nicht mit ihm einlassen sollen. Doch wie soll es nun weitergehen? Bald ist das Kleine da, und wenn er sich zu zahlen weigert, wer dann?«
»Darüber habe ich schon seit längerem nachgedacht«, erwiderte Durenald, »denn, mit Verlaub, ich habe von deinem Bruder nichts anderes erwartet. Letztens habe ich mich in dieser Angelegenheit ausführlich mit Bauer Lechdan unterhalten, du weißt, dem jungen Witwer mit dem kleinen Hof am Dorfausgang. Er braucht eine tüchtige Frau, die sich um die beiden Kleinen und das Vieh kümmert, und er wäre bereit, mit Damilla den Traviabund zu schließen und das Würmchen als sein Kind anzuerkennen – ohne Bezahlung sogar, obwohl ich ihm natürlich ein wenig Geld angeboten habe. Denn sieh einmal: Zordans Kegel ist weitläufig auch dein Neffchen oder Nichtchen, und ein wenig Anteil an seinem oder ihrem Schicksal sollten wir schon nehmen, wenn der eigene Vater sich weigert, das zu tun.«
»Falls er der Vater ist«, warf Kusmine ein.
»Du bezweifelst das, liebes Herz? Dann glaubst du dem windigen Bürschchen – ich zitiere deine eigenen Worte – doch mehr als ein Viertel. Mindestens die Hälfte, würde ich schätzen.« Durenald konnte sich ein leichtes Kopfschütteln nicht verkneifen. »Natürlich ist Zordan der Vater! Wer denn sonst? Er hat das dumme Kind verführt, und das dürfte ihm nicht schwergefallen sein. Schlimm ist nur, daß die Kleine nach all den Monden immer noch ganz vernarrt in ihn zu sein scheint, wenn man dem Getratsche des Gesindes glauben darf, und das macht mir ein wenig Sorgen. Lechdan ist ein guter Kerl, und Damilla ist ein braves Mädchen, und ich bin sicher, daß sie einander lieben lernen, wenn sie erst eine Weile unter Travias Obhut beisammen sind. Aber was ist, wenn das Kind sich weigert, Lechdan zu nehmen? Vielleicht will sie ihrer Liebe treu sein … So etwas gibt es …« Er drückte die Hand seiner Gemahlin.
»Du siehst mich ratlos, lieber Mann«, sagte Kusmine und strich sich nachdenklich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Wenn sie sich weigert, dann weigert sie sich – wir können sie nicht zu dieser Ehe zwingen. Selbst wenn sie eine Leibeigene wäre, stünde eine erzwungene Ehe rechtlich auf tönernen Füßen, aber da sie eine Freie ist …«
»Frau! Liebes Herz! Was soll uns die Juristerei? Die Kleine muß Zordan vergessen und Lechdan lieben lernen – das ist alles. Wenn sie wüßte, was dein Bruder über sie schreibt, dann würde sie auf ihn spucken, da bin ich mir sicher. Mich selbst gelüstet fast danach …«
»Aber Durenald, dann ist ja alles ganz einfach.« Kusmine strahlte ihren Gatten an. »Laß sie kommen, und lies ihr den Brief vor. Es wird sie wohl ein wenig hart ankommen, aber eine harte Kur ist oft die wirksamste.«
Als Damilla kurz darauf mit wild klopfendem Herzen die herrschaftliche Bibliothek betrat, da war sie sicher, daß sie, noch bevor sie bis hundert gezählt hätte, in Ohnmacht niedersinken würde, so flau und tödlich bang war ihr. Wenn der Magister Fuxfell geschrieben hätte, daß er sie liebe und sie und das Kleine bald zu sich zu holen gedenke, würde sie vor Freude den Verstand und die Besinnung verlieren, das war klar. Wenn er aber geschrieben hätte, daß er sie nicht mehr liebe und eine andere inzwischen den Platz in seinem Herzen eingenommen habe, dann würde sie vor Kummer den Verstand und die Besinnung verlieren, auch das war klar. Wenn aber die Nachricht besagte, daß er krank auf den Tod darniederliege, ja dann … ja dann würde auch sie nicht mehr leben wollen, aber leben mußte sie doch …
»Setz dich, Kind«, sagte Durenald freundlich und wies auf einen gepolsterten Stuhl.
Damilla gehorchte, wagte aber nicht, mehr als einen halben Spann der Sitzfläche zu beanspruchen. Mit großen Augen starrte sie ihren Herrn an.
»Nun«, begann dieser lächelnd, »jetzt ist es wohl bald soweit, nicht wahr?«
Die Magd nickte.
»Fürchtest du dich?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Das mußt du auch nicht«, vernahm sie die Stimme ihres Herrn, »denn du bist jung und gesund, und Danja und Susa werden dir beistehen.« Durenald machte eine Pause, in der er einen Blick mit seiner Gemahlin wechselte.
Wenn sie gezählt hätte, müßte sie die fünfzig nun bald erreicht haben, dachte Damilla, aber noch fühlte sie keine Ohnmacht nahen.
»Du kennst doch den Bauern Lechdan, nicht wahr?« fragte Durenald unvermittelt, und obwohl das Mädchen wieder mechanisch nickte, fuhr er fort: »Der mit dem kleinen Hof am Dorfende, dem vor sechs Monden die Frau gestorben ist.«
Was hat nur der Bauer Lechdan mit dem Brief zu tun? dachte Damilla. Es müßte jetzt so gegen sechzig sein, und vermutlich fängt es schon an, daß ich den Verstand verliere.
»Also der Lechdan möchte dich gern zur Frau nehmen.«
»Was?!« entfuhr es Damilla.
»Er möchte dich heiraten, Kind«, hörte sie ihren Herrn sagen. »Den Traviabund mit dir schließen, ist das nicht schön?« Und da sie nicht antwortete, fuhr er fort: »Schau einmal, der Lechdan braucht eine Frau und seine Kinder eine Mutter, und dein Kleines wird bald einen Vater brauchen. Du mußt dich nicht auf der Stelle entscheiden – denk ruhig ein wenig über den Antrag nach. Und falls du dich vor dem Lechdan fürchtest, weil er so wortkarg ist und genau wie Hilgert die Brauen so streng zusammenzieht, so kann ich dich beruhigen. Glaub mir, er ist ein gutmütiger und grundehrlicher Mann, er trinkt nur mäßig, und er hat mir versprochen, dich nicht zu schlagen.«
»Aber … ich …«, stammelte Damilla. Da ich ohnehin den Verstand verliere, dachte sie, kommt es nun nicht mehr darauf an, und ich sage es jetzt einfach. Also: »Aber ich kann ihn doch nicht heiraten«, sagte sie leise. Die Magd fühlte zwei aufmerksame Augenpaare auf sich ruhen. Siebzig, dachte sie, wie es sich wohl anfühlen mag, wenn man keinen Verstand mehr hat?
»Warum nicht, Mädchen?« ergriff zum erstenmal die Herrin das Wort. »Bist du mit ihm verwandt, oder was spricht sonst dagegen?«
Damilla schüttelte den Kopf, war sich jedoch bewußt, daß sie damit nur den ersten Teil der Frage beantwortet hatte. Aber wie sollte sie nur den zweiten beantworten, wie könnte sie zu der Herrin von ihrer Liebe zum Magister Fuxfell sprechen? Siebenundsiebzig, achtundsiebzig …, zählte sie leise, um sich zu beruhigen.
»Du liebst Zordan Fuxfell noch immer, nicht wahr?« hörte sie ihren Herrn sagen.
Achtzig! Zordan Fuxfell! Jetzt war der Name endlich gefallen, und das grausame Katz-und-Maus-Spiel mit Bauer Lechdan und dem Taviabund hatte ein Ende. Damilla hätte nie gedacht, daß ein Herz so schnell und heftig schlagen konnte wie das ihre, seit sie den Namen des geliebten Mannes vernommen hatte, und obwohl sie glaubte, daß es nun bald zerspringen müsse, verspürte sie zugleich so etwas wie Erleichterung. Sie nickte mit tief gesenktem Kopf. Was mochte nun weiter folgen? fragte sie sich. Ach, sie wollte es gar nicht wissen, oder doch?
»Nun …«, begann Durenald zögernd. Er wußte nicht recht, wie er dem dummen Ding die Wahrheit über Fuxfell beibringen sollte. Das ist doch Frauensache … so ein Gespräch von Frau zu Frau … über die Männer und über die Liebe …, dachte er und warf seiner Gemahlin einen hilfesuchenden Blick zu. Aber Kusmine hatte sich im Sessel zurückgelehnt, die Beine übereinandergeschlagen und betrachtete mit ihren klaren blauen Augen aufmerksam die junge Magd. Eben begann sie, mit der Rechten den Takt eines Liedes, das Durenald nicht erkannte, auf die Armlehne zu trommeln. Nun gut, liebes Herz, ich sehe, daß du mir die heikle Arbeit überlassen willst … »Heute ist ein Brief von Zordan Fuxfell gekommen«, sagte Durenald laut.
Achtundachtzig, neunundachtzig, neunzig. Damilla nickte. Ein Brief ist gekommen, ich weiß es ja schon. Nur nicht vor der Zeit die Besinnung und den Verstand verlieren …
»Der Halbbruder meiner Gemahlin bestreitet, der Vater deines Kindes zu sein.« Durenald seufzte hörbar – Endlich war es heraus! Er betrachtete das Mädchen voller Anteilnahme und erwartete, daß sie nun widersprechen oder in Tränen ausbrechen werde, aber nichts von beidem geschah. Ganz still saß sie auf der Kante ihres Stuhles, hielt den Kopf tief gesenkt, und nur ihre Lippen bewegten sich ein wenig, so als murmele sie ein Gebet. »Hast du mich verstanden, Kind? Herr Fuxfell bestreitet die Vaterschaft, und er … und er erwidert deine Gefühle auch nicht.«
Siebenundneunzig, achtundneunzig, neunundneunzig, hundert – das Zimmer war noch dasselbe wie zuvor, der Stuhl war derselbe wie zuvor, sie selbst war auch dieselbe wie zuvor …
»Am besten, du schlägst ihn dir aus dem Kopf und denkst ernsthaft über Lechdans Antrag nach«, sagte der Herr gerade.
Damilla schüttelte den Kopf.
»Was willst du damit sagen, Mädchen?« Die Stimme der Herrin klang ein wenig gereizt. »Nun mach doch endlich einmal den Mund auf! Willst du den Lechdan nicht nehmen?«
Damilla nickte.
»Was heißt das? Ja oder nein? Du sollst reden, habe ich gesagt!«
»Nein«, antwortete die Magd leise.
»Du hoffst also immer noch, nach all den Monden, Herr Fuxfell werde zu dir zurückkehren?« Durenald blickte Damilla fragend an, und als sie zuerst nickte und dann »Ja« flüsterte, griff er nach dem Brief, den seine Gemahlin ihm reichte. »Dann solltest du vielleicht wissen, wie er über dich denkt. Ich sage dir, Kind, er liebt dich nicht und hat dich nie geliebt. Soll ich dir vorlesen, was er schreibt?« Durenald hoffte, das Mädchen werde es ihm ersparen, ihr Fuxfells Worte ungeschönt ins Gesicht zu sagen, aber nach einer kleinen Weile nickte sie wieder, bange Erwartung im Blick. Der Freiherr seufzte schwer. »Damilla«, begann er zögernd, »du bist noch jung und besitzt nicht viel Menschenkenntnis. Vermutlich hältst du Herrn Fuxfell für einen ehrenwerten Mann. Nun ja, es ist nicht an mir, etwas anderes zu behaupten. Der Brief jedoch … wie soll ich sagen …«
»Bitte«, unterbrach ihn die Magd, »ich möchte wissen, was Herr Fuxfell schreibt.«
Grimmig faltete Durenald den Bogen auseinander; er überflog den Anfang, bis er die Stelle gefunden hatte. »Hier steht«, sagte er: »›Nachdem ich den Verführungskünsten der jungen Dirne erlegen war, stellte ich fest, daß sie keine Jungfrau mehr war. Auf meine Frage gab sie zu, daß ich weder der erste noch der einzige sei, und verlangte zwei Silberstücke für ihre Dienste. Da ich, wie Ihr wißt, meines gesamten Vermögens beraubt war, schenkte ich ihr einen Seidenschal, der mich fast vier Silbertaler gekostet hatte. Ich ließ sie auch trotz ihres Drängens kein zweites Mal in meine Kammer, denn mit solchen, die es für Geld tun, gebe ich mich nicht ab. Wie Ihr die Sache seht, weiß ich nicht, für mich jedoch steht fest, daß halb Brelak der Vater des Kegels sein könnte. Ich selbst kann es nicht sein, da ich weiß, was sich gehört, und aufgepaßt habe …‹ Soll ich noch weiterlesen?« fragte Durenald, aber das Mädchen antwortete nicht. Stumm erhob es sich und verließ die Bibliothek, ohne um Erlaubnis zu fragen. »Denk über Lechdans Antrag nach«, ermahnte Durenald sie noch einmal, »Lechdan ist ein guter Mann.«
»Sie scheint es recht gefaßt aufgenommen zu haben«, wandte sich Kusmine an ihren Gemahl, »oder was meinst du?«
»Ach, liebes Herz, ich weiß es nicht – ich denke schon, es war ein schwerer Schlag für sie. Nur gut, daß sie nicht in Tränen ausgebrochen ist – ich kann es nicht ertragen, eine Frau weinen zu sehen. Dann kommen mir auch immer die Tränen, und ich weiß nicht, was ich tun soll.«
Kusmine lachte. »Mein lieber Mann, wenn alle schwangeren Mägde einen so fürsorglichen Herrn hätten wie dich, dann …«
»Was dann?«
Kusmine erhob sich und betrachtete nachdenklich ihren Gatten. Dann ergriff sie seine Hände und zog ihn aus dem Sessel. »Nun«, sagte sie, während sie ihre starken Arme um seinen Leib schlang und ihn ein wenig hob, bis sich ihrer beider Augen auf gleicher Höhe befanden, »dann wäre die Welt noch schöner, als sie ist.«
Damilla erwartete jeden Augenblick, Titinas kräftige Hand auf der Schulter zu spüren. ›Wach auf, Kind! Was fällt dir ein, bei der Arbeit zu schlafen?‹ würde die Köchin sagen, und dann würde sie erwachen und sich in der warmen Küche wiederfinden. Sie wollte auch, daß es aufhörte – so ein abscheulicher Traum!
Während sie mechanisch die Füße voreinandersetzte, dachte sie: Kann man beim Träumen über das Träumen nachdenken? Wohl nicht, entschied sie. Sie selbst hatte es jedenfalls noch nie getan. Ihre Träume waren sonst auch irgendwie anders. Früher, kurz nachdem die Eltern sie fortgeschickt hatten, damit sie sich eine Stellung suchte, hatte sie manchmal von daheim geträumt. Und als Kind hatte sie oft vom Essen geträumt, aber diese Träume waren seltener geworden, seit sie auf Gut Brelak lebte. Von Lindwürmern, Feen, schönen Kleidern und Schädeleulen hatte sie auch schon geträumt; dann war sie immer schweißnaß und mit klopfendem Herzen erwacht. Genau wie bei dem Traum, der sie in den letzten Wochen ein paarmal heimgesucht hatte. Da hatte ihr nämlich geträumt, sie hätte ihr Kind geboren – sehr schön und herzig war es –, doch kaum hatte es ihren Leib verlassen, da war es auch schon davongelaufen, und das hatte sie so traurig gemacht, daß sie nach dem Erwachen immer noch ein wenig traurig war, wenn auch erleichtert. Traurig war sie auch immer dann, wenn sie vom Magister Fuxfell geträumt hatte …
Der Herr Fuxfell in meinem Traum hat sehr häßliche Dinge über mich geschrieben, dachte sie. Daß ich eine Hure bin und daß ich ihn verführt habe, und daß ich es mit jedem treibe … Es muß ein Traum sein, auch wenn das unmöglich ist, denn der wirkliche Herr Fuxfell hat mir gesagt, daß ich schön bin und daß er mich liebhat, und wie glücklich es ihn macht, daß auch ich ihn liebe … Am besten gehe ich in die Mägdekammer, lege mich ins Bett, und wenn ich dann erwache und die Sonne scheint, weiß ich ganz genau, daß alles nur ein böser Traum war.
Das Mädchen hatte die Hintertür erreicht. Ihr schwindelte ein wenig, und sie lehnte sich ein Weilchen an die Hauswand, bevor sie den Hof überquerte. Ich könnte auch zu Meister Hilgert gehen, dachte sie, das ist näher, und er kann mir gewiß auch sagen, ob ich wache oder träume.
Seit der alte Stallmeister Damilla bei ihrem Brief geholfen hatte, waren die beiden einander ein wenig nähergekommen. An so manchem Abend hatte die Magd den Alten in seiner Stube besucht, hatte ihm ein Stückchen Kuchen oder ein Schälchen Kompott mitgebracht, und der Stallmeister hatte Kräutertee gekocht, und dann hatten sie schweigend beisammen gesessen und ins Feuer geschaut. Und irgendwann hatte Damilla begonnen, ihn Meister Hilgert zu nennen.
Mit unsicheren Schritten wankte die Magd über den Hof. Sie war froh, als sie endlich den Pferdestall erreicht hatte, und auch froh, daß niemand ihr begegnet war, der sie nach der Unterredung mit der Herrschaft und dem Inhalt des Schreibens hätte fragen können. Als sie die Tür öffnete, schlug ihr warm und lebendig der Duft der Pferde entgegen. Ein paar der Tiere schnaubten bei ihrem Eintritt und wandten die Köpfe nach ihr um, aber Damilla verspürte diesmal kein Bedürfnis, den freundlichen dummen Tieren die weichen Nüstern zu streicheln. Ihr Blick fiel auf das frische Stroh in einer leeren Koje. Ich muß mich hinlegen, dachte sie, ganz schnell, bevor ich falle.
Der Boden des Stalles schwankte, und das seltsame Schaukeln ließ auch nicht nach, als Damilla auf dem Stroh lag. Sie blickte um sich und sah im schwachen Licht der blakenden Laterne, daß auch die Decke und die Wände des Stalles nicht mehr fest und massiv zu sein schienen, sondern sich bogen und bebten wie unter dem Ansturm gewaltiger und unbekannter Kräfte. Ein abscheulicher Traum, dachte das Mädchen. Er wird immer grausiger. Ich sollte die Augen schließen, vielleicht hört dann alles auf. Doch es hörte nicht auf, als sie die Augen geschlossen hatte, und Damilla dachte, so müsse es wohl sein, wenn man sich auf hoher See in einem schwankenden Boot befinde. Einmal das Meer sehen, einmal auf einer stolzen Schivone die Welt umrunden, das war immer ihr größter Herzenswunsch gewesen. Sie hatte es Magister Fuxfell erzählt, und der hatte ihr versprochen, sie später mitzunehmen auf seine Reisen und ihr die ganze Welt zu zeigen: das stolze kalte Festum, die giftigen Sümpfe von Selem, das geheimnisvolle Khunchom, das grausam-schöne Al’Anfa … Plötzlich stand er neben ihr und blickte sie mit seinem einen Auge seltsam an.
»Warum hast du mich verraten, Zordan?« fragte sie. »Warum hast du unsere Liebe verraten, warum hast du unser Kind verraten?« Wieso sage ich du zu ihm und rede ihn beim Vornamen an? ging es Damilla durch den Kopf.
Aber Zordan antwortete nicht, sondern riß sich statt dessen die Binde vom Auge. Was darunter zum Vorschein kam, war nicht das Auge eines Menschen – gelb wie das einer Kröte war es, und die Pupille darin lag quer wie bei einer Ziege. Damilla wollte gar nicht hinschauen, so sehr graute ihr, aber es gelang ihr nicht, die Augen zu schließen. »Hilf mir, Zordan, daß ich mich aufrichten kann!« sagte sie. »Ich möchte so gern das Meer sehen. Aber ich sehe nur den Himmel, und der ist ganz rot.«
Statt einer Antwort lachte Zordan und trat sie gegen den Bauch – er trug Reitstiefel mit Sporen, wie das Mädchen bemerkte. Ein heißer Schmerz durchzuckte sie; so heftig war er, daß davon das Kind erwachte. Und kaum war es wach, da wollte es sie auch schon verlassen. »Bleib hier, kleine Zulhamin, es ist zu früh!« flehte Damilla, aber das Kind hörte sie nicht. Es strebte mit aller Kraft aus ihrem Körper, und da begann die Magd zu pressen, so wie Danja es ihr geraten hatte. »Bleib bei mir, kleine Zulhamin, verlaß mich nicht!« bat sie noch einmal, aber sie wußte, daß es vergeblich war. Wogen von Schmerz durchdrangen und umhüllten sie und verbanden sich mit den Wogen des Meeres. Und nun sah sie es endlich! Es war rot, genauso rot wie der Himmel. Ein schwarzer Schnee begann zu fallen, zart und fein zuerst, dann dichter und immer dichter …
Als Hilgert spät in der Nacht mit seinen schweren Stiefeln laut und anhaltend gegen die Hintertür trat, erwachte von dem Lärm das ganze Haus. Ein Diener öffnete ihm und erstarrte beim Anblick des Stallmeisters und seiner Last: Hilgerts Haar schien weißer denn je – in wirren Strähnen stand es vom Kopf ab, so daß es im Licht der Fackel und des Mondes wirkte, als umloderten helle Flammen das Antlitz des Alten. Der Blick der schwarzen Augen war wild wie der eines Wahnsinnigen, und grimmige Wut leuchtete darin. In den Armen trug Hilgert ein in schwere Decken gewickeltes Bündel, aus dessen einem Ende ein brauner Zopf baumelte. Auf der anderen Seite hingen ihm schlaff und bleich die stämmigen Unterschenkel eines Mädchens über den Arm. An den Beinen klebte Blut, und Blut tropfte auch aus dem Bündel, in dem es leise wimmerte.
»Was stehst du da und glotzt?« fuhr der Alte den Diener an, während er ohne zu schwanken den Weg zur Krankenstube einschlug. »Weck die Herrschaft! Hol Hilfe! Und sag, man soll nach Danja schicken – mit Damilla ist ein Unglück geschehen.«
Im Morgengrauen verließen Danja und Susa bekümmert die Krankenstube. Durenald eilte den Frauen entgegen. »Wie sieht es aus, Danja? Werden sie überleben?«
Die Hebamme schüttelte traurig den Kopf. »Ach Herr … das arme Ding …« Zwei Tränen rannen ihr über die runzligen Wangen. »… sie hat ja soviel Blut verloren. Ich verstehe es nicht, es war doch eine normale Geburt. Aber wir konnten die Blutung nicht stillen. Mir schien es fast, als sei etwas in ihrem Inneren zerrissen … Was das Kind betrifft, nun, es ist zart, aber gesund und wohlgestaltet …«
»Lebt sie noch«, fragte Kusmine mit seltsam fremder Stimme, »oder ruht sie schon in Borons Armen?«
»Ach, Euer Edelgeboren, sie atmet noch, aber es ist so wenig Leben in ihr, daß sie die Mittagsstunde …« Schluchzend wandte Danja sich ab.
»Ich gehe zu ihr«, entschied Kusmine. »Allein, lieber Mann«, fügte sie hinzu, als sie sah, daß Durenald ihr folgen wollte.
Lange stand Kusmine schweigend am Bett des sterbenden Mädchens. Die Magd schien zu schlafen; das Neugeborene, von dem nur das schwarzbeflaumte Köpfchen zu sehen war, ruhte in ihrem Arm. Kusmine ließ sich neben dem Bett nieder und ergriff Damillas Hand. »Dein kurzes Leben ist bald zu Ende, mein Kind«, sagte sie schließlich, »und mich dauert, daß es nicht schöner war. Wenn ich dir ein Unrecht getan habe, so bitte ich um Vergebung …« Sie schwieg eine Weile. »Ich werde für dich zu Boron und zu Peraine beten … Ich weiß nicht, ob du mich hören kannst, aber du sollst wissen, daß ich dich für ein braves und tapferes Mädchen halte – du bist immer ein gutes Mädchen gewesen … Was dein Kind betrifft, so mach dir keine Sorgen. Ich gebe dir mein Wort, daß für das Kleine gut gesorgt werden wird. Ich werde es annehmen als das meine, und es soll aufwachsen als Thalionmels Geschwisterchen …« Kusmine wußte nun nichts mehr zu sagen, und so saß sie einfach still auf ihrem Schemel, betrachtete das kindliche blasse Antlitz der Magd und das rote Köpfchen des Säuglings und beobachtete, wie der Himmel hinter dem unverhangenen Teil des Fensters allmählich heller wurde. Plötzlich gewahrte sie, daß die Hand, die sie hielt, deutlich kühler geworden war.
Vorsichtig löste Kusmine das Kind aus dem Arm der Toten. Sie nahm das winzige Bündel und wandte sich zum Gehen. »Schlaf gut, kleine Damilla, leb wohl – Boron sei dir gnädig«, sagte sie, bevor sie den Raum verließ. Durenald, Danja, Susa und Hilgert erwarteten die Herrin von Brelak vor der Krankenstube. Wortlos legte Kusmine den Säugling in Danjas Arme. »Es ist vorüber«, sagte sie nur, worauf die Frauen in Tränen ausbrachen. »Bringt das Kind zu einer guten Amme im Dorf. Dort soll es so lange bleiben, bis es der mütterlichen Brust entwöhnt ist. Danach« – sie blickte Durenald fest in die Augen – »soll es hier im Hause leben und aufwachsen als Thalionmels Bruder oder …«
»Es ist ein Mädchen«, schluchzte Danja.
»Als Thalionmels Schwester also. Bist du einverstanden, lieber Mann?«
Durenald drückte stumm die Hand seiner Gemahlin und schaute sie mit feuchten braunen Augen innig an. ›Ich danke dir, mein liebes Herz‹, schien sein Blick zu sagen. Laut sagte er: »Wie soll das Kind heißen?«
»Zulhamin!« Erstaunt wandten sich alle zu Hilgert um. Es war das erste Wort, das der Stallmeister sprach, seit er der Herrschaft berichtet hatte, wie er das bewußtlose, stark blutende Mädchen und ihr Kind im Pferdestall gefunden hatte. Nun blickten ihn vier Augenpaare fragend an. »Sie hat immer gesagt, wenn es ein Bub werde, solle er Zordan heißen, und wenn es ein Mädchen werde, solle sie Zulhamin heißen. Es ist ein Mädchen, also heißt es Zulhamin.«
Hilgert verneigte sich, dann verließ er mit großen Schritten das Haus.