Читать книгу DSA: Die Löwin von Neetha Sammelband - Ina Kramer - Страница 7

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1. Kapitel

Der Firun war ungewöhnlich hart in diesem Jahr: Seit Wochen schon blies der Beleman unverändert heftig von Efferd her, zerrte am Schilf der Dächer, drückte Bäume und Sträucher zu Boden, zauste das struppige Winterfell der genügsamen Brelak-Ziegen, trieb eisige Gischtfetzen durch die Hafengassen von Neetha und verbarg Praios’ Antlitz hinter grauen Wolkenbahnen, die wie ein endloser Zug von Himmelsreitern vom Meer zu den Eternen flogen. »Sie tändeln wieder«, sagten die Leute mit besorgtem Blick und machten sogleich das Zeichen gegen Lästerung – ein kurzes Wedeln der Rechten vor dem Mund – damit die Worte verwehten und die Götter nicht wüßten, wer sie gesprochen hatte, auf daß Ihr Zorn den Lästerer nicht treffe. Doch war es mehr eine gut geübte und fast gedankenlose Geste – so wie man die Mütze zieht vor einer Edelfrau oder einem Edelmann und ›Praios zum Gruße‹ murmelt – als wirkliche Sorge vor dem göttlichen Zorn; schließlich wußte jedes Kind, daß der Herr Efferd wieder einmal um die stolze Frau Rondra warb, wenn er die Meere aufwühlte und Stürme über Land und Wasser trieb, und alle wünschten insgeheim, die kühne Löwin möge das Werben ihres göttlichen Freiers recht bald erhören, damit Er in seiner Liebesraserei nicht Unglück über die Menschen bringe.


»Ein böses Vorzeichen«, sagte Hilgert und kniff die Augen zusammen, als könne er so die grauen Schwaden besser durchdringen, die die nahen Hügelkuppen verhüllten.

»Schämt Euch, Alter, wie könnt Ihr so reden«, erwiderte Damilla aufrichtig empört, »die Frau liegt in den Wehen, und jeden Moment kann sie niederkommen, und Ihr faselt von schlechten Omen.« Die dralle junge Magd war um Feuerholz für die Wochenstube geschickt worden; im Hof hatte sie den alten Stallmeister getroffen, der dort mit gespreizten Beinen und in die Seiten gestemmten Armen aufrecht dem Sturme trotzte und unverwandt nach Osten blickte. Der Wind zerrte an seiner schweren Jacke, zauste sein langes graues Haar und blies ihm die Strähnen vors Gesicht, so daß er immer wieder unwirsch den Kopf schüttelte, um den Blick zu befreien, obwohl es nach Damillas Ansicht dort, wohin er so verbissen starrte, auch nichts anderes zu sehen gab als ringsumher: treibende Wolken und Nebelfetzen, schwankende Bäume und wirbelndes Laub, Staub und Unrat, die der Sturm vor sich her trieb. Das Mädchen hatte Mühe, die Scheite, die unter dem Vordach des Pferdestalles ordentlich gestapelt lagen, in ihre Kiepe und den großen Henkelkorb zu schichten, denn immer wieder versuchte der Wind, ihr die noch unbeschwerten Körbe zu entreißen. Auch war sie ängstlich darauf bedacht, ihre Röcke zu raffen und zwischen die Schenkel zu klemmen, damit kein Windstoß sie unschicklich entblößte. Ärgerlich und hastig raffte sie die Scheite zusammen, während der Wind mit ihrem langen Zopf spielte und ihn zu lösen begann. »Was schaut Ihr nur immer nach Osten«, rief sie, »dort ist doch nichts! Nach Westen solltet Ihr blicken und für die armen Fischer und Seefahrer beten, damit Efferd sie verschont.«

»Es ist ein böses Vorzeichen«, beharrte Hilgert, »siebenundzwanzig Tage lang hat er noch nie gewütet, so lange ich lebe nicht. Das ist nicht der Beleman und auch nicht Efferds Leidenschaft …« Wieder warf er das Haar zurück und zog grimmig die buschigen dunklen Brauen zusammen.

»Was soll’s denn dann sein, wenn’s nicht der Beleman ist«, entgegnete Damilla patzig, »der Baltrir vielleicht, oder der Horoban oder der …« Sie überlegte, ob ihr noch weitere der sieben Winde einfallen wollten. »Na, jedenfalls bläst der Beleman doch immer im Firun, wenn er’s auch diesmal etwas arg treibt.«

»Du bist ein Kind, du verstehst nichts.« Hilgert starrte weiter in die Ferne. Mit seinen siebenundsechzig Jahren war er zwar der Älteste des freiherrlichen Gesindes, aber wäre nicht sein graues Haar gewesen, wohl niemand hätte ihm so viele Götterläufe zugemessen. Der Stallmeister war ein hochgewachsener, ungebeugter Mann von ernster, strenger Wesensart, der Geselligkeit, Trunk und Würfelspiel mied, wenig sprach und kaum jemals lachte, weswegen die meisten ihn Firutim nannten (sofern sie nicht einfach ›Alter‹ oder ›alter Mann‹ zu ihm sagten). Seine dunklen Brauen, die große gebogene Nase und die schwarzen Augen ließen vermuten, daß Tulamidenblut in seinen Adern floß und daß sein graues Haar einstmals schwarz gewesen war. »Dort drüben wird es geschehen, weit hinter den Eternen«, sprach er mehr zu sich selbst als zu dem Mädchen. »Unheil wird kommen und Umwälzung …«

»Umwälzung?« Damilla hielt fragend inne. »Was meint Ihr damit?«

»Ich weiß es nicht, Mädchen, ich weiß es nicht. Aber es wird aus der Wüste kommen, dorther, wohin die Geister eilen und wo die Elementare sich sammeln, um es zu verhindern … Doch zu spät, zu spät …«

»Habt Ihr getrunken? Das ist doch sonst nicht Eure Art, oder ist der Sturm Euch aufs Gemüt geschlagen, daß Ihr so redet?« Damilla beobachtete den alten Stallmeister ein wenig besorgt. »Warum geht Ihr nicht in Eure Stube, wärmt Euch ein wenig und betet für die Frau, daß Tsa es ihr leichtmachen möge. Und auch für das Kind, damit’s ein schöner und gesunder Knabe wird.« Sie packte die letzten Scheite in den Korb, griff nach den Riemen der Kiepe und zog sie über die Schultern. Dabei löste sich ihr Rock aus der Umklammerung der Schenkel, und ein kräftiger Windstoß hob ihn hoch bis über den Kopf. Die Kälte und der scharfe Wind trafen ihren unter den Gewändern nackten Körper so unvermittelt und fast schmerzhaft, daß die Magd einen lei-sen Schrei ausstieß. »Bei Efferd, was für ein garstiges Wetter! Und jetzt fängt es auch noch an zu regnen!« rief sie empört, während sie hastig und wenig erfolgreich versuchte, ihre Kleider zu ordnen. Sie blickte verstohlen zu Hilgert, um zu sehen, ob er ihr kleines Mißgeschick bemerkt hätte, doch der Alte stand da so ungerührt und trotzig wie zuvor. »Ich muß mich nun sputen«, sagte Damilla, »und auch Ihr solltet besser ins Haus gehen, alter Mann, und das Spintisieren sein lassen.« Sie packte den Korb und stapfte, den Kopf eingezogen und die Augen halb zugekniffen, eilig zum Gutshaus zurück.

»Das ist kein Regen, das ist Schnee«, vernahm sie Hilgerts Stimme hinter sich.

»Schnee?!« Fast hätte das Mädchen den Korb fallen gelassen. Ungläubig riß sie die Augen auf. Tatsächlich, dort im Lichtschein der Laterne sah sie winzige weiße Kristalle tanzen. Und von Westen her trieb der Sturm weitere Schwaden des weißen Gewirbels herüber. »Schnee, Schnee, sieh nur, Alter, es schneit! Das muß ich der Frau erzählen.« Damilla war so aufgeregt, daß sie Wind und Kälte vergaß und gebannt das seltene Naturereignis beobachtete.

»Ja, Schnee – Geister und Elementare sammeln sich in der Wüste. Mögen die Zwölfe geben, daß es nicht zu spät ist. Dem Mädchen jedoch droht keine Gefahr bislang – ich hoffe es zumindest …«

›Welchem Mädchen?‹ wollte Damilla fragen, doch als sie die Tür zur Küche aufgestoßen und sich schnaufend ihrer Last entledigt hatte, war die Frage vergessen. »Es schneit, es schneit!« rief sie den um das Feuer versammelten Mägden und Knechten zu.


Seit Stunden streifte Freiherr Durenald von Brelak rastlos durch die Räume seines Hauses. Wo immer er sich blicken ließ, wurde er von der Dienerschaft mit so zartfühlender Freundlichkeit begrüßt und mit so leiser Stimme und so mitleidsvollem Lächeln nach seinen Wünschen gefragt, daß er sich vorkam wie ein Schwerkranker. Dabei strotzte er vor Kraft und Gesundheit.

Durenald von Brelak war ein etwas untersetzter Mann Anfang der Dreißig. Braune Locken umrahmten eine breite Stirn, braun waren auch die Augen, in denen nicht selten ein schalkhaftes Lachen blitzte, und die glattgeschabten, etwas vollen Wangen und der erste Ansatz eines kleinen Bauches verliehen ihm das Aussehen eines Mannes, der mit sich und der Welt im Einklang lebt. Sein ausgeglichenes Temperament, seine Milde und Grundehrlichkeit und sein Ernst in allen geistlichen Belangen machten ihn zu einem beliebten und geachteten Herrn. Zwar hatte er in seiner Jugend, den Konventionen und Traditionen des hiesigen Landadels folgend, ein paar Jahre lang die Garnisonsschule zu Neetha besucht, hatte recht ordentlich das Fechten gelernt und ein wenig über die Kriegskunst erfahren, hatte den Rondrakult studiert und mit großem Ernst und voller Hingabe bei den Schwertfeiern im Tempel des Sieges die heiligen Lieder gesungen, doch galt seine wahre Liebe der gütigen Frau Peraine: Wenn der Herr von Brelak seine Ländereien inspizierte, den Boden prüfte, die Krume nachdenklich zwischen den Fingern zerrieb und zugleich voller Stolz und Sorge die Keimlinge der neuen Saat betrachtete, dann unterschied er sich nur durch den größeren Ernst seines Tuns und das bessere Tuch seiner Gewänder von seinen Bauern.

Die günstige Lage seines Gutes – zum Meer hin durch ausgedehnte Wälder vor den allzu rauhen Winden geschützt und von Nordosten her vom beständigen, auf der langen Reise jedoch von allem Sengenden befreiten heißen Lufthauch aus der Khôm gestreift, zugleich mit Efferds Gaben reich, doch nicht überreichlich gesegnet – erlaubte es dem Freiherrn, neben den üblichen Feldfrüchten wie Rüben, Flachs und Korn, die stets ausnehmend gut gerieten und reiche Ernten einbrachten, auch seltene Gemüse güldenländischen Ursprungs anzubauen, wie die rotwangige saftige Tomate und die längliche, gerippte süß-herbe Paprika, denn die wenigen Frostnächte des Jahres beschränkten sich auf den Firun, und zumeist konnte schon Ende Tsa mit der Aussaat begonnen werden.

Gut Brelak war noch nicht sehr lange in Familienbesitz. Durenalds Großvater waren die Ländereien in seinem achtundvierzigsten Jahre als Dank und Anerkennung für seine tätige und furchtlose Hilfe bei der Aufdeckung eines Komplottes gegen den Markgrafen von diesem als Lehen verliehen worden, wodurch der alte Robak vom landlosen Edlen zum Freiherrn aufstieg. Durenalds Mutter hatte das Gut von ihrem Vater geerbt, hatte das Lehen sorgfältig, aber ohne große Begeisterung gepflegt, hatte sich vermählt und Durenald das Leben geschenkt, hatte das Gutshaus im Arivorer Stil erbaut und war so still gestorben, wie sie gelebt hatte.

Das war vor zwölf Jahren gewesen, und seitdem war Durenald Herr über Brelak. Auf seiner ruhelosen Wanderung durch das Haus hatte der Freiherr nun das anheimelnd kleine warme Zimmer erreicht, das zum Spielen, Plaudern, Teetrinken und dergleichen diente und das Bibliothek genannt wurde – wegen des nicht allzu großen Bücherschrankes, in dem sich neben einigen geistlichen Büchern, ein paar Reiseberichten und Romanen, wenigen ausgewählten Werken über Kriegskunst, Staatskunst und Rechtskunde eine erkleckliche Anzahl Bände zu landwirtschaftlichen Themen befand. Achtlos nahm er ein Buch aus dem Schrank und begann darin zu blättern, während draußen der Sturm an den verschlossenen Fensterläden zerrte. Es war ein schön illuminiertes Brevier der Zwölfgöttlichen Unterweisungen, doch Durenald konnte sich weder auf den Text konzentrieren, noch entlockten ihm die zierlichen Malereien das ehrfürchtige Staunen, das er gewöhnlich empfand, wenn er sie betrachtete. Nein, er war nicht in der rechten Stimmung für eine fromme Lektüre, obwohl er doch im Augenblick nichts dringlicher brauchte als den Beistand der Götter. Viel lieber wäre er jetzt ausgeritten, doch das war nicht möglich, und er wünschte es sich auch nicht wirklich. Oder nach Holzhacken stand ihm der Sinn, doch das hatten die Knechte bereits besorgt. Ach Kusmine, liebes Herz, könnte ich doch bei dir sein und dir helfen, dachte er, aber natürlich war es ihm verboten, die Wochenstube zu betreten.

Vor zwei Tagen nach dem Mittagsmahl hatte sein Weib ihm zugeraunt: »Durenald, Liebster, ich glaube, nun ist es bald soweit.« Und seitdem war er nicht mehr zur Ruhe gekommen. Nicht, daß Kusmine nicht gut vorbereitet gewesen wäre, o nein, sie war eine umsichtige, vorausplanende Frau, und vor Wochen schon hatte sie sich mit der Hebamme aus dem Dorf besprochen, Unterredungen voller weiblicher Geheimnisse, bei denen seine Gegenwart unerwünscht gewesen war. Und auch nach einem Medicus aus Neetha war schon geschickt worden, denn schließlich handelte es sich um die Geburt eines edlen Kindes, und es machte einfach einen besseren Eindruck, sich nicht mit der guten Danja allein zu begnügen, die ihr Handwerk von ihrer Mutter erlernt hatte und den Bauernkindern aus Brelak auf die Welt verhalf, sondern ihr einen Studierten zur Seite zu stellen. Der junge Mann – Durenald war der Name entfallen, aber Kusmine hatte den fähigsten gewählt, dessen war er sich gewiß – wohnte nun schon seit fünf Praiosläufen in einem der Gästezimmer und wartete darauf, daß man ihn rief. Auch die Wochenstube war schon lange vorbereitet. Im Grunde gab es keinen Anlaß zur Sorge – Kusmine war eine gesunde Frau und viel stärker, als ihr schlanker Wuchs vermuten ließ, und die Schwangerschaft war reibungslos verlaufen, mit rosigen Wangen, einem bis zur Unförmigkeit schwellenden Leib und zum Schluß diesem seltsam verträumten und nach innen gerichteten Blick, den er so sehr liebte und so wenig verstand. »Wie bei einem achtzehnjährigen Ding«, hatte Danja ihm strahlend mitgeteilt, und wäre er nicht der Herr gewesen, sie hätte ihn gewiß in die Seite geknufft, denn schließlich war die Herrin schon dreißig – ein Jahr jünger als er und vier Finger größer, fügte er in Gedanken hinzu.

Es war dieser ungewöhnlich hartnäckige Sturm, der ihn beunruhigte und der Kusmine nicht weniger Sorgen bereitete. Zwar hatten die Gatten, wenn sie Belanglosigkeiten über das Wetter tauschten, aus gegenseitiger Rücksichtnahme sich niemals ihre Befürchtungen eingestanden, doch kannten sie sich so gut, daß jeder um des anderen Sorgen wußte. Und dann die Schmerzen, die sie würde erleiden müssen… Heute morgen hatte er seine Frau zum letztenmal gesehen, als sie sich vor der Wochenstube feierlich von ihm verabschiedet hatte: »Leb wohl, mein lieber Mann, wir sehen uns wieder, wenn du Vater geworden bist. Bete für unser Kind und mich«, hatte sie gesagt, und dann, um die vierte Stunde nach Mittag, als der ohnehin schon dunkle Tag sich noch mehr verdunkelte, hatte er ihren ersten Schrei gehört, dem inzwischen weitere in immer geringeren Abständen gefolgt waren. Es lag ein grausamer Widersinn darin, daß die stolze und beherrschte Kusmine bei etwas so Alltäglichem wie einer Geburt mehr leiden mußte, als sie bei ihren wilden Schulgefechten, Mut- und Selbstbeherrschungsproben und ihrem einzigen Duell je gelitten hatte, und fast haßte Durenald das Kind dafür, daß es ihr solche Schmerzen bereitete.

Der Herr von Brelak erhob sich aus dem Sessel, auf dem er sich für einen Augenblick niedergelassen hatte, und stellte das Buch an seinen Platz zurück. Nein, er konnte jetzt nicht lesen, und auch das Beten war ihm unmöglich, obwohl er unablässig »Boron, verschone sie« und »Tsa, erbarme dich ihrer« vor sich hinmurmelte. Während er rastlos das Zimmer durchmaß und sich zwang, nicht voller Grauen des nächsten gräßlichen Schreis zu harren, beschwor er in seinem Geiste das Bild der Gemahlin. Er hatte Kusmine kennengelernt, als sie eben zwanzig war, doch wie sehr hatte er sich immer gewünscht, daß er ihr schon früher begegnet wäre. Zu gern hätte er das wilde blonde Mädchen gekannt und später dann die strahlende Absolventin der Vinsalter Akademie. Und wenn Durenald sich insgeheim eine Tochter wünschte, obwohl er seiner Frau einen Sohn wohl gönnte und auch oft und aufrichtig darum gebetet hatte, so deshalb, weil er dann eine kleine Kusmine heranwachsen sähe.

Kusmines Familie entstammte einem alten Adelsgeschlecht aus der Domäne Malur. Da die hohe Begabung der Tochter für die rondrianischen Fertigkeiten schon früh erkannt worden war, hatte man das Mädchen mit neun Jahren auf die Vinsalter Akademie der Kriegs- und Lebenskunst geschickt. Dort war sie zu einer stolzen jungen Frau herangewachsen, im Schwertkampf stets die Jahrgangsbeste, und hatte mit siebzehn Jahren ihr Abschlußexamen bestanden, mit Auszeichnungen nicht nur im Fechten, sondern auch in Etikette und rondrianischer Poesie. Ihre adelige alte Herkunft, ihr zu erwartendes, nicht eben unbedeutendes Erbteil, ihre vorzügliche Ausbildung und nicht zuletzt ihre Schönheit machten die junge Frau zu einer begehrten Partie bei den Adelshäusern des Reiches, und nicht wenige Freier warben um sie, so daß sie bald eine stattliche Sammlung von Miniaturen und Liebesbriefen in der Lade ihres Schreibtisches verwahrte. Doch bevor Kusmine ihre Wahl treffen konnte (da sie wußte, daß eine Liebesheirat eher unwahrscheinlich wäre, hatte sie sich vorgenommen, die Bewerber sorgsam zu prüfen, um einen ihr an Stand, Charakter und Gestalt ebenbürtigen Bräutigam zu finden), wurde die Familie von zwei furchtbaren Schicksalsschlägen heimgesucht: Vier Monde nach Kusmines glanzvollem Examen wurde ihr geliebter und verehrter älterer Bruder Roderick, Hauptmann bei den Kusliker Seesöldnern, von den Zorgan-Pocken dahingerafft, und kaum einen halben Götterlauf später stand die Familie am Rande des Ruins. Der alte Baron, aus Trauer um den Sohn halb umnachtet, hatte fast seine gesamte Habe in ein betrügerisches Unternehmen gesteckt, das hohe Gewinne abzuwerfen versprach – eine gepflasterte Straße durch die Khôm, die natürlich niemals gebaut wurde. An Heirat war nun nicht mehr zu denken, das verbot Kusmines Stolz. Und so begab die junge Frau sich in die Obhut ihrer Tante Melsine, die bei den Truppen der markgräflichen Garnison zu Neetha den Rang einer Hauptfrau bekleidete. Ihr ausgezeichnetes Zeugnis, ihr Stand und ihr sicheres Auftreten verschafften Kusmine sogleich eine Stellung als Weibelin, und da sie strebsam und diszipliniert war, hätte sie es gewiß zur Obristin gebracht, wäre sie nicht Durenald begegnet.

Sich an seine erste Begegnung mit Kusmine zu erinnern, bereitete Durenald immer eine besondere Freude. Es geschah in einer Hafengasse in Neetha. Dort erblickte er die junge Soldatin, als er nach einem ausgedehnten Mahl bei einem Geschäftsfreunde müßig durch die Stadt schlenderte. Sie führte einen kleinen Trupp Bewaffneter in den Uniformen der markgräflichen Gardisten, und ihre blinkende Brünne und der Federbusch auf ihrem Helm zeigten Durenald, daß sie den Rang einer Weibelin bekleidete. Zwar war der junge Freiherr nicht ganz unerfahren im Umgang mit dem anderen Geschlecht, doch eine so plötzlich aufwallende Leidenschaft – er war geneigt, es Liebeskrampf zu nennen – wie beim Anblick dieser Dame hatte ihn zuvor noch niemals heimgesucht. Waren es ihr hoher Wuchs, ihre helle Haut, ihre schlanke Gestalt, die von der Brünne nicht verunstaltet, sondern vielmehr rondragleich erhöht wurde, oder war es der kühne Blick ihrer blauen Augen unter den leicht zusammengezogenen Brauen, der dieses unerwartete Gefühl in ihm erweckte? Durenald wußte es nicht zu sagen. Er wußte nur, daß er die Weibelin unbedingt kennenlernen mußte, und der Abstand zwischen ihnen verringerte sich zusehends. So fiel ihm, als sie sich etwa auf gleicher Höhe befanden, nichts Besseres ein, als einen zierlichen Kratzfuß zu machen, das Barett zu ziehen und mit einem schalkhaften Lächeln die Worte zu sprechen: »Schönes Fräulein, darf ich Euch meinen Schutz und Geleit antragen?«

Zu Durenalds Überraschung ließ die Gardistin ihn nicht unbeachtet stehen, sondern hielt inne, maß ihn von Kopf bis Fuß und erwiderte mit einem mühsam unterdrückten Lächeln: »Wenn ich einmal Eures Schutzes und Eurer Begleitung bedarf, werde ich es Euch wissen lassen, werter Herr.«

Am folgenden Tag schickte der Herr von Brelak ein Entschuldigungsschreiben zum Garnisonsgebäude zusammen mit einer beim besten Zuckerbäcker der Stadt eilig in Auftrag gegebenen Torte, die, aus Zuckerguß und Marzipan gestaltet, mit dem Bild einer brüllenden, krallenbewehrten Löwin geschmückt war (soweit das mit Zuckerguß und Marzipan eben möglich ist). So begann die Liebesgeschichte von Kusmine und Durenald.

»Es war die Torte, mit der ich dein Herz erobert habe«, pflegte Durenald zu sagen, wenn die Gatten sich den Beginn ihrer Liebe ins Gedächtnis riefen.

»Nein, die Locken«, erwiderte Kusmine dann wohl, »braune Locken machen mich nun einmal schwach. Aber ich habe sogleich gesehen, daß du einen halben Spann kleiner bist als ich.«

»Vier Finger, liebes Herz, vier Finger«, bekam sie stets zur Antwort.

Geradlinig, wie sie war, bat Kusmine um ihren Abschied, als ihr klar wurde, daß sie den Rest ihres Lebens an Durenalds Seite verbringen wollte. Es fiel ihr nicht leicht, sich vom soldatischen Leben zu trennen, doch die Aussicht, in Brelak eine Bürgerwehr zu errichten, erleichterte ihr den Abschied von Neetha, der Garnison und ihrer Tante. Zudem hoffte sie, Durenald eine Schar von Kindern zu schenken, die sie selbst in den rondrianischen Künsten unterweisen wollte, bevor sie nach Neetha auf die Schule geschickt würden. Schon sah sie im Geiste die lockenköpfigen kleinen Krieger und Kriegerinnen vor sich, wie sie mit ihren Holzschwertern fochten und auf ihren Ponys wilde Tjosten ritten. Doch Tsa hatte es anders entschieden. Fünf Jahre lang lebten die Gatten zusammen, bevor der kleine Tsafried Praios’ Licht erblickte. Und er sollte die vier Jahre, die ihm vergönnt waren, geschwisterlos bleiben.

Klein-Tsafried war seiner Eltern Glück und Sonnenschein. Braungelockt wie der Vater und mit den strahlendblauen Augen der Mutter, hatte es nie ein schöneres Kind gegeben, weder in Brelak noch in der gesamten Markgrafschaft, wie alle, die ihn sahen, Kusmine und Durenald gern bestätigten. Von seinem Vater hatte er die Liebe zu allem Lebendigen geerbt, und gleichermaßen andächtig bestaunte er die sprießende Saat und die neugeborenen Kätzchen. Doch war er nicht weichlich, wie Kusmine mit Genugtuung bemerkte. Schon früh maß er seine Kräfte mit den Dorfkindern, und wenn er bei den kindlichen Raufereien auch manche Schramme davontrug, so sah man ihn doch nur selten weinen. Und auch das Reiten machte ihm große Freude: Schon mit drei Jahren saß er sicher im Sattel seines Ponys, und wenn Kusmine ihn beobachtete, wie er mit wilden Rufen und heftigen Hieben der kleinen Schenkel sein winziges Pferd zu mehr Tempo zu zwingen trachtete, so mischte sich in ihrem Herzen Stolz auf die rondragefällige Kühnheit ihres Sohnes mit mütterlicher Sorge.

Beim Reiten geschah es dann auch. Niemand wußte, warum das Pferdchen gescheut und seinen kleinen Reiter abgeworfen hatte – Dörfler fanden den leblosen Knaben und das friedlich grasende Tier auf einer Wiese am Wald und brachten beide mit kummervoller Miene zum elterlichen Gutshaus. Drei Tage währte es, bis Boron Klein-Tsafrieds Leiden ein Ende setzte und ihn zu sich rief, und weder der Medicus noch der Eltern verzweifelte Gebete vermochten ihn zu retten.

Nach dem Verlust ihres Kindes war Kusmine nicht mehr dieselbe wie zuvor. Sie zerraufte sich nicht das Haar und zerkratzte sich nicht den Busen, sie schrie nicht und zerfloß nicht in Tränen, noch haderte sie mit den Göttern – jedenfalls nicht so, daß man es hätte sehen oder hören können. Nein, ihr Herz schien erstorben, und obwohl auch Durenald um seinen Sohn trauerte und manche Träne um ihn weinte, so war ihm das Ausmaß ihres Kummers fremd und fast unheimlich. Fünfzehn trostlose Monde vergingen, in denen Kusmine ihrem Gemahl kein Lächeln oder Scherzwort schenkte und ohne Lust und Freude sein Lager teilte, so daß der Freiherr allmählich an ihrer Liebe zweifelte, da segnete Tsa von neuem ihren Leib.

Und mit dem neuen Leben, das in ihr wuchs, kehrten auch Mut, Tatkraft und Zuversicht zu ihr zurück.

Ja, die vergangenen neun Monde waren eine schöne Zeit, dachte Durenald. Und nur die letzten Wochen, seit der Sturm so unablässig und unbarmherzig wütete, waren von einem zarten Nebel der Sorge verdunkelt worden. Warum nur gönnten der unberechenbare Herr Efferd und die stolze Frau Rondra seinem armen Weib keine ruhige Niederkunft? Zornig ballte der Freiherr die Faust und hieb auf das Schreibpult beim Fenster. Dabei fiel sein Blick auf einen Brief, der seit dem Morgen, als der Bote ihn gebracht hatte, ungeöffnet dort lag. Er kam von Zordan Fuxfell, dem Halbbruder Kusmines. Was mochte der Bursche wollen? Durenald war ihm erst zweimal begegnet und schätzte ihn nicht sonderlich, aber das hatte nichts zu bedeuten – er liebte nun einmal keine stutzerhaft gekleideten Männer mit aufgezwirbeltem Schnurrbart. Die Lektüre wird mich ablenken, dachte er, während er das Siegel erbrach. Fuxfell weiß ebenso geschmeidig zu schreiben, wie er zu reden versteht, und es wird eine knifflige Aufgabe werden, aus dem Geklingel der vielen schönen Worte Sinn und Absicht des Schreibens herauszufiltern. Doch er hatte sich geirrt. Der Brief war kurz, und nach den üblichen Begrüßungsfloskeln stand dort: ›… wird es mir eine Freude sein, sobald das Wetter das Reisen wieder erlaubt, Euch, lieber Schwager, und Dir, schöne Schwester, und auch dem neuen Prinzchen oder Prinzeßchen meine Aufwartung zu machen.‹ Nun, das ist freundlich, dachte Durenald, und es wird auch Kusmine freuen.

Die Tür wurde aufgerissen, und Danja stürmte ins Zimmer – rot, verschwitzt und strahlend. »Euer Edelgeboren, Tsa sei Dank, es ist vorüber! Und meine allerherzlichsten Glückwünsche zu der schönen Tochter!«

Durenald brauchte einen Augenblick, um die Worte der Hebamme zu begreifen. Dann spürte er plötzlich, wie ihm das Wasser in die Augen schoß, und blinzelnd schloß er die kräftige Frau in die Arme und drückte ihr einen Kuß auf die Wange. »Wie geht es meiner Frau?« flüsterte er.

»Ausgezeichnet, Herr, nur ein wenig matt ist sie noch. Aber kommt doch nur – Ihr dürft die Wöchnerin besuchen, und sie freut sich schon darauf, Euch das Kindchen zu zeigen.«

Halb benommen stapfte Durenald hinter Danja zur Wochenstube. Dort, in dem großen, mit weißem Linnen frisch bezogenen Bett saß halb aufgerichtet seine Frau und lächelte ihn glücklich und müde an. Im Schein der Kerzen und des Feuers wirkte sie nicht so blaß, wie er erwartet hatte, und nur das feucht am Kopfe klebende Haar kündete von der überstandenen Anstrengung. Ein kleines, gut verschnürtes Bündel ruhte in ihrem Arm. Beim Anblick seiner Kusmine erfaßte ihn eine Woge von Liebe, und rasch eilte er zu ihr und barg den Kopf an ihrer Schulter, damit sie seine Tränen nicht bemerkte. »Ich danke dir, mein liebes Herz«, stammelte er flüsternd, »ich danke dir für diese schöne Tochter.«

»Dann schau sie dir doch einmal an, ob sie auch wirklich schön ist.« Kusmine reichte Durenald lächelnd das Bündel. Unsicher betrachtete er das rote, von der Geburt ein wenig verschwollene Gesichtchen, das sich eben zum Greinen verzog. Nein, schön ist sie nicht, dachte er, aber sie wird es, so die Götter wollen, noch werden. Und er fühlte, daß er das Kind schon jetzt liebte. Gerührt lauschte er dem dünnen Schrei, der dem zahnlosen Mündchen entwich. Doch was war das? Etwas war anders als zuvor, doch wußte er zunächst nicht zu sagen, was es war. Das Greinen war deutlich zu hören und auch das Knistern des Feuers, aber sonst – nichts. Es war still, der Sturm hatte sich gelegt!

Auch die anderen hatten es bemerkt, doch ergriff Kusmine als erste das Wort. »Es hat aufgehört zu stürmen, endlich, Rondra sei Dank«, sagte sie mit einem Seufzer der Erleichterung. »Ich will es als gutes Omen nehmen. Damilla, bitte öffne das Fenster und laß ein wenig frische Luft herein, das wird mir guttun.«

Die Magd gehorchte, öffnete Fenster und Läden, dann stieß sie einen Schrei aus. »Weiß! Alles ist weiß!« rief sie aufgeregt. »Schaut nur, alles ist weiß!«

Danja, die ihr am nächsten stand und die den Wunsch der Herrin mit leiser Mißbilligung aufgenommen hatte – als erfahrene Hebamme hielt sie gar nichts von winterlicher Frischluft in der Wochenstube –, trat ans Fenster und blickte hinaus. »Bei Firun, welche Pracht«, murmelte sie bewegt, »soviel Schnee hab ich mein Lebtag nicht gesehen.«

Das ganze Land war wie verzaubert: Alle Wolken hatten sich verzogen, und im silbrigen Schein des fast vollen Madamales glitzerten allüberall die zarten Kristalle, aus denen die weiße Decke bestand, die sich über Wiesen und Äcker, Häuser und Katen, Büsche und Bäume gebreitet und alle Formen gerundet hatte. Und eine unwirkliche Ruhe lag über dem Land – fast glaubte man die Stille zu hören.

»Was ist das?« fragte Danja plötzlich. »Dort steht ein Tier, aber ich erkenne nicht genau, was es ist – ein Hirsch vielleicht …?«

»Wo?« fragte Damilla, und die Hebamme wies ihr mit der Hand die Richtung. »Das ist ja ein Löwe!« rief das Mädchen erschrocken. »Nein, eine Löwin, sie hat ja keine Mähne!« Mit angstgeweiteten Augen wich sie vom Fenster zurück.

Durenald, der, seit er von dem Schnee gehört hatte, eine unbändige Begierde verspürte, das seltene Naturwunder zu betrachten, und sich zugleich nicht lösen mochte von Frau und Tochter, warf Kusmine einen fragenden Blick zu. »Nun, geh schon, lieber Mann, und sieh dir den Schnee an«, sagte sie lächelnd. »Doch gib mir zuvor unsere Tochter wieder – die kalte Luft mag ihr schaden. Und sag mir, welch seltenes Tier dort draußen wandelt.« Durenald trat ans Fenster und blickte hinaus.

Lange schwieg er, ganz ergriffen von der Schönheit des Anblicks. Ein Tier jedoch war nicht zu sehen. »Dort ist nichts«, sagte er, »außer Firuns ganzer Pracht. Es gibt auch keine Löwen in Brelak«, wandte er sich belehrend an Damilla, »du wirst einen Schakal gesehen haben, der sich aus den Bergen hierher verirrt hat. Morgen werden wir seine Fährte aufnehmen und ihn, so Firun will, zur Strecke bringen, auf daß er uns nicht die Ziegen reißt. Und nun möchte ich für ein Weilchen mit meiner Frau und meiner Tochter allein sein.«

Als alle den Raum verlassen hatten, ließ Durenald sich auf einem Schemel neben dem Wochenbett nieder und ergriff die Hand seiner Gemahlin. »Mein liebes Herz, ich bin so stolz auf dich, meine tapfere, kleine, große Kriegerin.« Zärtlich betrachtete er ihr schönes Antlitz. »Hast du schon einen Namen für sie gewählt? Tsaiane vielleicht …?«

»Tsaiane ist ein schöner Name«, erwiderte Kusmine, »und seit ich weiß, daß du dir all die Monde lang eine Tochter gewünscht hast, habe ich recht oft über ihren Namen nachgedacht. Ich finde, wir sollten sie nach meiner Tante Melsine und nach deinem Vater Thalion nennen. Melsine und Thalion – Thalionmel.«

DSA: Die Löwin von Neetha Sammelband

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