Читать книгу DSA: Die Löwin von Neetha Sammelband - Ina Kramer - Страница 9

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3. Kapitel

Klein-Thalionmel weinte laut und zornig. Sie schätzte es gar nicht, gewindelt und gewickelt zu werden. Viel lieber wollte sie mit ihren rundlichen kleinen Beinen im Sonnenlicht strampeln, das als heller schräger Balken durch das Fenster in die Kinderstube und auf das Wickeltischchen fiel. Aber die Kinderfrau hatte kein Erbarmen; mit einem energischen Griff packte sie die kleinen rosigen Füße und hatte trotz heftiger Gegenwehr des Säuglings die Beine bald in die Stellung gebracht, die sie benötigte, um die weichen Wickeltücher ordnungsgemäß darumzuwinden. »Bist ein kräftiges kleines Persönchen«, sagte sie lachend, »aber es hilft dir nichts, noch bin ich stärker als du. Und nun hör auf zu weinen – was soll denn die Herrin von uns beiden denken, wenn sie die nassen Wangen und das triefende Näschen sieht?« Vorsichtig tupfte Witwe Westfahr das Gesicht des Kindes trocken. Bei den der Reinlichkeit und Pflege dienenden Verrichtungen hatte sich ihr Haarknoten allmählich gelöst, und nun fiel eine dicke Strähne in Reichweite der winzigen Säuglingshände. »Au!« entfuhr es der Kinderfrau, als die Fingerchen sich in ihrem Haar verkrallten und energisch zogen. »Hast wirklich Bärenkräfte, mein Liebling, aber nun laß los!« Doch das Kind hörte nicht auf sie und zog immer fester, wobei allmählich die Tränen versiegten und das kleine Gesicht vor Freude erstrahlte.

Die Tür wurde aufgerissen, und Kusmine, erhitzt und ein wenig außer Atem, stürmte ins Zimmer. Sie hatte soeben ihre Fechtstunde absolviert, zu der regelmäßig seit ihrer Eheschließung einmal im Mond ein Fechtlehrer aus Neetha anreiste und dann für einige Tage als Gast, Lehrmeister und Übungspartner der Herrin im Gutshause weilte. Auch Durenald hatte in den ersten Jahren fleißig am Unterricht teilgenommen, später, als die Zeit und die gute Verpflegung durch Küchenmeisterin Titina ihm ein wenig von seiner Beweglichkeit genommen hatten, beschränkte sich die Teilnahme mehr und mehr aufs Zuschauen, wobei er es sich niemals versagen konnte, Kusmine nach der Lektion zuzuflüstern, daß es eigentlich an dem Fechtlehrer sei, sie, Kusmine, zu bezahlen, anstatt umgekehrt. An diesem Morgen jedoch war er schon früh ausgeritten, da er seinem Weib für den nächsten Praiostag einen saftigen Wildschweinbraten versprochen hatte.

»Thalionmel, kleine Kriegerin, laß dich anschauen!« rief Kusmine und streckte die Arme nach ihrer Tochter aus. Die Kinderfrau reichte ihr den Säugling, der beim Anblick der Mutter sogleich aufjauchzte. »Was ist das, Susa?« fragte Kusmine und wies auf die kleine Faust des Kindes.

»Oh, Euer Edelgeboren, das Kindchen hat beim Wickeln nach meinem Haar gegriffen und mir tatsächlich ein Strähnchen ausgerauft.«

»So kräftig ist sie schon«, murmelte Kusmine nicht ohne Stolz. »Ich hoffe, sie hat dir nicht zu weh getan.«

Kusmine hielt ihre Tochter mit ausgestreckten Armen in die Höhe. Das Kind lachte, ruderte mit den Ärmchen, und auch die Beinchen regten sich und stießen, soweit es die Fessel der Wickelbänder eben zuließ. Unvermittelt warf Kusmine den Säugling in die Luft. »Was tut Ihr, Herrin!« rief die Kinderfrau erschrocken. »Bei allen Zwölfen, nein!« Doch die Frau von Brelak hatte ihre Tochter sicher wieder gefangen, und das Jauchzen des Kindes ließ keinen Zweifel daran, daß ihm der Flug gefallen hatte.

»Siehst du, Susa, sie hat keine Angst«, stellte Kusmine mit Genugtuung fest, »eine Enkelin des Irineius von Malur fürchtet sich nicht vor dem Fliegen.« Noch dreimal gönnte sie dem Kind das Vergnügen, das jedesmal ›Mehr, mehr!‹ zu rufen schien, dann preßte sie es ungestüm an ihren leichten Lederharnisch und küßte das zarte Blondhaar wild und innig. »Und nun wollen wir einmal schauen, wo dein Vater mit dem Braten bleibt«, sagte sie, öffnete das Fenster und gab einem Stallburschen im Hof Anweisung, ihr Pferd zu satteln. Dann wandte sie sich an die Kinderfrau: »Susa, gib mir eine Decke und das Häubchen.«

Witwe Westfahr sah sie überrascht an. »Wozu?« fragte sie.

»Damit sie sich nicht verkühlt, natürlich – Mitte Peraine kann man ein so junges Kind doch nicht ungeschützt der Waldluft aussetzen.« Kusmine drohte der Frau scherzend mit dem Finger. »Das solltest du als Kinderfrau eigentlich wissen.«

»Ihr wollt sie doch nicht etwa mitnehmen, Herrin! Um Praios’ willen, nein!« Erschrocken streckte Susa die Hände nach ihrem Pflegling aus, um ihn Kusmine abzunehmen, doch diese hielt ihr Töchterlein fest und drehte sich mit ihm im Kreise.

»Wir reiten in den dunklen Tann, wo Wolf und Nachtwind hausen …«, begann sie eine alte Weise zu singen.

»Reiten?« unterbrach Susa den Gesang. »Ach, Euer Edelgeboren, tut mir das nicht an! Wie soll das angehen? Wollt Ihr sie Euch auf den Rücken binden? Ach, mein armer kleiner Liebling!«

»Auf den Rücken binden, das ist keine schlechte Idee«, lachte Kusmine, Susas kummervoller Miene nicht achtend. »Ich habe gehört, daß die Waldmenschenfrauen ihre Kinder auf dem Rücken tragen, und die Nivesinnen und sogar manche der hiesigen Bäuerinnen tun es wohl auch. Aber da wir hier weder im kalten Nivesenland sind noch im hitzigen Dschungel und ich auch keine Bäuerin bin, habe ich mir etwas anderes ausgedacht. Paß auf …« Und nun erläuterte sie der Kinderfrau ausführlich die Bauweise des Sattelkörbchens, das der alte Hilgert nach ihren Anweisungen geflochten und dergestalt mit ledernen Bändern versehen hatte, daß einerseits ein Herausfallen des Kindes verhindert wurde, andererseits ein sicherer Halt sowohl am Sattel als auch am Pferd gewährleistet war. »Ich finde, mit fast drei Monden sollte sie sich allmählich ans Reiten gewöhnen«, beendete sie ihre Ausführungen, »oder was meinst du, kleine Kriegerin?« Und wie zur Bestätigung begann Thalionmel zu lachen.

Als Kusmine mit ihrem Kind davonritt, blickte Susa den beiden kopfschüttelnd nach. Wann wird unsere wilde Herrin endlich vernünftig werden? schien ihr Blick zu sagen.

Die neunte Stunde war schon halb vorüber, als Kusmine das Dorf hinter sich ließ. Sie hatte ihre Lederrüstung gegen ein Reitkleid aus leichtem grünen Tuch getauscht, mit knapp geschnittenem Jäckchen und engen Beinkleidern, in denen Durenald sie besonders gern sah. Zwar hoffte sie, ihn noch vor der Mittagsstunde zu treffen, doch hatte sie vorsichtshalber ein wenig Proviant und einen Schlauch mit verdünntem Wein mitgenommen. Und die Atzung für mein Kleinod trage ich in meinem Körper, dachte sie befriedigt. Sie schaute sich nach dem Kind um, aber Thalionmel erwiderte ihren Blick nicht; mit großen Augen bestaunte sie den Ausschnitt der Welt, den zu sehen ihr von ihrer gutgepolsterten Lagerstatt aus möglich war: den Himmel, die zarten weißen Wölkchen, die von Westen her aufzogen, die Bäume und die Vögel, die emsig ihr Nistgeschäft betrieben.

Kusmine ritt auf der Straße, die in nordwestlicher Richtung zur Reichsstraße führte. Es war kaum mehr als ein vielbenutzter und gut ausgefahrener Karrenweg, und als sie nach einer knappen Stunde den Wald erreicht hatte, konnte man kaum noch von Straße sprechen. Man sollte endlich den Ausbau des Weges in Angriff nehmen, ging es ihr durch den Kopf, als der Zweig eines dicht am Wege stehenden Baumes ihre Schulter streifte, das wäre sicherer und würde es dem Gesindel schwerer machen. Aber solange die anderen Gutsherren und -damen auf diesem Ohr taub sind und auch der Graf kein Interesse zeigt, wird es damit wohl nichts werden. Sie folgte weiter der schmalen Straße, genoß die kühle Luft, den Gesang der Vögel und das anmutige Spiel von Licht und Schatten, das Sonne und Blätter auf den Weg zauberten. Durenald wird mich schelten, daß ich niemanden mitgenommen habe, dachte sie und mußte lachen. Wenn es um ihre Sicherheit ging, vergaß der Gute allzuleicht, daß sie eine erfahrene Kämpin war und kein Vinsalter Zierpüppchen. Und seit sie vor knapp zehn Jahren damit begonnen hatte, eine Bürgerwehr zu errichten, zu rüsten und zu schulen, war es hier im ›Wilden Süden‹ viel ruhiger geworden – rings um Brelak zumindest. Ja, die Übergriffe durch Wegelagerer und Strauchdiebe hatten in den letzten Jahren merklich abgenommen.

Gutgelaunt und voller Rondravertrauen setzte Kusmine ihren Weg fort. Wie überrascht würde Durenald sein und wie sehr würde er sich freuen, nicht nur sie, sondern auch sein süßes Töchterlein zu sehen. Just in diesem Augenblick begann das Kind zu greinen. »Was gibt’s, kleine Kriegerin, schon wieder hungrig?«

Sie wandte sich lachend zu dem Säugling um, dessen Weinen nun lauter und fordernder wurde. »Aber ein klein wenig gedulden mußt du dich noch – erst müssen wir ein passendes Plätzchen zum Rasten finden. Und sieh einmal, auch ich muß mich gedulden«, fuhr sie fort, »oder denkst du, ich wollte die Milch nicht bald loswerden, die mir in die Brüste schießt, daß es zieht und spannt.« Wieder war es, als habe das Kind sie verstanden, denn nach ein paar letzten heftigen Schluchzern verebbte der Tränenstrom. »So ist es tapfer, kleine Kriegerin«, lobte Kusmine, »den Hunger überwinden und den Kummer niederkämpfen. Und nun sollst du auch bald belohnt werden – Frau Peraine, die Nährerin, ist dir hold. Siehst du die kleine Lichtung dort drüben? Da wollen wir rasten.«

In wenigen Augenblicken war die Lichtung erreicht. Kusmine saß ab, breitete eine Decke auf dem Boden aus und befreite das Kind vorsichtig aus dem Körbchen. Obwohl die Praiosscheibe noch nicht den höchsten Stand erreicht hatte, verspürte auch sie ein wenig Hunger, und so nahm sie, nachdem sie die Zügel des Pferdes um einen Ast geschlungen hatte, Brot und Wein aus der Satteltasche, um sich nach dem Stillen selbst zu laben. »Vielleicht sollten wir hier auf deinen Vater warten, was meinst du?« wandte sie sich an den Säugling, während sie ihr Mieder öffnete, aber Thalionmel ruderte nur ungeduldig mit den Ärmchen, und ihr Interesse galt ganz offensichtlich allein der weichen mütterlichen Brust. Als sie die feste Knospe am Gaumen spürte, begann sie gierig zu saugen.

Kusmine genoß das Stillen; sie liebte es jedesmal, aber heute, hier im Wald, umhüllt von den Düften der Erde und der Pflanzen, der lebendigen Ruhe rings umher und dem kühlwarmen Halbschatten, war es ihr eine ganz besondere Freude. Halb schloß sie die Augen, lehnte sich an den Baumstamm, bei dem sie das Lager aufgeschlagen hatte, und ließ ihre Gedanken ziellos treiben. Während Bilder der letzten Liebesnacht, der mit jedem Tag schöner und kräftiger werdenden Tochter, der Fechtstunde am Morgen, der gepanzerten Handschuhe, die sie jüngst beim Harnischmacher in Neetha in Auftrag gegeben hatte, bunt und ungeordnet in ihrem Geist vorüberzogen, reichte sie dem Säugling die rechte Brust, nachdem er sich an der linken halb gesättigt hatte.

Plötzlich wurde die Brust kräftig zurückgestoßen; blitzschnell war Kusmine aus ihrem halben Schlummer erwacht und in die Wirklichkeit zurückgekehrt. »Was ist dir, Kind?« Überrascht sah sie den Säugling an. Thalionmel hatte die zarten Brauen gehoben und wandte wie lauschend das Köpfchen in Richtung der Straße. Kusmine folgte ihrem Blick, doch bevor sie etwas sah, hörte sie es schon: ein kurzes Wiehern und dann das Geräusch von galoppierenden Hufen auf weichem Boden. »Ob das dein Vater ist?« sagte sie mehr zu sich selbst, aber der Ausdruck der kindlichen Züge zeigte Überraschung, fast Bestürzung, und kein freudiges Strahlen erhellte sie wie sonst stets bei der Erwähnung des Vaters. Angestrengt spähte Kusmine durch die Zweige, und dann sah sie das Pferd, einen reiterlosen Apfelschimmel – kein Tier aus dem gutsherrlichen Stall und keines, das sie je in Brelak gesehen hatte. »Es muß ein Unglück geschehen sein«, murmelte sie, und schon war sie auf den Beinen, hatte das Kind auf die Decke gelegt, ihr Mieder geschlossen und in wenigen Wimpernschlägen die Zügel vom Ast gewunden und sich selbst in den Sattel geschwungen. »Rondra, Herrin, hab acht auf meine Kleine!« stieß sie hervor, während sie zur Straße sprengte. Und wenn du zuläßt, daß auch diese mir genommen wird, dann sollst du in deinen Hallen vergeblich auf mich warten, fügte sie in Gedanken grimmig hinzu.

Sobald Kusmine die Straße erreicht hatte, sah sie, was geschehen war: In etwa fünfzig Schritt Entfernung wälzten sich drei Gestalten kämpfend am Boden. Augenblicklich wußte Kusmine, wie sich der Überfall abgespielt haben mußte. Die beiden Wegelagerer – daß es sich um solche handelte, daran gab es keinen Zweifel – hatten ihrem Opfer aufgelauert, das sie sich vermutlich schon auf der Reichsstraße als solches erkürt und seitdem verfolgt hatten (sie mußten also über Pferde verfügen), es vom Pferd gerissen und versuchten nun, den Mann zu überwältigen und auszurauben, denn um einen Mann handelte es sich bei dem Opfer, wohingegen die Strauchdiebe ein Pärchen mittleren Alters und nordländischen Aussehens waren (Albernier vermutlich). Bei Rondra! Am hellen Tag! dachte Kusmine. Der Kampf war eine üble und ungleiche Rauferei, denn das Opfer, ein schlanker, gutgekleideter junger Mann, wie Kusmine im Näherkommen erkannte, war so unglücklich gefallen, daß er sein Rapier nicht erreichen konnte, und die Räuber waren entweder unzureichend oder gar nicht bewaffnet. Aber sie waren ihrem Opfer an Kräften weit überlegen. Das Weib, halb auf dem Jüngling kauernd, teilte mit ihren großen knochigen Fäusten gewaltige Hiebe aus, unter denen er sich wimmernd krümmte, während ihr Gefährte ihn immer wieder mit seinen schweren Stiefeln trat.

Als Kusmine das Messer aufblitzen sah, war sie fast heran, das Schwert in der Rechten. Aber die Wegelagerer hatten sie inzwischen bemerkt, hielten inne, und nach einem kurzen Blickwechsel verschwand die Frau im Wald rechts neben der Straße. Ihr Kumpan jedoch, sich seiner Gewandtheit und günstigen Position bewußt – zwischen ihm selbst und den gefährlichen Pferdehufen lag der junge Mann halb besinnungslos am Boden –, zeigte mit einem häßlichen Grinsen Kusmine sein von Kämpfen oder Folterungen grauenhaft entstelltes Antlitz, dann schnitt er blitzschnell einen Beutel vom Gürtel des Opfers und war mit zwei Sätzen im Gesträuch links des Weges verschwunden.

»Gesindel, wagt es noch einmal …!« rief Kusmine ihm nach, dann sprang sie aus dem Sattel und eilte dem Verletzten zu Hilfe.

Der junge Mann war offenbar nicht lebensgefährlich verletzt. Leise stöhnend wand er sich im Straßenstaub, die Rechte in die Magengrube, die Linke zwischen die Beine gepreßt. Kusmine beugte sich über ihn und berührte vorsichtig seine Schulter. »Mein Herr«, begann sie, »wie geht es Euch? Könnt Ihr sprechen? Euch erheben?«

Der Mann hob beim Klang der Stimme mühsam den Kopf und blickte sie aus einem dick verschwollenen Auge an.

»Zordan! Um Praios’ willen!« schrie Kusmine auf. »Was tust du hier? Was haben sie dir angetan?« Und dann begann sie, ohne eine Antwort abzuwarten, mit kundigen Fingern und geübtem Blick die Blessuren ihres Halbbruders zu untersuchen. »Es scheint nichts gebrochen zu sein, Rondra sei Dank«, murmelte sie. »Versuch dich zu erheben«, fuhr sie fort, »ich werde dich stützen.« Statt einer Antwort stöhnte Fuxfell laut auf, als Kusmine ihn unter den Achseln packte und auf die Füße zu stellen versuchte. »Beiß die Zähne zusammen, kleiner Bruder«, sagte sie zärtlich, aber bestimmt, »es muß gelingen! Du kannst hier nicht liegenbleiben.«

Zordan Fuxfell bot ein Bild des Jammers, als er schließlich auf zitternden Beinen stand, den Kopf eingezogen, den Rücken gekrümmt und die Hände nach wie vor an den schmerzenden Leib gepreßt. Mit Kusmines Hilfe gelangen ihm ein paar mühsame Schritte. »Kannst du reiten?« fragte sie teilnahmsvoll.

Fuxfell schüttelte den Kopf. »Nicht reiten«, stöhnte er.

»Nun«, meinte sie nachdenklich, »wenn du nicht reiten kannst, dann mußt du gehen – das wird hart, aber wir schaffen es schon.«

Doch Zordan Fuxfell schüttelte wiederum den Kopf. »Nicht gehen«, wimmerte er, »hol einen Wagen.«

»Sei vernünftig, Zordan«, erwiderte die Schwester, »ich kann dich nicht allein hier zurücklassen – sie könnten wiederkommen…«

Sie könnten wiederkommen! Es war wie ein Hieb, ein Schwertstreich, ein Blitzschlag. Eine eiskalte Hand griff nach Kusmines Herzen, das für einen Moment zu schlagen aufhörte. »Meine Tochter!« schrie sie. »Mein Kind!« Mit einem Satz hatte sie sich aufs Pferd geschwungen und sprengte zur Lichtung zurück. Wenn die Banditen ihr Kind geraubt hätten – sie wagte nicht, den Gedanken zu Ende zu führen, sie wußte nur eins: Falls ihrer Tochter ein Haar gekrümmt worden wäre, dann würde sie die Schuldigen verfolgen bis ans Ende der Welt, wenn es sein müßte, und sie würde sie mit allen Martern der Dämonenhöllen strafen: sie bei lebendigem Leibe häuten und rösten und pfählen und vierteilen und …

Kusmine hatte die Lichtung erreicht, und da lag Klein-Thalionmel, friedlich und satt, blinzelte in die Sonne und haschte mit den winzigen Fingern nach einem Schmetterling.

Vom Pferd zu springen, das Kind samt Decke zu ergreifen und wieder aufzusitzen, war eine Sache von Wimpernschlägen.

Als Kusmine, das Kind an die Brust gepreßt, zu ihrem Halbbruder, der stöhnend an einem Baum lehnte, zurückgekehrt war, vernahm sie fernen Hufschlag. Sichernd schaute sie sich um, dann reichte sie Zordan den Säugling, doch dieser machte keine Anstalten, das Kind entgegenzunehmen. »Was ist?« fragte sie schärfer als beabsichtigt, »willst du dich nicht deiner Nichte annehmen, wenn ich in wenigen Augenblicken deinen Bedrängern entgegentrete?«

Aber Fuxfell schien sie nicht zu hören oder zu verstehen. »Hol einen Wagen, hol einen Medicus, laß mich nicht allein«, wimmerte er nur und war sich der Unvereinbarkeit seiner Wünsche offenbar nicht bewußt.

»Bei Rondra, ich fasse es nicht«, zischte Kusmine, und wilder Zorn loderte in ihren Augen auf. »Nun reiß dich zusammen, Memme, dir fehlt doch nichts!«

»Mememem«, wiederholte Thalionmel, und kleine Speicheltröpfchen flogen ihr vom Mund. Der scharfe Ritt im Arm der Mutter hatte ihr gut gefallen und ihr immer wieder kleine jauchzende Wonnelaute entlockt. Nun blickte sie Zordan mit ihren wachen blauen Augen aufmerksam an. »Mememem«, sagte sie.

Wie vom Donner gerührt hielt Kusmine inne. »Du kannst sprechen?!« entfuhr es ihr.

»Mememem, rörörö«, antwortete der Säugling lachend und griff nach dem Haar der Mutter.

Da besann Kusmine sich ihrer Pflichten und legte das widerstrebende Bündel ins Sattelkörbchen. Mit wenigen hastigen Griffen hatte sie die Bänder festgezurrt. »Nun gut, wollen wir schauen, wer uns die Ehre gibt«, flüsterte sie ihrer Tochter zu. Dann zog sie ihr Schwert und erwartete, aufrecht und reglos im Sattel sitzend, die Ankunft der Banditen.

Es waren zwei Reiter und drei Unberittene, wie Kusmine erkannte, als die fünf Gestalten an der fernen Biegung der Straße auftauchten. Aber irgend etwas stimmte nicht mit ihnen: Weder schienen sie es eilig zu haben, noch waren sie im mindesten darauf bedacht, unentdeckt zu bleiben. Ja, es hatte gar den Anschein, als sprächen oder scherzten sie miteinander.

»Durenald!« rief Kusmine. »Durenald!« Sie winkte heftig mit der Linken, dann steckte sie das Schwert in die Scheide zurück und sprengte ihrem Gemahl entgegen.

Auch Durenald hatte sie inzwischen erkannt und beschleunigte seinen Ritt. »Kusmine, liebes Herz, welche Freude, dich zu sehen«, sagte er, als er sie erreicht hatte. »Doch was ist dir?« fügte er besorgt hinzu, als er den merkwürdig fremden Ausdruck ihrer Augen bemerkte, in dem sich Bestürzung, Grimm und Erleichterung mischten. »Und was verbirgt sich in dem seltsamen Körbchen hinter deinem Sattel?«

»Unsere Tochter«, erwiderte Kusmine knapp und atemlos, »das Reiten macht ihr Freude.«

Durenald schob die Decke zur Seite und lächelte warm, als er das zierliche Gesichtchen seines Kindes erblickte, das beim Anblick des Vaters heftig strampelte und mit den Ärmchen fuchtelte. »Meinst du nicht, sie ist noch ein wenig zu jung zum Reiten?« wandte er sich an seine Frau. »Nun, du wirst es am besten beurteilen können«, fügt er nach einer kurzen Pause hinzu. »Doch nun sag mir, was dich bedrückt.« Bevor Kusmine antworten konnte, hatte Durenald den verletzten Fuxfell entdeckt, der noch immer zitternd und stöhnend an dem Baum lehnte, wo die Schwester ihn zurückgelassen hatte. »Um der gütigen Frau Peraine willen, wer ist das? Was ist geschehen?«

Leise und eisern bemüht, das Beben ihrer Stimme zu unterdrücken, berichtete Kusmine, was sich zugetragen hatte. Statt einer Antwort und statt des halb erwarteten Vorwurfs ergriff Durenald ihre Hand und drückte sie heftig. »Mein armes Herz«, flüsterte er, dann wandte er sich an seine Begleiter, einen Jäger und drei Bauern aus dem Dorf. »Der Bruder eurer Herrin ist auf dem Ritt hierher von Wegelagerern überfallen und übel zugerichtet worden. Wie es scheint, ist er zu schwach zum Reiten. Schlagt also ein paar junge Bäume und baut eine Pferdetrage, damit wir ihn sicher und schonend zum Gutshaus bringen können.« Er stieg vom Pferd, eilte zu Fuxfell hinüber und wechselte ein paar leise Worte mit ihm. »Kusmine«, sagte er, »mach dir keine Sorgen. Reite getrost voraus – ich kümmere mich um deinen Bruder. Die Schurken werden nicht zurückkehren, und falls doch …« Er klopfte lächelnd auf das Kurzschwert an seiner Seite und wies auf seine Begleiter, die mit Bögen, Speeren und Dolchen bewaffnet waren und bei den Worten ihres Herrn ernst und beflissen nickten.

»Ich werde einen Wagen schicken, sobald ich Brelak erreicht habe«, sagte Kusmine so laut, daß ihr Bruder sie hören mußte, denn inzwischen überwog das Mitleid ihren Groll, und es tat ihr leid, daß sie so grob mit ihm gesprochen hatte. »Und die Mägde sollen eine Krankenstube herrichten, und ich werde Danja rufen lassen – sie versteht sich auf Wunden und Heilkräuter und dergleichen. Lebt also wohl!« Sie schenkte Durenald ein ernstes, inniges Lächeln und nickte seinen Begleitern zu. »Wir sehen uns später.«


Danja, die Hebamme, Kräuterfrau und Heilerin, verließ soeben die Krankenstube. Auf leisen Sohlen, den Zeigefinger auf die Lippen gelegt, näherte sie sich dem Freiherrn von Brelak, der sie mit sorgenvoller Miene erwartete. »Er schläft«, flüsterte sie, »und das ist jetzt auch das beste für ihn.«

»Aber wie geht es ihm?« wollte Durenald wissen. »Wie schwer sind seine Verletzungen?«

»Oh, Euer Edelgeboren« – Danja strahlte, wie sie es immer tat, wenn die Götter und ihre Kunst ein Unglück verhindert hatten –, »wir müssen der guten Frau Peraine danken. Sie hat wohl Ihre Hand über Euren Herrn Schwager gehalten, damit ihm kein ernster Schaden widerfuhr. Nein, kein Knochen ist gebrochen, und innere Wunden hat er auch nicht davongetragen, und da er ein junger und gesunder Mann ist und ich seine Schrammen und Kratzer gut versorgt und verbunden habe, kann er morgen schon wieder« – sie hielt inne und wiegte nachdenklich den Kopf –, »nein, übermorgen – tanzen, fechten, reiten … lieben.« Sie zwinkerte Durenald verschwörerisch zu. »Kurz und gut: Der Herr von Fuxfell …«

»Nur Fuxfell«, unterbrach sie Durenald.

»Wie meinen, Euer Edelgeboren?«

»Er heißt Fuxfell, ohne von.«

»Nun gut. Also der Herr Fuxfell wird übermorgen wieder ganz der alte sein. Bis auf ein paar blaue Flecken natürlich – aber die vergehen.«

»Danke, Danja.« Durenald klopfte der Frau anerkennend auf die Schulter und drückte ihr einen kleinen Beutel in die Hand.

»Dankt nicht mir, Herr, dankt der Frau Peraine, die die guten Kräuter wachsen läßt«, erwiderte sie, nahm den Beutel aber gern und begann sogleich, mit kundigen Fingern den Inhalt zu ertasten (fünf Silberstücke), während sie ihn in ihrer Tasche verschwinden ließ.

Kurz nach Danja verließ auch Kusmine die Krankenstube, die als gutausgebildete Kriegerin fast ebensoviel von Blessuren und deren Behandlung verstand wie die Kräuterfrau. Sie lächelte ihren Gatten an. »Nun ist doch alles zu einem guten Ende gekommen, was so schlimm begann«, sagte sie und ergriff Durenalds Hände. »Wir haben ihm einen Schlaftrunk eingeflößt, denn der Schlaf ist in seinem Fall die beste Medizin – er läßt ihn auch Angst, Zorn und Schrecken vergessen.«

»Ach Kusmine, liebes Herz«, lachte Durenald, »was bist du doch für eine fürsorgliche Schwester! Aber dein kleiner Bruder scheint mir, mit Verlaub, ein rechter Zimperalrik zu sein.« Er suchte den Blick seiner Frau, um sich zu vergewissern, daß seine Worte sie nicht verletzt hätten, doch Kusmine lächelte verständnisinnig. »Und überhaupt«, fuhr er fort, »wieso hat er sich von zwei halbverhungerten und unbewaffneten … Du sagtest doch, daß sie unbewaffnet waren?«

Kusmine nickte. »Einer hatte ein Messer«, sagte sie dann.

»Wie dem auch sei«, fuhr Durenald fort, »wieso hat er sich von zwei nahezu unbewaffneten Banditen verprügeln lassen? Er hat doch ein schönes Rapier. Trägt er es nur zur Zierde?«

Kusmine hob Achseln und Hände in einer Geste der Ratlosigkeit. »Ich weiß es nicht, lieber Mann«, sagte sie, »aber sei nicht gar so streng mit ihm. Zordan ist kein Krieger – er hat das Fechten nie geliebt und auch nicht gut gelernt. Vielleicht trägt er seine Waffe wirklich mehr zur Zierde oder um das Gesindel abzuschrecken.«

»Abzuschrecken? Nun, das ist ihm ja über alle Maßen gut gelungen! Da haben sie ihm dann vor lauter Schreck nicht das Leben, sondern nur seine Dukaten genommen! Mein Kompliment dem Waffenschmied.«

»Durenald, so kenne ich dich gar nicht«, lachte Kusmine, »so bissig und ironisch. Aber ich kann nicht sagen, daß es mir mißfällt. Wie sich alles zugetragen hat, werden wir morgen erfahren. Doch um Zordans Dukaten müssen wir uns schwerlich sorgen – er wird seine Barschaft nicht offen am Gürtel getragen haben. Niemand ist so leichtsinnig, auch Zordan nicht. Wahrscheinlich waren in dem Beutel nur ein paar Kupfer- oder Silbermünzen … oder Pfeifenkraut …« Wieder hob sie Schultern und Hände in der ihr eigentümlichen Geste. »Obwohl …« Sie wurde nachdenklich. »In seinen Stiefeln habe ich kein Geld gefunden, und innen im Gürtel war auch nichts eingenäht. Dann verwahrt er es vermutlich in den Satteltaschen – also doch ein wenig leichtsinnig, der Gute …« Plötzlich hielt sie inne. »Satteltaschen? Hat man sein Pferd gefunden?«

»Einen Apfelschimmel? Eine schöne, aber etwas furchtsame Stute? Ja, die ist gefunden worden und wird in unserem Stall von Hilgert gut umsorgt«, beruhigte Durenald seine Gemahlin, »und auch das Gepäck deines Bruders ist in Sicherheit. Wenn du willst, lasse ich es gleich in seine Kammer bringen.«

»Ach nein, ich denke, das hat Zeit bis morgen. Heute wollen wir seinen Schlummer nicht mehr stören. Weißt du«, sagte Kusmine nach kurzem Sinnen, »ich bin sehr froh, daß Zordan endlich den Weg zu uns gefunden hat. Es zeigt doch, daß er uns zugetan ist – dir und mir und dem Kind wohl auch … Wer sollte unser Kleinod nicht lieben …« Sie nahm ihren Gatten beim Arm und führte ihn zur Kinderstube. »Früher hatte ich bisweilen den Eindruck, daß er einen Groll gegen mich hegt«, nahm sie ihren Gedanken wieder auf, »obwohl ich nie unfreundlich zu ihm war oder ihn mit Hochmut oder Herablassung behandelt hätte … Es wird der Neid des Bastards gewesen sein, denke ich, der Neid auf meine Geburt, auf meinen Stand, meine gute Ausbildung …«

»Deine Schönheit«, unterbrach sie Durenald und faßte sie um die Hüfte.

»Meine gute Partie«, fuhr Kusmine lächelnd fort und legte nun ihrerseits dem Gatten den Arm um die Schulter und zog ihn fest an sich. »Mein Glück …«

»Du hast nicht immer Glück gehabt im Leben und bist auch nicht immer glücklich gewesen«, widersprach Durenald. Doch sogleich bereute er seine Worte, als er spürte, wie Kusmine kaum merklich erstarrte.

»Nein, nicht immer«, sagte sie leise, »aber dennoch halte ich mich für einen von den Göttern verwöhnten und begünstigten Menschen.« Sie hielt inne und blickte ihren Gatten ernst und voller Liebe an. »Soll ich dir sagen, was ich glaube? Ich glaube, Boron hat uns den kleinen Tsafried genommen, um uns daran zu gemahnen, daß wir unser Glück nicht uns selbst verdanken, sondern jenen, die alle unsere Geschicke lenken. Und jeden Tag und jede Stunde müssen wir sie preisen für die Gaben, mit denen sie uns segnen … War es nicht Frau Rahja, die es so gefügt hat, daß wir uns in Neetha begegnet sind? Ist es nicht Frau Peraine, die deine Äcker und Gärten segnet Jahr für Jahr? Ist es nicht Frau Travia, die täglich über unserem Heime wacht? Ist es nicht Frau Rondra, die mir Mut und einen starken Körper verliehen hat? Und müssen wir Frau Tsa nicht innig danken für die schöne Tochter, die sie uns geschenkt hat?«

»Du hast recht, liebes Herz, so wie du immer recht hast«, sagte Durenald zärtlich, »und da du sie erwähnst, unsere schöne Tochter, so möchte ich sie gern sehen.«

»Ja, komm nur, Liebster, und schau sie dir an – sie wird mit jedem Tag schöner und kräftiger. Ich wollte ohnehin gerade zu ihr eilen, um sie zu nähren für die Nacht.«

In nachdenkliches Schweigen gehüllt, setzte das Paar den Weg zur Kinderstube fort. Plötzlich lachte Kusmine. »Und ist es nicht Herr Firun, der uns den schönen Braten geschenkt hat?« fragte sie. »Oder war Er dir etwa nicht gewogen? Du weißt, daß du mir für den Praiostag eine junge Bache versprochen hast, nicht wahr?«

»Und was ich verspreche, das halte ich auch, mein liebes Herz.« Durenald zog Kusmine an sich und küßte sie. »Am Praiostag wirst du dich am zartesten und saftigsten Wildbret laben können, das je deinen Gaumen verwöhnte.«

Lange standen die Gatten am Bettchen ihrer Tochter, lachten und scherzten mit dem Kind und konnten nicht genug davon bekommen, die Vollkommenheit der Gliedmaßen, das strahlende Blau der Augen und die Schönheit des blonden Lockenhaares zu bewundern, das in Anbetracht des zarten Alters schon recht üppig auf dem Köpfchen sproß.

»Und nun bitte ich dich, uns zu verlassen«, sagte Kusmine schließlich, »du weißt, daß wir zwei beim Stillen am liebsten ungestört unter uns sind.«

Mit gespieltem Schmollen wandte Durenald sich zum Gehen. »Darf ich heut nacht auf deinen Besuch hoffen?« fragte er.

»Natürlich, Liebster.«

»Nun, ich kann es kaum erwarten, Geliebte.« Und mit einem galanten Kratzfuß verabschiedete Durenald sich von seiner Gemahlin.


Zwei Tage später war Zordan Fuxfell fast völlig wiederhergestellt. Das immer noch ein wenig geschwollene und verfärbte Auge verbarg er unter einem bunten Seidentuch, was ihm nach Damillas Ansicht ein ungeheuer verwegenes, fast freibeuterhaftes Aussehen verlieh und seine männlichen Reize noch erhöhte. Die junge Magd war sehr beeindruckt von dem Gast des Hauses, und ein Funke glomm in ihrem Herzen auf, obwohl sie ihn seit seiner Ankunft in Brelak erst dreimal gesehen hatte – das erste Mal, als man ihn, blaß und leidend zwar, doch wunderschön und elegant, vor zwei Tagen in der offenen Kutsche zum Gutshaus gebracht hatte, das zweite Mal gestern, als sie seine Kammer ausfegen mußte, und das dritte Mal am heutigen Morgen, als es ihr vergönnt war, ihm das Frühstück aufs Zimmer zu bringen.

»Halt dich fern von dem jungen Herrn«, ermahnte Hilgert sie, als sie ihm mit geröteten Wangen von dem seelenvollen Ausdruck des einen sichtbaren Auges, von der vornehmen Bildung der männlich-schlanken Hände, dem warmen Klang der Stimme und der über alle Maßen zierlichen Ausdrucksweise des neuen Gastes berichtete.

»Warum?« fragte das Mädchen überrascht. Der düstere Blick des Stallmeisters bohrte sich so tief in die braunen Augen der Magd, daß es ihr nach einer kurzen Weile schien, als schaue er sie nicht an, sondern durch sie hindurch, und ein Gefühl von Beklommenheit bemächtigte sich ihrer und vertrieb ihre Freude und gute Laune. »Warum?« wiederholte sie, trotzig diesmal.

»Er wird Kummer und Unglück über dich bringen, wenn du ihm zu nahe kommst.«

»Immer redet Ihr so, alter Mann.« Damilla senkte den Blick und wand gedankenverloren das Ende ihres dicken braunen Zopfes um den Finger. »So daß man ernst wird, wenn man vorher lustig war, und traurig, wenn man vorher froh war. Gönnt Ihr denn keinem eine Freude, oder könnt Ihr in die Zukunft schauen und seht dort nur Schlimmes und Böses?« Der letzte Satz war wohl nicht als Frage gemeint, denn schon plapperte sie weiter, das Zopfende immer verbissener zwirbelnd. »Als das junge Fräulein zur Welt gekommen ist, da habt Ihr auch von schlechten Vorzeichen geredet, aber das Kind ist ganz gesund und schön und hat alle Finger und Zehen, und die Frau hat sich schon nach drei Tagen vom Wochenbett erhoben, und die Saat ist gut aufgegangen, und der Herr und die Herrin leben in traviagefälliger Eintracht. Und jetzt … und nun, da ich Euch nur erzählt habe, welch vornehmer und freundlicher Mann der Halbbruder unserer Herrin ist und wie wohlgesetzt er zu reden versteht, da sagt Ihr, daß er mich ins Unglück stürzen wird. Warum? Wollt Ihr mich ärgern? Ich habe doch nichts Schlechtes gesagt oder getan.«

»Ich will dich nicht ärgern, Kind«, erwiderte Hilgert sanft, schaute das Mädchen jedoch so ernst, ja fast grimmig an, daß sie unwillkürlich einen Schritt zurückwich, »und ich kann auch nicht in die Zukunft blicken, aber oft fühle ich es, wenn ein Unglück sich naht – das muß nicht morgen oder übermorgen sein oder in einem Mond …«

»In einem Mond ist der Herr Fuxfell längst abgereist; ich hab’s mit eigenen Ohren gehört, wie er gesagt hat, daß ihn dringende Geschäfte nach Kabash rufen.« Damilla nestelte weiter an ihrem Zopf und schob trotzig die Unterlippe vor.

»Und warum ist er nicht von Methumis gleich dorthin gereist? Es liegt ja fast am Wege.«

»Ich weiß nicht, wo Methumis und Kabash liegen, aber wahrscheinlich wollte er zuerst sein neues Nichtchen besuchen. Seht Ihr, das ist es, was ich meine: Immer seid Ihr mißtrauisch und macht ein Firunsgesicht, so lang und finster, daß man selbst eins kriegt …« Damilla hielt verlegen inne, aber der Alte schien ihre Worte nicht gehört zu haben.

»Ich bin nicht froh über diese Gabe, die eher eine Strafe ist«, sagte er, »da ich weder weiß, was die Zukunft bringen wird, noch, wie ich das Unglück verhüten soll, das ich erahne. Auch du wirst meinen Rat nicht befolgen, dich fernzuhalten von dem jungen Herrn …«

»Er beachtet mich ja gar nicht«, fiel Damilla ihm ins Wort. »Er kennt bestimmt die feinsten Damen von Methumis und Kabash, wie soll ihm da eine wie ich gefallen? Ich bin ihm sicher zu dick und zu dumm …«

»Du bist frisch und jung, du gefällst ihm«, sagte Hilgert bestimmt, »doch nun muß ich mich wieder meiner Arbeit zuwenden, und auch du wirst gewiß schon im Haus oder in der Küche vermißt.« Brüsk wandte der Alte sich um und stapfte mit großen Schritten zum Stall.


»Und wann darf ich endlich das kleine Prinzeßchen sehen?« fragte Fuxfell und hob erwartungsvoll Braue und Lid des unverhüllten Auges. Er hatte sich soeben mit Durenald und Kusmine zur Mittagstafel begeben, der ersten gemeinsamen Mahlzeit.

»Sehen dürfen?« lachte Kusmine und schnitt sich ein großes Stück des saftigen Wildschweinbratens ab – ein Meisterwerk Titinas mit einer Sauce aus frischen Frühlingskräutern, tulamidischen Spezereien und getrockneten Waldpilzen. »Keiner hat sie dir bisher vorenthalten, und es ist das erste Mal, daß du nach ihr fragst. Aber ich freue mich ja, daß du es tust, und auch daß es dir ganz offensichtlich besser zu gehen scheint.« Sie legte eine Pause ein, um den Bissen in den Mund zu stecken, ihn mit Behagen zu kauen und zu schlucken. »Nun«, sagte sie mit einem kurzen Blick unter leicht gerunzelten Brauen zu dem fahlen Blauton, den die Arivorer Butzenscheiben vom Himmel übrigließen, »es dürfte jetzt etwa eine Stunde nach Mittag sein. Wenn es sich mit deinen Plänen deckt, dann werden die beiden Kriegerinnen dich um die dritte Stunde in der Kinderstube erwarten.«

Zordan Fuxfell deutete eine Verbeugung in Richtung seiner Halbschwester an. »Es wird mir ein Vergnügen und eine Ehre sein, den schönen Damen des Hauses meine Aufwartung zu machen.« Dann wandte er sich an Durenald, dem er, den suchenden Blick des Gastgebers bemerkend, mit verbindlichem Lächeln eine Schüssel voll duftender Hirseklöße reichte. »Aber wollt Ihr den Damen nicht auch die Ehre geben, teurer Schwager? Ein Familienidyll in der Kinderstube.« Das Lächeln wurde breiter. »Und wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, dann habe ich nicht nur für die liebreizenden Kriegerinnen Präsente in meinen Satteltaschen, sondern auch eine Kleinigkeit für Euch.«

Als Zordan Fuxfell zwei Stunden später die Kinderstube betrat, bot sich ihm ein Bild, wie es traviagefälliger nicht sein konnte: Kusmine thronte auf einem rotgepolsterten Sessel, das gutgelaunte Wickelkind auf dem Schoß. Ihr zur Seite saß ihr Gatte auf einem niedrigen Schemel und versuchte erfolgreich, durch das Ausstoßen seltsamer Laute, bei deren Erzeugung sich seine Züge aufs absonderlichste verzerrten, das Kind zum Lachen zu bringen. Kusmine beobachtete Durenalds Treiben mit lächelndem Kopfschütteln, konnte sich aber der allgemeinen Heiterkeit nicht entziehen; sie warf den Kopf in den Nacken und lachte hell auf, als es an der Tür klopfte.

Susa öffnete und ließ mit einem flüchtigen Knicks den Neuankömmling ins Zimmer treten. »Braucht Ihr mich noch, Euer Edelgeboren?« fragte sie.

»Nein, geh nur, Susa«, erwiderte die Angesprochene, »und laß dir von Titina eine Erfrischung bereiten. Und sag Damilla, sie soll Tee und Gebäck bringen.«

Fuxfell verharrte beim Anblick der Familie kurz in gespielter Anbetung und preßte die Linke an die Brust. »Welch ergreifendes Bild, man sollte es malen«, hauchte er. Dann näherte er sich mit federnden Schritten seiner Nichte und verneigte sich tief. »Schönstes Fräulein, nehmt mein Herz, das ich Euch zu Füßen lege.«

Das Kind hatte, als Fuxfell das Zimmer betrat, ihrem Vater, der, als es klopfte, rasch seine Züge geordnet und ihnen einen verbindlichen Ausdruck verliehen hatte, keinerlei Aufmerksamkeit mehr geschenkt, sondern beobachtete vielmehr jede Bewegung des Gastes mit großen wachsamen Augen. Nun richtete Fuxfell sich auf und lächelte seine Nichte an.

Thalionmel erwiderte den Blick des einen schwarzen Auges ernst und unerschrocken. »Fürwahr, ein schönes Kind, liebe Schwester«, wandte sich Fuxfell an Kusmine. »Wie heißt sie noch gleich?«

»Thalionmel.«

»Ein ungewöhnlicher Name, aber man wird sich daran gewöhnen – man wird sich daran gewöhnen müssen, nicht wahr, kleine Thalionmel? Denn in ein paar Jahren wirst du nicht nur sämtliche Männerherzen brechen, du wirst auch deine Widersacher das Fürchten lehren, so grimmig, wie du schaust. Ja, eine glänzende Karriere liegt vor dir, meine Teure, um die ich dich beneiden könnte, wäre ich nicht dein Onkel und getreuer Beschützer. Darf ich dir nun zum Zeichen meiner onkelhaften Zuneigung einen Kuß auf die Stirn drücken?«

Als Fuxfell sich mit gespitzten Lippen dem kleinen Blondschopf näherte, wich das Kind zurück und versuchte den Kopf am Busen der Mutter zu verbergen.

»Oh, man ziert sich?« Fuxfell konnte einen winzigen Anflug von Ärger in Stimme und Miene nicht unterdrücken.

»Es wird die Augenbinde sein, die ihr Angst macht, lieber Schwager«, sagte Durenald lachend. »Einäugige sind ihr bisher noch nicht begegnet.«

»Nun, wenn ich ihr nicht gefalle, so finden doch vielleicht meine Gaben Gnade vor ihren Augen.« Fuxfell holte ein Bündel aus seiner Tasche, in dem es leise klapperte und das er nun behutsam öffnete. Es enthielt buntbemalte Holzfigürchen – Pferde, Reiter und Soldaten.

Thalionmel hatte beim Klappern der Holzpüppchen den Kopf gewandt und beobachtete gebannt, wie Fuxfell eine winzige Soldatin (nach dem verschwenderischen Gebrauch von Silber- und Goldlack auf Helm und Panzer zu urteilen, wohl eine Rittfrau oder Obristin) aus dem Bündel klaubte und ihr zögernd reichte. Mit hellem Jauchzen griff sie danach. Fest schlossen sich die kleinen Finger um das blinkende Ding, und dann begann sie wie wild zu fuchteln und zu hopsen.

»Ja, das ist ein Spielzeug nach deinem Geschmack, kleine Kriegerin!« lachte Kusmine. »Und wenn du erst etwas größer bist, wirst du auch richtig damit spielen können. Danke, Zordan«, wandte sie sich an ihren Bruder, »du siehst ja selbst, welche Freude du ihr gemacht hast.« Wie, um die mütterlichen Worte zu bekräftigen, streckte der Säugling fordernd die leere Linke aus, und die Fingerchen griffen und streckten sich nach etwas Unsichtbarem.

»Nun, dann laß mich einmal schauen, was ich für das andere Händchen habe«, sagte Fuxfell, während er in dem linnenen Beutel kramte. »Wie wäre es mit diesem verwegenen Söldner?« Er reichte Thalionmel das bunte Figürchen. Gierig griff sie danach, doch plötzlich schleuderte sie mit einer gleichzeitigen heftigen Bewegung beider Arme Obristin und Söldner weit von sich, wobei sie ihren Onkel nur um Spannbreite verfehlte. »Wie kann man nur so ungezogen und undankbar sein?« fragte Fuxfell leise. Einen Wimpernschlag lang funkelte Zorn in seinem Auge. Dann bückte er sich, um die Figürchen aufzuheben. »Für heute ist es wohl genug«, meinte er, während er sie zurück in den Beutel legte.

»Ach, Schwager, nehmt es ihr nicht krumm, sie weiß doch gar nicht, was sie tut.« Durenald lächelte freundlich. »Aber zeigt mir einmal die Püppchen – sie scheinen ja ganz allerliebst zu sein.« Vorsichtig leerte er den Beutel auf den Wickeltisch und stellte den Inhalt auf. Er enthielt eine winzige Streitmacht, bestehend aus Rittern und Rittfrauen samt ihren Streitrössern, Knappen, Pikenieren und Bogenschützen. Aber auch die Gegenspieler der tapferen Soldaten kamen nun zum Vorschein: ein Oger, zwei Trolle, eine Handvoll Orks und eine Schar abenteuerlich bewaffneter Räuber, zu denen auch der Söldner gehörte.

»Wirklich ganz reizend«, sagte Kusmine, die ihren Gatten bei seinem Tun beobachtete. »Das wird bestimmt ihr liebstes Spielzeug werden, wenn sie alt genug dafür ist. Und bis dahin werde ich es gut verwahren – und vielleicht hin und wieder selbst damit spielen«, fügte sie lachend hinzu. »Da fällt mir ein«, sagte sie, als ihr Blick auf die hölzerne Räuberbande fiel, »daß ich dir« – sie schaute ihren Halbbruder an – »noch gar nicht erzählt habe, daß ich gestern mit meinen besten Leuten das Waldstück durchkämmt habe, wo du überfallen worden bist. Denn, so sagte ich mir: Wo zwei sind, kann auch leicht ein Nest sein. Aber wir haben keine Spuren eines Lagers entdeckt. Wahrscheinlich waren es wirklich nur die beiden, und sie haben so schnell wie möglich das Weite gesucht. Ich vermute, daß sie dir schon seit der Reichsstraße gefolgt sind. Du bist doch sicherlich …« Plötzlich hielt sie inne. »Wo ist dein Ring?« fragte sie überrascht. »Du trägst den Ring deiner Mutter nicht mehr?«

»Mein Ring, oh …« Fuxfell war bei Kusmines Worten fast unmerklich zusammengezuckt. Nun betrachtete er seine Hand und knetete den ringlosen Finger. »Der Ring meiner Mutter …«

»Waren das etwa auch die Räuber?« unterbrach ihn Kusmine.

»Ja, gewiß, die Räuber«, antwortete Fuxfell erleichtert. Dann straffte er sich und legte so viel gerechten Zorn und heilige Empörung in Blick und Stimme, wie ihm möglich war und angemessen erschien. »Da du selbst das Gespräch auf den Verlust meines Ringes bringst, liebe Schwester«, begann er, »so muß ich dir leider sagen, und auch Euch, Schwager, daß ich in euren Wäldern nicht nur der teuersten Erinnerung an meine geliebte verstorbene Mutter beraubt wurde, sondern daß eure Räuber mir auch mein gesamtes Vermögen genommen haben, welches ich am Gürtel trug, so daß ich nun gleichsam als Nackter vor euch stehe.« Er seufzte tief.

»Euer ganzes Geld?!« entfuhr es Durenald.

»So ist es, Schwager. Die Strauchdiebe in Euren Wäldern haben mich ausgeraubt bis auf den letzten Heller.«

»Gemach, Bruder!« Kusmine hob die Brauen, und ein leichter Anflug von Röte färbte ihre Wangen. »Du redest gerade so, als ob wir Schuld an deinem Unglück hätten, fast so, als wären wir verantwortlich für jeden Strolch, der die hiesigen Wälder unsicher macht. Doch hör mir zu: Erstens ist der Wald, in dem du überfallen worden bist, nicht der unsere. Er gehört dem Grafen, aber Durenald ist es gegen ein Entgelt an seinen Lehnsherrn gestattet, dort firungefällig zu jagen. Zweitens« – ihre Stimme wurde ein wenig schärfer – »halte ich mit meiner Bürgerwehr seit nunmehr fast zehn Jahren Durenalds Lehen weitgehend frei von Gesindel und Räuberpack, und drittens kann ich kaum glauben, daß sich in dem Beutel an deinem Gürtel dein gesamtes Vermögen befunden haben soll. Ich hab ihn ja gesehen – mehr als fünfzig Dukaten paßten gewiß nicht hinein.«

»Vierunddreißig Dukaten, zwei Silbertaler und fünf Heller«, korrigierte Fuxfell finster, »dazu …«

»So wenig?« rief Kusmine empört. »Was hast du mit dem Geld unseres Vaters angestellt?«

»Unterbrich mich nicht, Schwester!« Auch Fuxfell hob nun die Stimme, »… das Geld also und dazu drei Schuldscheine über dreißig, neunzig und hundert Dukaten, so daß mein Vermögen, das die Räuber eurer Gegend mir genommen haben, sich auf insgesamt zweihundertvierundvierzig Dukaten, zwei Silberstücke und fünf Heller beläuft und ich somit das Geld unseres Vaters um mehr als vierzig Goldstücke vermehrt habe.«

»Schuldscheine?« fragte Durenald. »Wie kommt Ihr an Schuldscheine in dieser Höhe? Verleiht Ihr Geld gegen Zinsen?«

»Das nicht, werter Schwager, aber vielleicht wißt Ihr, daß ich gern und gut Boltan spiele, und das ist nun einmal ein Spiel, bei dem man nicht nur ein Vermögen verlieren, sondern auch gewinnen kann.«

»Spielen …«, brummte Durenald, aber Kusmine ergriff wieder das Wort.

»Zordan, Bruder«, sagte sie ernst, »du willst mir doch nicht erzählen, daß du dein gesamtes Vermögen in Höhe von zweihundertvierzig Dukaten offen am Gürtel getragen hast. Sag, daß es ein Scherz ist.«

»Es ist kein Scherz, schöne Schwester, nein, leider ist es die traurige Wahrheit.« Bekümmert wiegte Fuxfell den Kopf. »Doch schelte mich nicht – ich bin gestraft genug. Gerade dort am Gürtel, offen und für alle sichtbar, wähnte ich mein Geld besonders sicher verborgen. Denn wer erwartet Gold an dieser Stelle? Nun, ich habe mich geirrt in der Wahl meines Versteckes, grausam geirrt, wie ich jetzt erkenne.« Er schwieg eine Zeitlang, die Stirn in kummervolle Falten gelegt. »Und überdies«, fuhr er fort, »rechnete ich auch nicht im entferntesten damit, in euren Wäldern von Diebsgesindel geschunden und beraubt zu werden.«

»Fangt Ihr schon wieder von unseren Wäldern an?« Eine Zornesfalte bildete sich zwischen Durenalds Brauen, und er schlug mit der Rechten auf den Wickeltisch, so daß die Holzfigürchen durcheinanderpurzelten. »Es sind nicht unsere Wälder – es sind die Wälder des Grafen! Statt den Göttern und Eurer Schwester dankbar zu sein, daß sie Euch so schnell zu Hilfe geeilt ist und Euch womöglich vor größerem Schaden bewahrt hat, faselt Ihr wirr und unverschämt daher, daß man glauben könnte, Ihr erwartetet, daß wir Euch das Gold ersetzen sollten. Ach, Schwager«, fuhr er nun versöhnlicher fort, »denkt nicht, daß mich Euer Verlust nicht dauert. Zweihundertundvierzig Dukaten durch die eigene Torheit verlieren, das ist hart, und ich fühle mit Euch. Doch worauf wollt Ihr eigentlich hinaus?«

»Du brauchst Geld, gewiß«, mischte Kusmine sich ein, »nun, ich denke« – sie suchte den Blick ihres Gatten, und Durenald nickte –, »da wird sich etwas machen lassen. Sei also unverzagt.«

In diesem Augenblick klopfte es an der Tür, und Damilla brachte die bestellte Erfrischung. Während sie den Tee in drei kleine irdene Becher goß, betrachtete Fuxfell sie ausgiebig und mit Wohlgefallen. Obwohl ihre Brüste gut entwickelt waren und auch das Hinterteil recht groß und fraulich rund zu sein schien, glaubte er nicht, daß sie mehr als fünfzehn Götterläufe zählte, denn ihre Züge waren von kindlicher Weichheit, und der Blick ihrer großen braunen Augen war scheu und auf bezaubernde Weise einfältig.

»Verzeiht, liebe Schwester und lieber Schwager, daß ich euch verärgert habe, und auch das Prinzeßchen scheint böse zu sein, denn unverwandt verfolgt es mich mit ernsten blauen Augen und will mir gar kein Lächeln gönnen. Was kann ich nur tun, um euch zu erheitern …« Er legte eine bedeutsame Pause ein, in der er sich vergewisserte, daß Damilla seiner Rede folgte, dann fuhr er fort: »Wie wär’s mir einem kleinen Kunststück, das ich jüngst eingeübt habe?« Er blickte fragend in die Runde.

Durenald und Kusmine wechselten erstaunte Blicke, wobei der erstere die Brauen hob und letztere Achseln und Hände. »Ein Kunststück? Nun, wenn du meinst«, sagte Kusmine, »dann laß sehen, wir sind gespannt.«

Zordan Fuxfell stellte sich in der Mitte des Zimmers auf und schaute eindringlich von einem zum anderen, wobei er den Blick ein wenig länger auf Damilla ruhen ließ, die ihre Arme erwartungsvoll und fast andächtig unter dem Busen verschränkt hatte. Dann legte er die Handflächen aneinander und schloß die Augen. Lange stand er so, in Konzentration versunken. Unvermittelt riß er die Augen auf, murmelte etwas wie ›Selemsalamander – Mutaborineinander – Hylailomäander‹ und streckte die Rechte vor, die Handfläche nach oben. Kaum hatte er die Formel gesprochen, da erschien auf seiner Hand ein grünliches Flämmchen. Fast unbeweglich stand es dort, nur ganz leicht gewiegt vom Atem der Anwesenden oder dem Luftzug, der durch die Ritzen des Fensters ins Zimmer drang. Doch nun hob Fuxfell die Linke und beschwor mit seinen schlanken Fingern das Flämmchen, wobei er weitere unverständliche Formeln murmelte. Die Flamme veränderte allmählich ihre Farbe, wurde erst blau, dann violett, um schließlich einen leuchtenden Purpurton anzunehmen. Dabei bog und wand sie sich auf der Hand, zitterte und wuchs ein wenig, um schließlich, als Fuxfell die Rechte spreizte, von einem Finger zum anderen zu hüpfen. Offenbar war dies der Höhepunkt der Darbietung, denn plötzlich verblaßte das Purpurlicht, die Flamme schrumpfte, und Fuxfell schloß mit einer ruckartigen Bewegung die Rechte zur Faust. Sein Atem ging heftig, und feine glänzende Rinnsale bildeten sich auf Stirn und Wangen.

»Du kannst zaubern!« entfuhr es Kusmine. »Das habe ich gar nicht gewußt.« Aber Fuxfell antwortete nicht, sondern klaubte mit unsicheren Fingern ein seidenes Tüchlein aus der Tasche, mit dem er sich die Stirn betupfte.

Durenald beobachtete seinen Schwager mit fragend oder forschend zur Seite geneigtem Kopfe, und Damilla hatte die Arme fallen lassen und stand unbewegt im Zimmer, den Mund geöffnet und die großen braunen Augen unverwandt auf Fuxfell gerichtet. Einzig Thalionmel war uneingeschränkt begeistert von der Vorführung und den bis zum heutigen Tage unbekannten Talenten des Oheims: Sie quiekte und prustete, und das heftige Zappeln und Fuchteln der kleinen Arme schien sagen zu wollen, daß sie eine weitere Probe seiner Kunstfertigkeit zu sehen wünschte.

»Ja, Schwester, ich verstehe mich ein wenig darauf«, sagte Fuxfell schließlich, »eine Gabe, die ich von meiner Mutter ererbt habe.«

»Aber Zordan, um Hesinde willen, warum bist du denn nicht zur Akademie gegangen?« fragte Kusmine.

»Du könntest heute eine angesehene Spektabilität sein, doch nun ist es vermutlich zu spät, um noch mit dem Studieren zu beginnen.«

»Aber liebe Schwester, woher wohl hätte meine arme Mutter das Geld für eine kostspielige und langwierige Ausbildung nehmen sollen? Ich bin doch nur ein kleiner Bastard, wie du weißt.«

»Zordan!« Kusmines Stimme wurde ein wenig lauter, und wieder rötete ein winziger Anflug von Zorn ihre Wangen. »Du weißt so gut wie ich, daß unser Vater alles in seiner Macht Stehende getan hat, um dich und deine Mutter zu unterstützen. Er wollte dich ja sogar nach Vinsalt schicken, nur daß deine Neigungen eben nicht in diese Richtung gingen. Gewiß wäre er stolz gewesen, einen Magus in der Familie zu haben, und hätte dir die beste Ausbildung in Kuslik oder wo auch immer finanziert. Warum nur hast du deine Gabe immer geheimgehalten?«

»Ja, hätte, wäre, würde … es ist zu spät, wie du richtig erkannt hast, liebe Kusmine, und wir wollen nicht weiter spekulieren, was gewesen wäre, wenn … Es genügt mir, daß ich hin und wieder liebe Freunde oder Verwandte mit einem magischen Kunststückchen erfreuen kann. Doch nun erlaubt, daß ich mich zurückziehe.« Er verneigte sich leicht vor Schwester und Schwager. »Meine Blessuren beginnen wieder zu schmerzen, und ich denke, es ist das beste, wenn ich mich ein wenig ausruhe.«

Auch Damilla wandte sich zum Gehen. Mit einem Knicks schlüpfte sie durch die Tür, und Fuxfell mußte ein paar große eilige Schritte machen, damit er sie auf dem Gang noch erreichte. »So warte doch, schönes Kind«, flüsterte er und zog sie leicht am Zopf. Damilla erstarrte. »Hat dir meine Darbietung gefallen?« fragte er leise. Das Mädchen nickte, ohne sich umzudrehen. »Nun, wenn du noch weitere Kostproben meiner Kunstfertigkeit kennenlernen möchtest, dann komm heut abend auf meine Kammer.« Wieder nickte Damilla, dann eilte sie davon.


»Was hältst du von alldem?« wandte sich Durenald an seine Gemahlin, nachdem Damilla und Fuxfell die Kinderstube verlassen hatten. Er fuhr sich nachdenklich mit der Hand durch die Locken.

»Meinst du die Geschichte mit dem Ring und dem Geld oder seine bis heute verborgenen magischen Talente?« fragte Kusmine.

»Alles, liebes Herz, beides«, erwiderte Durenald, »die Geschichte mit dem Ring und dem Geld und seine bis heute verborgenen magischen Talente.« Er machte eine kleine Pause, dann fuhr er fort: »Wenn du mich fragst, was ich von all dem halte, dann könnte ich dir nun meine Theorien entwickeln, aber …«

»Laß hören, lieber Mann!«

»Ach nein, lieber nicht, sonst heißt es wieder, daß ich deinen kleinen Bruder nicht leiden kann und noch nie leiden konnte.«

Kusmine lachte. »Aber nun hast du mich neugierig gemacht, und ich will wissen, zu welcher Theorie über meinen Bruder du aufgrund seines Verhaltens, seiner Andeutungen und Geschichten und seiner neuerdings entdeckten Gabe gelangt bist. Außerdem hilft deine Ansicht mir gewiß bei der Bildung meiner eigenen.« Sie blickte Durenald erwartungsvoll lächelnd an. »Nun los!« sie knuffte ihn gegen die Schulter. »Du willst es doch loswerden und wirst es mir ohnehin heute noch erzählen. Warum sollen wir bis zum Abend warten?«

»Also gut«, begann Durenald, »wenn du darauf bestehst, so will ich dir jetzt meine Meinung über deinen Bruder und seine Geschichten unterbreiten. Nun, ich glaube, daß der gute Zordan sein Vermögen – oder vielmehr das eures Vaters – verpraßt oder verspielt hat. Weiterhin bin ich überzeugt, daß er bis zum Hals in Spielschulden steckt und uns nur deshalb seine Aufwartung macht, um ein paar Dukaten zu lockern, was ihm ja auch zu gelingen scheint. Und den Ring – ich kann mich nicht daran erinnern, aber es scheint sich ja um ein wertvolles Erbstück zu handeln – hat er entweder verpfändet oder verspielt. Was nun die Räuber betrifft, die ihn zweifellos überfallen und böse geschlagen haben, so konnte ihm nichts Besseres widerfahren, denn der Beutel an seinem Gürtel war bestimmt leer bis auf den letzten Kreuzer, und wäre ich nicht so ein gutgläubiger und vertrauensseliger Mensch, ich könnte glatt auf den Gedanken verfallen, der liebe Zordan habe die gar schrecklichen Räubern gedungen oder mache mit ihnen gemeinsame Sache. Nein, im Ernst, Kusmine, das glaube ich nicht. Allerdings vermute ich, daß es mit seiner Gabe nicht allzuweit her ist. Nicht, daß mich Zordans magische Darbietung nicht beeindruckt hätte – einen Zauberer beim Zaubern zu beobachten, ist ein seltenes und immer wieder faszinierendes Ereignis –, aber zur Spektabilität hat er wohl nicht das Zeug. Worüber ich mich allerdings wundere …«

»Du wunderst dich über etwas?« unterbrach Kusmine ihren Gatten ein wenig spitzer als beabsichtigt. »Dabei hatte ich gerade den Eindruck gewonnen, daß du schon alles über meinen Bruder weißt.«

»Siehst du, liebes Herz«, erwiderte Durenald traurig, »nun bist du böse. Ich hätte dir meine Gedanken über deinen Bruder nicht mitteilen sollen; dein Bruder ist nun einmal ein Thema, bei dem wir leicht in Streit geraten, und an nichts liegt mir mehr, als in Eintracht mit dir zu leben. Laß uns das Gespräch beenden.«

»Erst will ich wissen, worüber du dich wunderst«, beharrte Kusmine.

»Ich wundere mich«, sagte Durenald mit fester Stimme, »daß dein Bruder einen Apfelschimmel reitet, denn ich meine mich zu erinnern, daß dein Vater uns einmal von einem schwarzen Shadif geschrieben hat, das er für Zordan erworben habe …«

»Es gibt auf dieser Welt Menschen, die mehr als ein Pferd besitzen, du selbst bist ein gutes Beispiel dafür.« Kusmine versuchte vergeblich, ihrer Stimme einen ruhigen Klang zu verleihen. Sie öffnete den Mund, um weiterzusprechen, doch da gewahrte sie die bekümmerte Miene ihres Gatten und hielt inne. Ihre Züge verloren die Härte, und der kalte Glanz ihrer Augen wich einem Ausdruck von Innigkeit. »Ach, Durenald, lieber Mann«, sagte sie leise, »verzeih, daß ich so hitzig geworden bin. Du hast recht, wir sollten nicht weiter über Zordan streiten. Wahrscheinlich bist du um so viel zu streng mit ihm, wie ich zu nachsichtig bin, und die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte. Gewiß ist er leichtsinnig und spielt und hat Schulden, aber er …«

»Aber er ist kein schlechter Mensch, nicht wahr, das wolltest du doch sagen?«

Kusmine nickte lächelnd.

»Und er ist ein angenehmer Gast«, fuhr Durenald fort, »aufmerksam und galant … Hast du gesehen, wie er Damilla angestarrt hat?«

»Damilla? Die kleine Dicke?« Kusmine lachte. »Nein, das ist mir nicht aufgefallen.«


Am siebenundzwanzigsten Peraine, zehn Tage nach seiner Ankunft, verließ Zordan Fuxfell gutgelaunt, gesund und um fünfzig Dukaten reicher Gut Brelak. Damilla winkte ihm mit dem roten Seidentüchlein, das er ihr geschenkt hatte, so lange nach, bis ihr der Arm schmerzte. Erkennen konnte sie ihn schon nach wenigen Schritten nicht mehr, denn ihre Augen schwammen in Tränen. Und so sah sie auch nicht, daß er sich kein einziges Mal nach ihr umwandte.

DSA: Die Löwin von Neetha Sammelband

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