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Freitag, 21. Oktober

Mein letzter Abend als 13-Jährige!

Und der erste Eintrag in meinem neuen Tagebuch

Eben kam meine Mutter ins Zimmer, umarmte mich fest und gab mir ein kleines Päckchen.

»Mama, ich hab doch erst morgen Geburtstag«, meinte ich lachend.

»Ja. Aber das wollte ich dir vorher schon geben. Vielleicht hast du Spaß daran. Gute Nacht, Süße.« Mama verwuschelte meine Haare, was ich ausnahmsweise über mich ergehen ließ. Dann verließ sie mein Zimmer.

In dem Päckchen war ein wunderschönes neues Tagebuch. Dieses hier.

Ich habe mich heute schon den ganzen Nachmittag mit Tagebüchern befasst: mit denen von meiner Mutter, die sie geschrieben hat, als sie etwa so alt war wie ich jetzt. Eines davon hatte sie ›Nina‹ genannt (was ich ziemlich schräg finde).

Okay: Ich liebe meine Mutter, logisch. Aber manchmal kommt sie mir vor wie aus der Zeit gefallen. Und offensichtlich war sie das irgendwie schon mit 14 Jahren. Ich find das, was sie in den alten Büchern geschrieben hat, schon auch süß. Aber sie war so naiv und ahnungslos! Und im Grunde ist sie das heute manchmal noch … als käme sie aus einer ganz anderen Welt.

Wir hatten diese alten Tagebücher vor einer Woche gefunden, weil meine Mutter mal wieder eine ihrer großartigen Ideen hatte, die sie ab und an überfallen: Sie wollte den Keller ›auf Vordermann bringen‹. Sorry, das ist ihre Wortwahl, nicht meine. Andere würden ›aufräumen‹ sagen.

Jedenfalls hatte sie erst einmal mehrere uralte Kisten aus dem Keller raufgeholt, um den Kram ›auszumisten‹, den sie nicht mehr brauchte. Die Tagebücher wären heiße Kandidaten für dieses Ausmisten gewesen. Sie waren so ungefähr 100 Jahre alt. Mama hatte sich aber schnell daran festgelesen, von Wegschmeißen war keine Rede mehr. Und pausenlos rief sie Tante Yvi an. Die beiden redeten jedes Mal ewig. Dauernd riefen sie: »Oh, Gott, weißt du noch?« Sie amüsierten sich über Storys zu ›erster Liebe‹ und ›Vati‹ so sehr, dass meine Mutter Tränen lachte. Manchmal weinte sie auch ein bisschen, wenn sie allein in den Tagebüchern las. Aber ich ließ mir nicht anmerken, dass ich das mitbekommen hatte. Ich wusste, es war ihr unangenehm. Für mich war es eigenartig, sie so zu sehen. Normalerweise versucht sie immer gut drauf zu sein. Ich habe sie zuvor fast nie weinen sehen. Obwohl sie sich oft und über viele Dinge Gedanken macht. Wie auch immer …

Als ich jetzt gerade noch mal in Mamas Tagebuch blättere, sehe ich plötzlich, dass da Seiten fehlen! Ja: Es wurden offensichtlich einige Male im Nachhinein Seiten rausgerissen. Ich sehe das Buch weiter durch: Da, Ende Mai, gibt es eine größere Lücke. Direkt neben einer Seite, die komplett schwarz übermalt ist. Nur in einer Ecke ein kleines grünes Herz …

Als ich das Tagebuch weiter durchschaue, sehe ich auch, dass Mama eine wahre Durchstreichkönigin war: Sie hat manche Zeilen so heftig übermalt, dass man absolut nicht mehr erahnt, was da mal stand. Mh, keine Ahnung, welche Infos aus ihrem packenden Leben sie als zu brisant einstufte, um sie der Nachwelt zu hinterlassen … Jedenfalls beschäftigt mich das mit der schwarzen Seite noch eine Weile. Morgen werde ich Mama danach fragen. Aber für heute bin ich doch müde genug, um endlich einzuschlafen …

Wo bin ich hier?

Dieses Aufwachen ist anders als sonst. Ich begreife eine ganze Zeit lang nicht, warum. Ich bin durch ein unbekanntes Geräusch geweckt worden.

Jemand hat an die Zimmertür geschlagen, eine barsche Männerstimme hat etwas gerufen. Draußen ist es stockfinster. Keine Ahnung, was hier abgeht. Und wo ist mein Handy? Meine suchenden Hände greifen ins Leere. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, erkenne ich, dass mein Zimmer komplett anders aussieht als sonst.

Moment mal: Das ist gar nicht mein Zimmer!

Hallo, wo bin ich und wer ist da draußen?! Trotz der aufkommenden Panik erinnere ich mich an den gestrigen Abend – den Vorabend meines 14. Geburtstages. Genau der müsste also heute sein! Ich hatte vorm Einschlafen noch mal in diesem alten Tagebuch meiner Mutter gelesen. Vor allem aber konnte ich nicht einschlafen, weil ich schon so gespannt auf diesen Tag heute war! Und darauf, ob Tomek mir gratulieren und sich – endlich! – mit mir verabreden würde … Und schließlich war ich über all diesen Gedanken und Mamas Bestseller aus dem letzten Jahrhundert eingeschlafen …

Es poltert erneut an der Tür. Wer ist das?!

»Ich sag’s dir jetzt zum letzten Mal, bist du aufgestanden?!«, brummt eine gereizte, tiefe Stimme.

»Ja!«, rufe ich reflexartig und rapple mich auf. Das heißt, ich versuche es, denn die Situation ist so abwegig, dass ich wahrscheinlich noch träume. Hallo, es ist Samstag (und nebenbei bemerkt: mein 14. Geburtstag! Bitte etwas Respekt da draußen)! Und selbst wenn es nicht so wäre: Wer sollte hier morgens so rumgrölen? Also Peter, mein Stiefvater, ist es schon mal nicht. Er würde mich nie so anmotzen, zum Geburtstag schon dreimal nicht.

Neben dem Bett steht ein alter Wecker, voll das Urviech, der zeigt 6:10 Uhr an. Spinnt der alte Schreihals da draußen? Ich könnte selbst an einem Schultag noch eine halbe Stunde liegen bleiben! Ich stolpere aus dem Bett und taste nach einem Lichtschalter. Eine Gänsehaut überzieht meinen Körper. Wieso ist es so kalt hier? Der Schein der alten Deckenlampe taucht alles in ein unwirkliches Licht: Bett, Schrank, da hinten ein Vorhang … Alles sieht fremd aus. Zugleich auf eine eigenartige Weise vertraut, wenn ich darüber nachdenke. Woran erinnert es mich nur?

OH NEIN!

Mir wird eiskalt. Dann heiß. Dann wieder kalt. Und eisig bleibt es um mich herum, während mir die Erkenntnis wie ein glühend heißer Stromschlag durch den ganzen Körper schießt: Dieses Zimmer kenne ich! Es ist das Nähzimmer von Oma Gudrun. Nur ganz anders eingerichtetals sonst!

Panisch sehe ich an mir runter, dann zum Bett: Ich trage einen eigenartig flauschigen Schlafanzug. Auf dem Bett und überall sonst im Zimmer sehe ich nichts, was mir gehört. Nicht mal etwas, das ich auch nur annähernd kenne – bis auf zwei Dinge: das alte Tagebuch meiner Mutter (es sieht jetzt nur deutlich weniger abgegriffen aus als gestern Abend) und das neue Tagebuch, das sie mir geschenkt hat.

Okay, ganz langsam jetzt. Ich setze mich auf die Bettkante und atme tief durch: Das ist das Jugendzimmer meiner Mutter. Ist das eine ihrer crazy Ideen, mich zum Geburtstag zu überraschen – und sie hat das Zimmer umgeräumt oder so? Aber nein, das ist unmöglich! Wie sollte ich im Schlaf hierhergekommen sein, ohne etwas davon zu merken?!

Okay, dann bin ich in einer anderen Zeit gelandet. Ja, klar, als ob!

Das ist völlig unmöglich! Also träume ich. Ja, ich hatte öfter schon Träume, die sich so realistisch angefühlt haben wie dieser. Meist spielt dann zwar Tomek die Hauptrolle darin und nicht ich allein im Teenie-Zimmer meiner Mutter … aber egal …

Ganz ruhig jetzt!

Mich in die aufkommende Panik reinzusteigern, bringt mich sicher nicht weiter. Ich versuche betont ruhig und tief zu atmen und schaue mich genauer um. Kleiderschrank, Bücherregal, kleiner Tisch … und eine Ecke des Zimmers ist durch einen Vorhang abgegrenzt. Dort finde ich ein Waschbecken mit Spiegel drüber, Handtücher, Haarbürste und all das. Okay, da muss man sich wohl wenigstens mit niemandem ums Bad prügeln und kann sich hier chillig fertig machen.

Ich stelle mich gleich mal in dieses private Mini-Bad. Als ich in den Spiegel über dem Waschbecken sehe, kippe ich fast um. Ich sehe nicht mich. Ich sehe meine Mutter. Und zwar offensichtlich auch als etwa 14-Jährige. Mit kurzen Haaren. Im Übrigen – das stelle ich jetzt erst mit riesigem Entsetzen fest! – befinde ich mich auch in einem Körper, der sich nicht im Mindesten so anfühlt (und auch nicht so aussieht), als wäre die 14-jährige Alina (also: ICH) darin. Der hier ist dünn und knochig – das bin ich gar nicht!

Oh. Mein. Gott.

Okay. Das hier ist ein sehr real wirkender Traum. Oder ich bin tatsächlich in die frühere Welt meiner Mutter und auch noch in deren früheren Körper geraten.

Ich verstehe es einfach nicht! Alles in mir steht still – ich weiß nicht, ob das Sekunden, Minuten oder Stunden dauert. Es müssen Sekunden gewesen sein, sonst wäre der Schreihals draußen sicher inzwischen explodiert.

Noch ein tiefes Ausatmen. Dann mache ich mir klar: Niemand kann mir jetzt beantworten, was passiert ist und warum. Aber ich werde es rausfinden. Und in dem Moment fällt mir etwas ein. Eigenartig, dass mich jetzt ein Spruch meiner Mutter rettet: »Tu so, als würde es nicht drauf ankommen.« Den Tipp hat sie mir schon ein paarmal gegeben, wenn es um Schule oder um Jungs ging. Für alle Angelegenheiten mit Jungs war das zwar bisher nicht gerade hilfreich. Aber bei Referaten und anderem Schulkram schon: Tu so, als würde es nicht drauf ankommen.

JA.

Einfach so tun, als wäre das hier ein Spiel, und darauf vertrauen, dass es gut ausgehen wird. Das tue ich jetzt. Ich entschließe mich in diesem Moment, zu spielen. Das hat mich wahrscheinlich gerettet bei allem, was nun folgt.

Schnell wasche ich mir das Gesicht. Das überraschend eisige Wasser lenkt mich ab, zumindest lässt meine Panik etwas nach. Ja, das Ganze macht mir auf einmal fast Spaß: Hey, es ist zwar nicht DIE Party zum 14. Geburtstag, die ich mir vorgestellt hatte – aber etwas Besonderes ist es auf jeden Fall. Irgendwann wird das alles vorbei sein und dann habe ich etwas wirklich Cooles zu erzählen!

Jetzt muss ich jedenfalls erst einmal versuchen, so genau wie möglich meine Mutter zu spielen, als sie 14 Jahre alt war. Falls ich das nicht hinbekomme, bringe ich womöglich etwas durcheinander, was dann die ganze Zukunft auf den Kopf stellt.

Also ziehe ich mich jetzt an, gehe da raus und tu so, als wäre ich Mama in ihrer damaligen Rolle. Das dürfte nicht allzu schwierig sein. Draußen rumort der Schreihals (ich vermute, es ist Opa Herbert, also Mamas Vater). Ich geb jetzt lieber mal Gas. Etwas in seiner Stimme sagt mir: Es wäre gut, ihn nicht zu reizen.

Anziehen, gut. Oder auch nicht gut. Denn ein Blick in den alten Kleiderschrank meiner jugendlichen Mutter treibt mir den kalten Schweiß auf die Stirn: Hallo?! Wer soll das bitte anziehen? Ja: ich. Und zwar jetzt gleich. Ganz toll.

Ich suche mir einen Rock aus, dessen Stoff wohl an Jeans erinnern soll, und ein T-Shirt (Mama nennt so etwas in ihrem Tagebuch ›Nicki‹). Dazu eine Strumpfhose, die ausgesprochen retro wirkt – und Unterwäsche, über die ich hier echt nichts schreiben will. Ähnlich schick wie der Flanellanzug, von dem ich mich jetzt erst mal trenne.

Dann stolpere ich aus dem Zimmer, denn ich muss dringend auf Toilette. Ich öffne leise die nächste Tür, gleich neben Omas Nähzimmer – oder besser gesagt, Mamas früherem Zimmer. Nachdem ich mir die Hände gewaschen hab, seh ich mich noch mal kritisch im Spiegel an. Große erstaunte Augen, kindliches Gesicht. Ja, so muss Mama damals ausgesehen haben. Ich konnte kein Schminkzeug finden. Vielleicht grabe ich später noch etwas aus. Fühlt sich eigenartig an, ohne Wimperntusche loszuziehen. Und meine Pickel konnte ich auch nicht übermalen. Drei kleinere hab ich entdeckt. Ich tröste mich damit, dass ich quasi nicht ich selbst bin, sondern so etwas wie eine Schauspielerin. Das erhöht den Spaß beträchtlich. Außerdem habe ich als jugendliche Version meiner Mama schöne lange Wimpern. Dafür leider feine, dünne Haare. Und diese Frisur … Wenn es wenigstens ein cooler Kurzhaarschnitt wäre! Ich vermisse meine tolle Mähne. Aber daran ist jetzt gerade nichts zu ändern.

Los geht’s, den Geräuschen nach: gedämpftes Reden, Husten, leise klirrt Geschirr aneinander … Ich atme tief durch, drücke die Türklinke herunter und stehe in der Küche.

Am Tisch sitzt Opa Herbert (alias ›Vati‹, wie ich mir gerade klarmache). Oh mein Gott. Ich brauche bestimmt eine Weile, um mich daran zu gewöhnen, ihn in einer Version vor mir zu haben, die viel, viel jünger ist als der Opa, den ich kenne. Die monströsen Elvis-Koteletten, die er hier trägt, lassen ihn noch fremder wirken. Oma Gudrun (also Mamas ›Mutti‹) hat in dieser schrägen Traumwelt eine schwarze Turmfrisur, die fast an die von Marge Simpson heranreicht. Sie wirkt angespannt.

Komisch, normalerweise nehme ich andere nicht auf die Art wahr wie jetzt eben die beiden. Wirkt Mama morgens angespannt oder gestresst? Keine Ahnung.

Oma Gudrun (hier also Mutti) lächelt mich an: »Alles Gute, Anschi.« Richtig: Mama heißt ja Antje!

Die jüngere Version von Oma Gudrun umarmt mich. Über ihre Schulter hinweg fällt mein Blick auf einen vorsintflutlichen Abreißkalender.


In diesem Moment dämmert es mir endgültig: Ich bin von meinem auf Mamas 14. Geburtstag geswitcht! Das erklärt auch das erschreckend lebensfremde Ambiente hier. Ich bin nicht nur im vergangenen Jahrhundert gelandet (was schon strange genug wäre!), sondern noch dazu auf der hinterwäldlerischen Seite Deutschlands. Mama stammt aus Sachsen. Aus einem langweiligen kleinen Nest namens Hohnberg. Und das gehörte 1984 noch zur DDR.

Opa Herbert alias Vati nickt mir nun ebenfalls zu, murmelt auch etwas wie »alles Gute« und streichelt mir kurz über den Unterarm.

Dann schaut Oma Gudrun beziehungsweise Mutti mich skeptisch an. »Willst du nicht lieber deine schöne Bluse anziehen? Das Nicki ist doch eher etwas für nachmittags.«

Keine Ahnung, was Mama in dieser Situation tun würde, ich gebe direkt auf. Genervt gehe ich wieder in mein – oder besser in Mamas – Zimmer und mache mich auf die Suche nach der ›schönen Bluse‹. Damit kann nur die hier gemeint sein: grobe Baumwolle mit verwaschenem Blümchenmuster. Seufzend ziehe ich sie an. Und wieder zurück in die Küche.

»Deine Geschenke sind im Wohnzimmer, wie immer. Sie werden dir gefallen«, sagt Oma Gudrun – Mutti – und zwinkert mir zu. Ach, tatsächlich? Nachdem ich hier bisher nichts ausmachen kann, was auch nur ein bisschen cool ist (Klamotten zum Beispiel), lässt mich die Ankündigung landestypischer Geschenke jetzt nicht gerade vor Freude ausrasten.

Ich soll recht behalten: Zumindest sind die Geschenke nett verpackt – mit viel Schleifenband und ganz ohne Tesa. Aber was da drin ist! Furchtbar! Ein Kleid aus einem komischen Stoff, der so wirkt, als würde er sich elektrisch aufbäumen, sobald man drei Schritte in dem Teil gegangen ist. Unfassbar hässliche Shorts (die werde ich sicher niemals tragen!). Sandalen (aus Plastik oder sowas?) – und ein hässliches T-Shirt in Schlammgrau. Außerdem ein Buch, dessen Titel Königin Margot mir absolut nichts sagt. Es sieht den Büchern aus der uninteressanten Ecke im Regal meiner (erwachsenen!) Mutter verdammt ähnlich. Sie war offensichtlich schon mit 14 ein eigenartiger Lesenerd. Außerdem gibt es noch Pralinen – und eine Topfpflanze. Darüber soll ich mich jetzt freuen? Ohne Worte.

Kurz darauf sitze ich wieder am Tisch und kaue etwas Undefinierbares. Dabei fällt mir auf: Hier fehlt doch jemand? Genau: Wo ist eigentlich Mamas ältere Schwester, also meine Tante Yvi? Klar, jetzt dämmert’s mir. Die war vermutlich zu der Zeit schon dabei, ihr Abi zu machen. Wenn ich mich richtig erinnere, lief das bei denen damals so, dass das an so einer Art Spezialschule stattfand. Richtig: EOS hieß die. Und Yvi musste dafür in die nächste Kleinstadt fahren. Ich bin nicht sicher, wie hieß die Stadt noch mal? Wöbern oder so. Mama hat später dort auch ihre Ausbildung gemacht.

Vermutlich ist Yvi also schon um Mitternacht gestartet, um etwa zehn Kilometer weit zu fahren und rechtzeitig um sieben Uhr früh an der Schule anzukommen. Ich erinnere mich zumindest dunkel, dass Mama und Tante Yvi schon mehrmals solche Schreckensszenarien beschrieben haben. Sie jammern heute noch über das frühe Aufstehen damals.

Nach dem Frühstück steht die nächste Herausforderung an: Wo ist die Schule und wie komme ich da hin? Mamas beste Schulfreundin war meines Wissens eine Britt. Sind die morgens immer zusammen zur Schule gegangen? Sind sie gefahren? Und womit? Keine Ahnung! Zum Glück fällt mir in dem Moment ein, dass im Tagebuch meiner Mutter ein Foto von ihrer Klasse war. Sie hat (typisch für Mama und ihre umständliche Art!) die Namen aller Personen gut geordnet unter das Bild geschrieben.

»Ich geh kurz Zähne putzen«, nuschle ich und renne schnell noch mal in mein Zimmer – oder besser in Mamas altes Zimmer, um das Foto der 8. Klasse im alten Tagebuch genauer anzusehen. Aha, das hier muss Britt sein. Kurze blonde Locken, freundliches Lachen. Und der schräg hinter Mama steht, ist Steffen. Der Typ, auf den Mama damals stand, das hat sie mir auch mal lachend erzählt …

Da habe ich eine geniale Idee, ich bin richtig stolz auf mich: Ich könnte jetzt schon mal lesen, was Mama zum heutigen Tag in ihr Tagebuch geschrieben hat! Dann könnte ich mich ein klein wenig auf die nächsten Stunden vorbereiten.

Doch als ich nun nach dem Eintrag für heute fahnde, trifft mich gleich der nächste Schlag. Die Einträge im Tagebuch enden … genau: gestern!! Das Buch ist tagesaktuell. Es wird mir also keine Notizen über zukünftige Ereignisse präsentieren. Okay. Ich muss dann wohl mit vollem Risiko in den ungewissen Tag in einer völlig fremden Welt starten.

MIST.

Immer noch Montag, 19. März 1984, abends

So, da bin ich wieder. Mein Schultag heute lief überraschend easy. Bis auf ein paar winzige Pannen, aber die konnte ich geschickt überspielen. Bin gerade ziemlich stolz auf mich!

Ich traf Britt tatsächlich direkt vor der Haustür. Und ich glaube, sie hat mich wirklich den ganzen Tag für Antje gehalten. Sehr cool!

Aber jetzt mal der ganze Tag von vorn: Britt und ich laufen zur Schule, nachdem sie mir freudig zum Geburtstag gratuliert und ein kleines Päckchen in die Hand gedrückt hat. Ich öffne es unter ihren erwartungsvollen Blicken und hole ein Kettchen mit einem kleinen Stern als Anhänger raus. Nichts, was mich jetzt umhaut, aber ich kann es ja mal anlegen und so tun, als fänd ich es gut. Das mache ich dann auch und Britt lacht übers ganze Gesicht. Die ist wirklich nett! Ich weiß nicht, wie ich den Tag ohne sie geschafft hätte.

Da Britt zum Glück gern und viel redet, fällt nicht auf, dass ich fast nichts sage, sondern versuche, sie ein bisschen auszuhorchen. Natürlich nur, um einen Plan für mein Verhalten zu entwerfen. Gleichzeitig muss ich mir den Schulweg einprägen.

In der Schule angekommen treffen wir auf dem Schulhof auf vier weitere Mädchen aus der Klasse, offensichtlich Mamas damalige Freundinnen. Jetzt eben habe ich sie anhand des Tagebuchs eindeutig als Nadine, Ines, Claudia und Christine identifiziert. Dafür musste ich das Klassenfoto im Tagebuch genauer anschauen, denn im Alltag reden die Leute sich gar nicht so oft mit den Vornamen an. Das ist mir bisher nie so aufgefallen. Leider habe ich die vier heute eher links liegen lassen, weil ich nicht wusste, wie eng Mama mit jeder von denen befreundet war. Das ist echt schwierig! Ich hoffe, keine von ihnen ist beleidigt oder verletzt.

Mich hat sowieso erst mal die Schuloptik dezent aus dem Konzept gebracht: Die Gänge sind mit irgendwelchen Wimpeln und so Zeug geschmückt, dann noch eine Art Pinnwand mit langweiligen Sprüchen drauf … und gleich am Eingang hängt auch noch ein Bild von einem alten Typen. Später stelle ich fest, dass das Honecker ist. Das ist der Typ, der hier nicht nur ›die Partei‹, sondern offensichtlich das ganze Land leitet. Alle finden ihn doof, was aber keiner so richtig sagen darf. Das weiß ich zum Glück alles schon aus Erzählungen meiner Mutter. Sonst hätte ich mich womöglich gleich verdächtig gemacht und über irgendwas abgelästert. Aber nachdem ich ja wenigstens ein bisschen durch ihre Berichte und Anekdoten vorgewarnt bin, halte ich lieber die Klappe. Bevor ich noch Witze reiße, durch die meine Tarnung auffliegt. Von Tante Yvi weiß ich zwar, dass Mama auch in ihrer Jugend schon mit unangepasstem (und vermutlich unbeabsichtigtem) Humor glänzte, der ab und an unter einer schüchternen Oberfläche aufblitzte, aber ich muss es ja nicht gleich übertreiben.

Das Anpassen ist doch nicht ganz so einfach, denn leider laufe ich etwas orientierungslos durch die Gegend. Gleich am Morgen in der Klasse halte ich beispielsweise vor der falschen Bank an und will mich schon setzen (aus Reflex auf den Platz, auf dem ich in meinem heutigen Schulleben sitze), merke aber zum Glück noch rechtzeitig, dass Britt weiterläuft. Ich eile ihr nach: Richtig geraten, ich sitze neben ihr. Nachdem ich bei solch kleinen Patzern dank meiner angeborenen Cleverness immer gerade noch die Kurve bekomme, tut sich leider völlig überraschend ein neues Problem auf: Meine Mutter war wohl so was wie ’ne Streberin ohne eigenes Zutun. Also ein Genie, was die Schule angeht. Sie stand beinahe überall auf Eins, ohne dafür lernen zu müssen. Das ist an sich schon furchtbar. Noch schlimmer ist aber, dass ich das jetzt auch hinkriegen muss. Eine plötzliche Phase von schlechten Noten würde auffallen. Ich versuche, das flaue Gefühl im Bauch zu ignorieren und nicht zu genau darüber nachzudenken. Irgendwie wird sich das alles lösen lassen!

Heute haben wir zwei Stunden Mathe, zwei Deutsch, dann noch Musik und Geografie. Zumindest ein Fazit kann ich schnell ziehen: Die meisten Lehrer sind genauso nervig und langweilig, wie sie es heute und vermutlich auch in 100 Jahren noch sind.

Nach der vierten Stunde ist große Pause. Wir gehen erst zum Mittagessen und dann auf den Schulhof. Das Essen bekommen wir in einem riesigen Raum im Untergeschoss. Wir stehen Schlange. Ich frag mich, wofür, denn das Essen ist ungelogen grausam! Zu Hause (also zu Hause in meinem wahren Leben, in einer Zeit, von der hier in Steinzeithausen niemand auch nur den Hauch einer Ahnung hat!) würde ich mich dafür ganz sicher nirgendwo anstellen. Durch die ganze Aufregung heute habe ich mittags aber langsam Hunger. Außerdem würde es vermutlich auffallen, wenn Anschi das ›schmackhafte‹ Essen verschmähen würde.

Es gibt Linsensuppe. Igitt. Ich hasse Linsen, Erbsen und all diese kugeligen Mini-Gemüse. Doch ich hocke brav mit den anderen an langen hellgrauen Tischen und löffele die Suppe aus.

Dann geht es auf den Schulhof: altmodisch, grau, auf eine farblose Art ruhig. Ich mag die riesigen Bäume hier. Im Sommer ist es hier wahrscheinlich ganz schön. Doch im Moment pfeift mir der Wind um die Ohren. Für März ist es unfassbar eisig (so ungefähr um null Grad) und unfreundlich. Oder kommt es mir nur so kalt vor, weil ich hier alles insgesamt ziemlich deprimierend finde? Na ja, egal.

Steffen kann ich auch identifizieren, das ist nicht schwer. Tatsächlich steht er total auf Antje, was Mama aber natürlich damals nicht mitbekommen hat. Noch heute ist sie davon überzeugt, dass Steffen ihre Schwärmerei für ihn nicht bemerkt hat, sondern nur ›freundschaftlich‹ an ihr interessiert war. Als ob! Er starrt sie die ganze Zeit an. Es ist mir ein Rätsel, wie man das nicht mitbekommen kann. Okay, wie auch immer. Ich werde mich einfach wie Mama in ihrer Jugend verhalten. Also so, als würde ich schlichtweg gar nichts peilen. Eine schauspielerische Leistung, die momentan nicht allzu schwierig ist.

So wird mir auch Steffen nicht gefährlich. Denn falls ich richtig informiert bin, kam es nie zu einem Kuss oder gar zu mehr. Also werde ich als ›ahnungslose Anschi‹ nichts zu befürchten haben.

Leider geht der Tag nicht so unkompliziert weiter! Nachmittags gibt es zu Hause Stress. Meine Urgroßeltern (also Mamas Großeltern, die Eltern von Opa Herbert) laufen auf. Hier werden sie die ›Zumer Großeltern‹ genannt. Sie wohnen nämlich in Zumwitz, einem Mini-Kaff ganz in der Nähe. Und niemand hat Lust, endlose Begriffe wie ›die Zumwitzer Großeltern‹ bis zu Ende zu sprechen.

Jedenfalls streiten auf einmal alle miteinander – und ich kriege überhaupt nicht mit, worum es eigentlich geht. Der einzige Vorteil: Niemand achtet auf mich und ob ich mich als Antje anders als sonst verhalte.

Opa Herbert geht richtig ab. Warum wird der so wütend? Es ist immer wieder von einer Beate und einer Künstlergruppe die Rede. Opa Herbert kann ich mir jetzt extrem schlecht in einer Künstlergruppe vorstellen. Es sei denn, man legt das sehr großzügig aus und er mimt dort den Elvis-Imitator. Also muss das Thema ›Künstlergruppe‹ etwas mit dieser Beate zu tun haben – die wohl Opa Herberts Schwester ist, zumindest so viel dämmert mir irgendwann. Was alles sehr rätselhaft ist, denn ich habe in meinem richtigen Leben als Alina nie mitbekommen, dass es eine Beate in unserer Familie gibt! Nicht mal, dass Opa Herbert überhaupt eine Schwester hat. Aber vermutlich wird sich das in den nächsten Tagen irgendwie aufklären.

Falls ich überhaupt mehrere Tage hier bin. Ich hab es heute schon anstrengend genug gefunden, selbst wenn die meisten, die ich so getroffen habe, mir aus dem Tagebuch einigermaßen ›bekannt‹ vorkamen. Neue Leute, wie etwa eine rätselhafte Tante, die ich gar nicht einsortieren kann, brauche ich hier in Vorsintfluthausen wirklich nicht auch noch!

Aber Moment mal, da fällt mir was ein. Ich glaube, in Mamas altem Tagebuch stand doch etwas von einer Tante Beate! Oder? Ich bin mir nicht sicher, weil mich die Erwähnung irgendwelcher Tanten nicht so krass interessiert hat. Oder stand da gar nichts, sondern ich bilde mir das gerade nur ein? Keine Ahnung, ich bin zu erschöpft, um weiter nachzudenken!

Während ich so dasitze und noch mal durch Mamas Tagebuch blättere, sehe ich etwas, das … na ja … gespenstisch ist?! Auf einmal steht hier ein Eintrag, der heute früh noch nicht da war! Etwa so, als hätte Mama jetzt eben was in ihr Tagebuch geschrieben.

Montag, der 19. März 1984

Mein 14. Geburtstag

Heute habe ich Geburtstag. Nun ist schon Abend und ich will nur noch eine kurze Notiz verfassen.

Als ich aufgestanden war, lagen im Wohnzimmer schon die Geschenke: ein Kleid, eine kurze Hose, Badesandalen und ein Nicki. Außerdem das Buch Königin Margot von Alexandre Dumas, ein Kasten Pralinen und ein Alpenveilchen.

In der Schule gratulierten mir natürlich alle meine Freundinnen. Steffen schaute nur zu mir rüber, sagte aber nichts.

Zu Hause war es dann kurz ein bißchen unangenehm: Die Zumer Großeltern kamen überraschend vorbei. Ich glaube, Mutti hatte das eingefädelt, weil sie wollte, daß Vati endlich wieder mit seinen Eltern redet. Jedenfalls gab es am Ende einen Riesenstreit, bei dem sich alle anschrien. Ich hasse das. Am Schluß wurde schweigsam und in bedrückender Atmosphäre das Essen eingenommen. Nach dem Kaffeetrinken (bei dem es die leckere Schneewittchentorte gab, meinen Lieblingskuchen) konnten Yvi und ich uns zum Glück vom Familientisch entfernen.

Den Rest des Tages verbrachten wir beide in Yvis Zimmer. Das war dann noch ganz schön, weil Yvi versuchte, mich aufzuheitern. Sie erzählte mir eine Geschichte, die sie einfach so für mich erfunden hat. In der ist von einem Zauberbuch die Rede, das ich nur aufschlagen muss, dann kann ich mich da hinwünschen, wohin ich will. Yvi hat immer so tolle Ideen. Kein Wunder, daß sie so gut mit Beate auskommt. Die ist auch immer so witzig und schlägt dauernd Dinge vor, die ganz neu und ungewöhnlich sind. Zumindest das Talent zum Malen scheine ich mit beiden zu teilen.

Ich weiß nicht, warum Vati dauernd solche Streitereien mit seinen Eltern und seiner Schwester hat. Ich hoffe wirklich, mir wird es später mit Yvi einmal nicht so gehen.

Noch etwas Trauriges ist passiert: Seit vorgestern ist Schnurz verschwunden. Ich weiß nicht, wo er ist. Hoffentlich ist ihm nichts Schlimmes passiert, so wie Purzel im vergangenen Jahr.

PS: Ja, das hatte ich wegen des Beate-Schocks und der ganzen anderen Nervereien völlig verdrängt – der Kuchen war wirklich LECKER!

PPS: Aha! Hier steht also doch etwas von einer Tante Beate!

PPPS: Okay, ich denk einfach gar nicht weiter über dieses ganze Dilemma nach. Vielleicht geh ich jetzt ins Bett, wache morgen auf – und bin wieder in meinem ganz normalen Zuhause. Und kann endlich, endlich, endlich meinen eigenen Geburtstag in meinem richtigen und coolen Leben feiern!

Wir sehen uns im Gestern

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