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Mittwoch, 21. März 1984

Sprachenerfolg, Sprachendesaster … und ein cooler Nachmittag

Auch an diesem Morgen sitze ich früh – viel zu früh! – am Frühstückstisch, wo mich so leckere Sachen erwarten wie graues Brot und eine kleine Portion Wurst, die nicht besonders verlockend aussieht. Nicht dass ich Appetit auf mehr davon hätte, aber Hunger hab ich langsam! Ich habe seit zwei Tagen kaum etwas gegessen, was mir wirklich geschmeckt hat. Nutella oder Müsli? Fehlanzeige. Zum Trinken: Kakao. Mit Haut. Ich würge ihn runter.

Meine Mutter muss sich als 14-Jährige schon sämtliche Geschmacksnerven ausgerenkt haben. Ich erinnere mich an die Einträge in ihrem Tagebuch: ›schmackhaft‹, ›köstlich‹ - allein diese altmodische Ausdrucksweise zeigt, dass sie damals schlimmer gesprochen hat, als sie es heute als Erwachsene tut. Also, falls irgendwann in ihrem Tagebuch stehen sollte: ›das Essen war nicht so toll‹, muss mir das mit ziemlicher Sicherheit richtige Angst machen!

Vati winkt kurz in die Küche rein, bevor er mit seinem Retro-Moped, Marke Schwalbe, zur Arbeit nach Wöbern fährt. Früh, kurz nach sechs, also praktisch mitten in der Nacht!


Ich habe in der ›nullten‹ Stunde Englisch, was ich echt nicht lustig finden kann. Um 6:40 Uhr soll ich in der Schule sein, so schaut’s aus.

Zum Glück hat meine Streber-Mama ihren ganzen Schulkrempel deutlich ordentlicher geführt, als ich das tue, sodass wenigstens ihr Hausaufgabenheft hilfreich ist – während meiner Meinung nach im Tagebuch vor allem Schrott steht. Das, worauf es wirklich ankommt, erfährt man dort jedenfalls nicht! Im Stundenplan ihres pingelig geführten Hausaufgabenhefts hingegen hat sie sogar die Anfangszeiten aller Unterrichtsstunden festgehalten.

Lustlos schnappe ich mir den ungeliebten Ranzen und schleppe mich zur Tür. Yvi kommt die Treppe runtergehüpft und winkt mir zu. Keine Ahnung, warum die so gut drauf ist, ich seh hier jedenfalls weit und breit keinen Grund für gute Laune.

Dafür erwartet mich in der Schule eine freudige Überraschung. Zumindest Englisch wird mir hier NICHT zum Verhängnis werden! HAHA! Offensichtlich haben die hier erst seit Beginn der 7. Klasse Englisch, noch dazu wohl immer mitten in der Nacht, im Halbschlaf also. Klar, dass da kein Mensch was kapiert! Deshalb liege ich hier sehr weit vorn, was Vokabeln und Aussprache angeht. Damit ich mich nicht allzu lange über Englisch freue, gibt es gleich danach wieder Russisch. So bin ich nach nur zwei Stunden schon wieder komplett durchgeschwitzt. Puh!

Es geht weiter mit Mathe. Dann Physik – wieder bei Herrn Seitz, dem zweitbesten Elvis-Imitator nach Opa Herbert. Danach folgen Deutsch und StaBü. Steffen grinst rüber, ich denke an Tomek …

Wenigstens ist es ein kurzer Schultag, schon um zwölf haben wir heute Schluss! Wieder ab in den ›Speisesaal‹, wo es das gewohnt langweilige Großküchenessen gibt – heute auch noch im DDR-Style. Jägerschnitzel. Darunter stelle ich mir beim Lesen des Speiseplans hoffnungsvoll etwas vor, das mich an das Schnitzel mit Pommes zu Hause beim ›Brückenwirt‹ erinnert. Oh Mann, mir läuft so das Wasser im Mund zusammen, dass ich fast sabbere! Die Brückenwirt-Schnitzel sind stets XL und superlecker. Und die Pommes dazu – göttlich!

Im realsozialistischen Dasein des Jahres 1984 wird mir eine panierte Wurstscheibe auf den Teller geworfen. Das Sabberproblem hat sich damit direkt erledigt. Immerhin gibt es Spirelli und Tomatensoße dazu, also das zumindest kann ich essen.

Ich bin froh, heute die Schule und die schnatternde Britt zeitig hinter mir lassen zu können. Eigenartig, ich fühle mich total erschöpft. Vielleicht bekomme ich meine Tage? Nee, wohl eher nicht. So wie ich als Antje aussehe, habe ich wahrscheinlich meine Tage noch gar nicht. Das wäre wenigstens ein Vorteil. Ich schlurfe nach Hause, frierend.

Doch dann wird der Tag besser! Denn Yvi kommt heute schon schon am frühen Nachmittag und wir beschließen, gemeinsam einen Spaziergang mit Sancho zu machen. Gut, unter normalen Umständen wäre ich jetzt nicht vor Freude ausgeflippt, weil wir bei eisigem Wind durch den Wald rennen. Aber hier ist es auf jeden Fall super, Zeit mit Yvi zu verbringen. Nicht nur, weil sie sowieso cool ist. Sie ist außerdem der vertrauteste Mensch in dieser fremden Welt für mich.

Also ziehen wir los in den Wald. Inliner oder so etwas sind natürlich noch nicht erfunden. So wird das Fortbewegen auch zu einer denkbar langweiligen Angelegenheit. Obwohl meine Tante Yvi als Jugendliche gar nicht so aussieht, als wäre sie versessen drauf, draußen rumzurennen, liebt sie es offensichtlich. Das wird so bleiben! Schade, dass ich ihr jetzt nicht sagen kann, dass sie später immer noch gern durch Wälder und über Berge laufen wird.

Verstohlen betrachte ich Yvi von der Seite: Ihre Klamotten näht sie wohl alle selbst. Ich kann mir zumindest nicht vorstellen, dass es so was hier irgendwo zu kaufen gibt: Schwarze Tüllröcke über engen Röhrenhosen, ganz weite, dunkle Sweatshirts … und offensichtlich sind auch ihre Haare gefärbt, dunkelbraun, fast schwarz, mit einem auffällig rötlichen Schimmer. Wahrscheinlich wechselt sie ihre Haarfarbe schon, seit sie in der Lage ist, Färbemittel einzusetzen (auch das wird so bleiben, wenn sie erwachsen ist).

Wir gehen mit Sancho am Waldrand entlang. Er hechelt aufgeregt. Jedes Mal, wenn ich ihn ansehe, muss ich unwillkürlich grinsen. Die Kombi aus süßem Blick, kurzbeiniger Schnelligkeit und nachdrücklicher Sturheit macht ihn echt unwiderstehlich. Mir fällt wieder ein, wie eigenartig ich seinen Namen finde. »Wieso ist er eigentlich damals noch mal Sancho Pansa genannt worden?«, riskiere ich die Frage.

Yvi blickt mich erstaunt an. »Sancho Pansa und Don Quijote? Klingelt da nichts bei dir?«

Ich versuche, irgendwie verpeilt oder vergesslich zu wirken, und schaue sie mit großen Augen an.

»Die Geschichte hat Vati uns doch früher immer so gern erzählt. Vor allem die Szene mit Don Quijotes Kampf gegen die Windmühlen. Sancho Pansa ist der Stallmeister des durchgeknallten Ritters und begleitet ihn auf seinen Abenteuern. Vati hat den Kleinen damals mitgebracht und gesagt, er hieße Sancho.« Yvi hält an und streichelt Sancho über den Kopf, während der sich begeistert an ihre Beine drückt und dann sehr offensichtlich versucht, sie zum Losrennen zu bewegen. Den Wald findet er eindeutig interessanter als seine Rolle des treuen Dieners.

Yvi lässt Sancho von der Leine, der jagt sofort den Waldweg entlang. Wir gehen zügig hinterher.

Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass Vati – so wie ich ihn in den drei Tagen hier erlebt habe – seinen Töchtern irgendwann Geschichten vorgelesen oder erzählt hat. Möglicherweise habe ich ihn aber auch bisher noch nicht richtig mitbekommen. Vielleicht hatte er die letzten paar Tage einfach Stress, war deshalb schlecht drauf und ist sonst ganz okay. Ich frage weiter: »Glaubst du, Vati kommt sich manchmal wie Don Quijote vor?«

Yvi sieht mich an, als hätte sie den absoluten Blitzmerker vor sich. »Na, rate mal.« Zum Glück lenkt Sancho sie sofort ab, weil er begeistert ein gammliges Stück Holz anschleppt, das Yvi ihm abnimmt. Ich hoffe zumindest, das ist nichts anderes … es ist doch Holz?!

Nach einer Weile merke ich, dass Yvi mich von der Seite mustert. »Geht es dir gut?«, fragt sie mich.

»Ja, warum?«

»Du wirkst komisch. Irgendwie anders … Ich kann es nicht richtig beschreiben. Bist du traurig wegen Schnurz? Mach dir keine Gedanken, ja? Der kommt schon wieder, kennst ihn doch.« Sie lächelt mir aufmunternd zu.

Ich würde ihr am liebsten die Wahrheit sagen. Aber das geht nicht. Es wäre zu gefährlich. So nicke ich nur. Gut, dann soll es eben so aussehen, als sei ich geknickt, weil mein Kater ein paar Tage durch die Gegend zieht. Wenn es nur das wäre! Ich seufze. Yvi streicht mir über den Arm. »Komm wir gehen zurück, du siehst schon ganz erfroren aus.«

Zu Hause kramt sie ein dünnes Tuch mit lila Batikmuster aus ihrem Schrank hervor. Als ich genauer hinsehe, erkenne ich, dass es eine gefärbte Stoffwindel ist. Ratlos blicke ich Yvi an.

»Damit du nicht mehr so frierst«, meint sie lächelnd und legt mir das Tuch um den Hals. Mh, scheint ein modisches Accessoire der 80er zu sein. »Na, heut stehst du aber echt auf der Leitung!« Yvi schaut mich erneut prüfend an.

»Ja, ich bin irgendwie ein bisschen durcheinander«, versuche ich mich rauszureden.

Sie wirft mir einen weiteren zweifelnden Blick zu, lässt mich aber in Ruhe.

Wir machen es uns in ihrem Zimmer auf dem Bett gemütlich und quatschen. Wobei ich wieder aufpassen muss, dass ich vor allem zuhöre und nicht durch unpassende Bemerkungen auffliege. Gott, ist das anstrengend.

Ich mag Yvis Zimmer. Es ist noch mehr als das von Mama vollgestopft mit Büchern. An den Wänden hängen selbst gemalte Bilder, fast alles nur Bleistiftzeichnungen – aber richtig gute! Überall sind Vorhänge drapiert. Decken und Kissen liegen herum, wohl alle selbst gemacht. In der Ecke steht eine uralte schwarze Nähmaschine auf einem Gestell mit verschnörkeltem Metallrahmen, die definitiv oft im Einsatz ist.

Aus dem Kassettenrecorder dudelt eine leicht deprimierende Musik. The Cure heißt die Band, wie ich mit einem Blick auf die von Yvi beschriftete Kassettenhülle feststelle. Kassetten. So etwas sehe ich in meinem wahren Leben nur noch in Mamas Arbeitszimmer, wo sich nach wie vor Reliquien türmen. Als sehr kleines Kind, also vor etwa zehn Jahren, habe ich selbst auch noch Kassetten gehört. Welche mit Geschichten von Winnie Puuh oder Benjamin Blümchen.


Doch hier im 80er-Jahre-Osten sind Kassetten wohl gerade in. Klar, alles was mit Internet und digitaler Musik zu tun hat, gibt es ja noch nicht.

›Boys don’t cry‹, scheppert es durch den Raum, während auch wir kichernd beim Thema Jungs angekommen sind. »Wie läuft es denn jetzt mit Steffen?«, fragt Yvi.

»Mh, wir treffen uns am Sonnabend und fahren ins Kino.«

»Aha.« Yvi grinst. »Also hat er keine Konkurrenz mehr in dem unangepassten Rothaarigen aus der Zehnten, diesem Axel?«

Ich schlucke. »Ähhm …« Mist! Wieso hat Mama nur so ein Laientagebuch geführt?! Ich hatte keine Ahnung, dass sie wohl doch auch ein bisschen auf das Tomek-Double stand! Ihrem Tagebuch und ihrer Freundin Britt scheint sie das zumindest verschwiegen zu haben. Aber Yvi weiß es!

»Nee, von dem gibt es gerade nichts Neues. Und wie ist es bei dir?« Ich schaue schnell woanders hin, damit sie meinen neugierigen Blick nicht bemerkt. Ich habe keine Ahnung, welche Vergangenheit meine Tante Yvi in puncto Jungs hat. So wie sie hier als Jugendliche aussieht, vermutlich eine wilde!

»Oooch, du weißt ja, da bin ich eher nicht so interessiert«, meint sie zu meiner großen Überraschung. Um dann mit geröteten Wangen fortzufahren: »Na ja, ehrlich gesagt, gibt es da neuerdings schon jemanden, den ich sehr interessant finde. Ich glaube, den siehst du bald mal. Nächsten Montag vielleicht … oder übernächsten … da wollte ich dich mal mit nach Wöbern nehmen und ihn dir vorstellen. Aber sag Vati nichts.«

Natürlich werde ich Vati nichts sagen, wovon auch immer! Wofür hält sie mich?

»Vielleicht können wir das ja gleich nächste Woche machen: Du musst doch da sowieso hin, deinen Perso abholen«, fällt Yvi ein. »Wann hattest du den Termin noch mal?«

Ja, wann hatte ich den Termin noch mal? Keine Ahnung. Bis eben wusste ich ja gar nicht, dass ich meinen Ausweis da irgendwo abholen muss!

»Bin sofort wieder da!« Ich laufe schnell in Mamas Zimmer und werfe einen Blick auf den ordentlichen Schreibtisch. Da liegt was! Atemlos kehre ich mit einem graugrünen Zettel zurück in Yvis Zimmer.

»Dienstag, den 27. März, 16 Uhr«, lese ich vor. »In Wöbern auf der Polizei. Danach bin ich herzlich zur Feierstunde eingeladen.«

»Ja, ja, ich weiß. Schade, dass es nicht am Montag ist, aber egal. Ich komm trotzdem mit, dann ist es nicht so öde für dich. Pass auf: Du fährst mit dem Bus um viertel vier nach Wöbern, ich lese dich dort an der Bushaltestelle auf und wir holen den Perso. Danach lad ich dich auf einen riesigen Eisbecher ein, abgemacht? Als eigene Feierstunde sozusagen.« Sie grinst mich an.

»Klar!« Ich grinse ehrlich erfreut zurück.

Nun sitze ich in Mamas Zimmer. Das war heute ein cooler Nachmittag. Vor Yvi fällt es mir am schwersten, meine Fassade aufrechtzuerhalten. Am liebsten würde ich ihr alles anvertrauen.

Ich werfe eben noch einen Blick ins Original-Tagebuch von Mama. Aha, da steht inzwischen etwas Neues!

Mittwoch, der 21. März 1984

Traurig

Heute ist etwas sehr Schlimmes passiert: Zwei von meinen Guppys sind gestorben. Der wunderschöne Pinky mit der langen rosa leuchtenden Schwanzflosse und Pepper, die scheue Kleine. Ich habe es entdeckt, als ich das Aquarium sauber gemacht habe.

Okay, danke, das hat mir weitergeholfen! Ich weiß jetzt nicht nur, warum dieses stinkige Aquarium so muffelt, sondern dass ich es auch noch sauber machen muss. Eine Pumpe habe ich nicht entdeckt, also wird das Ganze wohl ziemlich vorsintflutlich ablaufen. Ich erinnere mich mit Grausen, wie wir in der Grundschule früher mal so ein altes Aquarium hatten, das dann regelmäßig ausgeschöpft und wieder neu gefüllt werden musste. Mann ey, wieder so was, worauf ich absolut gar keinen Bock habe!

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