Читать книгу Apotheker Melchior und das Rätsel der Olaikirche - Indrek Hargla - Страница 12

Kapitel 1
Reval, Raderstraße, Melchiors Apotheke 16. Mai, Morgen

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Der Revaler Apotheker Melchior Wakenstede war gerade vom Frühstückstisch aufgestanden, wo ihn seine geliebte Keterlyn mit frisch gebackenem Brot und einer ordentlichen Scheibe Schweinespeck verwöhnt hatte. Nun betrat er den Vorraum seines Hauses – der Revaler Apotheke –, wo ihn ein ganz gewöhnlicher Arbeitstag erwartete. Er würde sich anhören, wie die Stadtbewohner ihm neue Krankheiten und alte Beschwerden schilderten, er würde ein paar Dutzend Gerüchte hören und Arzneien, Süßigkeiten und einige Becher seines guten Apothekerschnapses verkaufen. Er würde Notleidende und Kranke sehen, aber auch Gesunde, die einfach so in die Apotheke kamen, um zu schwatzen, das Neueste zu hören und süßes Gebäck oder Aniskonfekt zu naschen. Melchior erfüllte seine Pflicht und war dabei zufrieden und glücklich, wie er es an der Schwelle zu seinem einunddreißigsten Lebensjahr mit dem Segen seines Schutzheiligen und zur Freude seines tüchtigen Vaters – ruhe er in Frieden zur Rechten der Heiligen Jungfrau – wohl sein sollte.

Melchior Wakenstede war in Lübeck geboren, von wo sein Vater vor über zwanzig Jahren nach Reval umgezogen und in dieses neue Land gekommen war, das vor noch gar nicht so langer Zeit den Heiden abgerungen und der Jungfrau Maria geweiht worden war. Noch aus der Kindheit erinnerte sich Melchior an die Geschichten der alten Krieger, die manchmal in die Apotheke seines Vaters gekommen waren, um Salbe für ihre schmerzenden Glieder zu kaufen, Geschichten davon, wie sie hierzulande gegen die Heiden gekämpft hatten, als deren Streitmächte Reval umzingelt hatten. Inzwischen war das alles schwer zu glauben, denn zahllose Enkel dieser sogenannten Heiden kamen Tag für Tag in seine Apotheke und auch seine geliebte Gemahlin Keterlyn stammte schließlich von dem Geschlecht ab, das seit ewigen Zeiten hier im Lande lebte. Und selbst wenn sie auch ihr Brot nicht genau so backten oder ihr Bier nicht genau so brauten wie in Thüringen oder Westfalen, so gingen sie jetzt doch jeden Sonntag in die Kirche wie alle anständigen Christenmenschen.

Melchior Wakenstede fühlte sich in Reval zu Hause, an Lübeck erinnerte er sich kaum. Er war der einzige Apotheker hier in der Stadt, wie es auch sein Vater gewesen war. Melchior liebte Reval. Er hatte einen Eid geschworen, die Stadt mit seinen Arzneien zu heilen, jedem Notleidenden zu helfen und Beschwerden zu lindern. Er wurde auch der Koch des Arztes genannt, in Wirklichkeit war er aber ein bisschen mehr als das. Von gleichem Stand wie die Kaufleute, von gleicher Bildung wie ein Pfarrer oder ein Syndikus, war er in der Stadt ein angesehener Mann, den sowohl die Ratsherren, die Adligen als auch die Ritter respektvoll behandelten.

Jetzt, an diesem schönen Frühlingsmorgen, kam er aus der Küche in die Apotheke, öffnete die Eingangstür weit und ließ die frische Meeresluft herein. Sein Haus war klein, doch ein größeres hatte sich sein Vater nicht leisten können. Im Erdgeschoss in der Diele war die Apotheke, so wie bei den Kaufleuten der Laden, von der Diele gelangte man in seine Wohnung und von dort führte ein schmaler Durchgang in die Küche. Schon sein Vater hatte den Raum zu einer sogenannten Hexenküche umgebaut. Um die Feuerstelle herum standen Pressen mit Hebeln und Retorten, dort braute und mischte Melchior seine Arzneien. Im ersten Stock waren seine Lagerräume voller Holzkisten, wo er getrocknete Heilpflanzen aufbewahrte. In der Apotheke hatte er einen großen Tisch, und an den Wänden standen Regale, in denen sich Glasgefäße mit Tinkturen, Ölen, Mixturen sowie Mörser aneinanderreihten. Da jeder Apotheker ein bisschen geheimnisvoll sein und den Leuten seine Auserwähltheit demonstrieren musste, hatte Melchior über dem Tisch ein kleines ausgestopftes Krokodil an die Decke gehängt, das zehn Mark gekostet hatte und, wie ihm der verschmitzte Händler versichert hatte, ein echtes ägyptisches Krokodil sein sollte. Die Leute schienen es jedenfalls zu glauben.

Melchior war hellhäutig, mittelgroß und eher hager, hatte einen kantigen Körperbau und einen schwankenden Gang. Seine schütteren Haare lagen eng am Kopf an, auch dann, wenn er sie an den Seiten länger wachsen ließ und unterhalb der Ohren abschnitt. Seine grauen Augen schienen jederzeit Frohsinn und gute Laune auszustrahlen, Melchior lachte gerne laut über die Späße anderer Leute und sein Lachen war dabei kindlich und vertrauensvoll. Vielen schien, dass er ständig freundlich und gutgelaunt war – ein Apotheker durfte schließlich nicht mürrisch und abweisend sein –, doch manche hatten ihn auch in jenen Momenten gesehen, in denen über sein schüchternes Gesicht ein finsterer Schatten fiel. Dies waren die Augenblicke, in denen er glaubte, dass ihn niemand beobachtete, und dann schien in seinen Augen eine tiefe Beklemmung auf, eine drückende und schmerzhafte Angst. Doch dann schüttelte er dieses Gefühl ab und war wieder der fröhliche Revaler Apotheker, jedermanns Freund und treuer Helfer.

Es war noch früh, die Stadt erwachte gerade. Melchior setzte sich und sah in seinen Notizen nach, wer heute welche Arznei abholen würde. Hier standen seine Gläser und Mörser, seine Mixturen und getrockneten Kräuter, hier war seine Welt. Aus ihr gab es kein Entrinnen, selbst wenn er es gewollt hätte. Melchior knotete ein Säckchen mit getrocknetem, geraspeltem Knoblauch auf, nahm starken Spiritus vom Regal und stellte ihn vor sich hin. Daraus würde er heute eine Halsarznei für die Bäckersfrau herstellen, obwohl er natürlich viel mehr verdienen würde, wenn er den Gebrannten mit Kräutern mischte und diesen zum Beispiel seinem guten Freund, dem Gerichtsvogt Wentzel Dorn, gegen Bauchschmerzen vorsetzte.

Doch gerade als Melchior den Knoblauch in den Mörser schüttete, drang leise Musik herein. Er lugte durch die offene Tür auf die Straße und sah, dass Kilian Rechperger, der Kostgänger des Kaufmanns Mertin Tweffell, aus dem Nachbarhaus über die Raderstraße gekommen war, sich auf den Brunnenrand gesetzt hatte und auf seiner Laute spielte.

Der Junge war wohl noch keine siebzehn Jahre alt, doch soweit Melchior wusste, war er bereits in mehreren Städten im Ausland in der Sangeskunst unterrichtet worden. Nach Reval war er mit der Bürgschaft seines Vaters gekommen, weil der alte Kaufmann Tweffell zufällig ein Verwandter der Rechpergers aus Nürnberg war. Seit vergangenem Sommer wohnte Kilian als Kostgänger im Hause des Oldermanns der Großen Gilde, sang bei Festen in der Stadt, und besonders oft traf man ihn bei den Schwarzhäuptern, wo in der letzten Zeit kein Festessen stattgefunden hatte, ohne dass Kilian dort seine übermütigen Lieder gesungen hätte. Kilian stellte sich gewöhnlich als Schulfreund vor, da man so die Wandergesellen seiner Nürnberger Sängergilde nannte, die in die Ferne zogen, um die Kunst der Musik zu erlernen. Melchior musste sich eingestehen, dass ihm Kilians Musik gefiel. In ihr waren die Wärme südlicher Gefilde zu spüren, Kilian spielte Melodien und Weisen, die die Revaler Musiker nicht kannten, und seine Stimme war klar und rein, wohlklingend und warm. Was auch nicht unbemerkt an einigen jungen Mädchen vorbeigegangen ist, dachte Melchior. Und runzelte die Stirn.

Melchior fuhr mit der Zubereitung der Hustenmixtur fort und sah, wie sich die Tür des Nachbarhauses öffnete und Gerdrud, die junge Frau des Kaufmanns Tweffell, aus dem Haus trat. Und dem Apotheker schien es, als hätte der Sängerbursche auf gerade diesen Moment gewartet. Melchior nahm den Mörser und setzte sich etwas näher an das offene Fenster. Neugier war nun einmal das Laster aller Apotheker.

Gerdrud, die vielleicht ein oder zwei Jahre älter als Kilian, aber mindestens vierzig Jahre jünger als ihr Gemahl war, trug einen Marktkorb unter dem Arm und nickte Kilian zur Begrüßung höflich zu. Der junge Mann sprang vom Brunnenrand und verneigte sich.

»Guten Morgen, Kaufmannsherrin«, rief er fröhlich. »Einen schönen Frühlingsmorgen wünsch ich Euch! Seht Ihr, welch ein wunderbarer und gesegneter Tag uns geschenkt wurde, es wäre geradezu Sünde, ihn nicht mit einem schönen Lied zu begrüßen.«

Die junge Frau blieb stehen und antwortete aufgeweckt: »Guten Morgen, Kilian Rechperger. Wunderbar ist dieser Tag aber nur für diejenigen, die ihn mit Gesang und Lautenspiel verbringen können. Für andere ehrliche Stadtbürger gleicht er allen anderen Tagen, ist voller Arbeit und Mühsal.«

Kilian spielte eine schnelle und unglaublich komplizierte Melodie und entgegnete dann: »Aber meint Ihr denn wirklich, Herrin Gerdrud, dass Gesang und Lautenspiel nur aus Gottes Gnade entstehen und man dafür nicht arbeiten und sich anstrengen muss?«

»Alles geschieht aus Gottes Gnade«, sprach die junge Frau. »Singen kann ich auch, aber meine Arbeit und die Erledigungen nimmt mir niemand ab. Dem einen ist der Tag zum Musizieren gegeben, dem anderen, um sein täglich Brot zu verdienen.«

»Onkel Mertin ist wohl reich genug, dass sich seine Frau nicht den lieben, langen Tag wie ein Waschweib abrackern muss. Ihr habt doch noch Ludke im Haus, und die Hauswirtin ...«, sagte Kilian spitzfindig, doch Gerdrud unterbrach ihn verärgert.

»Was schwatzt du da, Kilian Rechperger! Es ist nicht deine Sache zu entscheiden, wie der Oldermann seinen Haushalt zu regeln hat. Du bist bei uns nur Kostgänger.«

»Auch ein Kostgänger hat Augen im Kopf. Ich sehe doch, wie die Dinge hier in Reval gehandhabt werden und wie bei uns in Nürnberg! Wie der Vetter meines Großonkels seiner hübschen Gattin Arbeiten aufbürdet, für die man eigentlich drei Dienstmädchen bräuchte und für deren Bezahlung der alte Geizhals sehr wohl Geld hätte!«

Ein dreister Kerl, dachte Melchior, wie er das Gespräch vom Fenster aus verfolgte. Dreist, aber er wagt es, die Wahrheit auszusprechen. Tweffell, den Oldermann der Großen Gilde, konnte man wirklich weder der Geldverschwendung noch der Prasserei bezichtigen. Seine junge Gemahlin – abgesehen davon, dass sie dem Kaufmann auf seine alten Tage eine Augenweide war – verrichtete tatsächlich mehr Hausarbeiten als so manch andere reiche Kaufmannsfrau hier in der Stadt. Der Diener Ludke und die alte Hauswirtin waren in Tweffells Haus die einzigen Angestellten.

Gerdrud rief nun noch verärgerter: »Sei nur still, Kilian, hör sofort mit dem dummen Geschwätz auf! Wenn dich Ludke hören würde, würde er sofort alles dem Herren Tweffell weitererzählen.«

Der Bursche trat etwas näher an sie heran, legte den Kopf schräg und fragte spitzbübisch: »Aber Ihr erzählt es nicht weiter, Herrin Gerdrud?«

Gerdrud reagierte befangen. »Ich ... ich muss weiter. Ich habe es eilig,« sagte sie.

Doch Kilian tat, als hätte er sie gar nicht gehört.

»Aber vielleicht hört Ihr Euch ein Lied an?«, fragte er. »Oder noch besser – wie Ihr gerade sagtet, singen könnt Ihr auch selbst ... Bringt denn ein solcher Frühlingsmorgen einen nicht zum Singen? Machen wir es so – ich spiele die Laute und Ihr singt.«

Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Als ob ich mitten in der Stadt anfangen würde, ein Liedchen zu trällern, das schickt sich doch nicht! Ich muss wirklich gehen.«

Kilian blieb aber beharrlich. »Gestattet, dass ich Euch ein Lied singe, nur eines!«

»Nein, Kilian. Auch nicht nur eines.«

»Möchtet Ihr denn wirklich keine der wunderbaren Weisen der Nürnberger Meistersänger hören, davon kann ich mehrere. Gerade ist mir ein Stück über einen alten Gerber eingefallen, der eine fünfzig Jahre jüngere Frau geheiratet hat und zum Gespött der ganzen Stadt wurde und dann ...«

Gerdrud stieß einen unterdrückten Schrei aus und platzte heraus: »Halt den Mund, Kilian, und beschäme mich nicht mitten in der Stadt! Ich gehe jetzt!«

»He, so wartet doch! Dann ein anderes Lied? Vielleicht ein Minnelied? Alle unsere Meistersänger lernen alte Minnelieder. Soll ich Euch vorsingen, wie Tannhäuser oder Konrad von Würzburg sich nach ihrer Liebsten sehnten? Soll ich?«

»Kilian – nein! Leb wohl, ich habe in der Stadt zu tun und möchte mich nicht länger mit dir unterhalten.« Gerdrud nahm den Marktkorb fester unter den Arm und schickte sich an zu gehen. Doch Kilian ließ nicht locker, er zupfte auf seiner Laute und rief leise:

»Oder dann vielleicht ein Lied aus Reval, Herrin Gerdrud? Aber die sind so traurig, dass sie so gar nicht zum schönen Frühling passen ... Ach, ein lustiges fällt mir jetzt doch ein! Vielleicht gefällt Euch dieses Stück über fröhliche Seeleute?«

Und ohne eine Antwort abzuwarten, begann er zu singen:

Ich hab siebzehn Brüder und siebzehn Schiffe

Ich hab siebzehn Häfen voll hübscher Mädchen

Meine Brüder fürchten weder Tod noch Teufel ...

Doch da schrie Gerdrud auf und auch Melchior zuckte zusammen. Die junge Frau stürzte zu Kilian hin und hielt ihm den Mund zu.

»Dieses Lied darfst du in Reval nicht singen, wenn du nicht von hier fortgejagt werden willst!«, rief sie erschrocken. »Bist du von Sinnen? Die Vitalienbrüder haben uns so viel Leid zugefügt, diese Seeräuber, diese Mörder ... Wer hier in Reval ihre Lieder singt, der muss vollkommen von Sinnen sein!«

Kilian nahm langsam ihre Hand von seinem Mund und fragte so leise, dass Melchior ihn kaum hörte: »Aber vielleicht bin ich ja vollkommen von Sinnen?«

»Sei was du willst, aber solche Lieder darfst du hier in der Stadt nicht singen, wenn du nicht gesteinigt werden willst«, beharrte sie.

»Schon gut. Aber sagt mir, was für ein Lied Ihr an diesem Morgen dann hören wollt?«

»Keines, ich muss weiter. Keines der Minnesänger oder der Meistersänger, keines über den Frühling oder das Meer, kein einziges. Ich ... ich muss mich wirklich eilen. Geh du besser auch deiner Wege.«

Kilian lächelte bekümmert. »So ohne Lieder ist Euer Leben leer und traurig, ohne Freude und Trost. Nur Geschäft und Arbeit, Kummer und Sorgen. Nun, einen schönen Tag noch, Herrin Gerdrud, und bis heute abend! Auch ich habe bei den Schwarzhäuptern zu tun. Wohin wart Ihr denn unterwegs, vielleicht haben wir denselben Weg?«

»Ich? Nur gleich hier in die Apotheke muss ich und dann zum Hafen und auf den Markt.«

»In die Apotheke?«, fragte Kilian. »Kann denn nicht Ludke die Salben und Arzneien für seinen Herrn abholen?«

»Herr Mertin hat Ludke schon gestern Abend irgendwohin geschickt, ich habe ihn seitdem nicht mehr gesehen ... Auf Wiedersehen, Kilian, ich gehe nun.«

Damit drehte sich die junge Frau entschlossen um. Kilian lachte, winkte Gerdrud nach und ging selbst die Raderstraße entlang Richtung der Pforte am Langen Domberg. Melchior blickte ihm nach und schüttelte traurig den Kopf. Das ist nicht recht. Es war nicht recht, dass der alte Kaufmann eine so junge Frau geheiratet hatte und noch weniger, dass ein junger und gutaussehender Kostgänger mit ihnen unter demselben Dach wohnte. Doch dann entfernte Melchior sich rasch vom Fenster und stellte sich hinter seine Theke.

Gerdrud brauchte heute aus der Apotheke eine Knochensalbe für die kranken Gelenke ihres Gemahls. Melchior stellte diese Salbe nach dem Rezept des Stadtarztes her, obwohl er sicher war, dass auch die Salbe den Knochen und Gliedern des alten Oldermanns nicht mehr viel half.

Als Gerdrud die Apotheke betrat und Melchior begrüßte, war ihr Gesicht noch leicht gerötet.

»Herrin Gerdrud, unsere liebe Frau Nachbarin!«, rief der Apotheker. »Welch eine Freude, Euch an diesem schönen Morgen in so guter Laune zu sehen.«

»Ihr seid auch immer derart guter Laune, dass es mir geradezu leid tut, so selten her zu kommen«, erwiderte die junge Frau bescheiden.

»Aber kommt doch öfter vorbei! Selbst einem jungen und gesunden Menschen kann es nicht schaden, ab und zu eine anregende Arznei zu schlucken«, empfahl Melchior. »Ach ja, Eure Knochensalbe. Hier ist sie, fertig für Euch zum Mitnehmen. Alles ist so wie immer – die Salbe auf die schmerzenden Knochen auftragen und ein Gebet an die Heilige Jungfrau dabei sprechen, dann hilft sie am besten. Oder lindert zumindest die Beschwerden des Alters. Ich hatte eigentlich an Eurer Stelle Ludke erwartet ...«

»Herr Mertin hat ihn mit einem Auftrag fortgeschickt, schon gestern. Seitdem habe ich ihn nicht gesehen«, antwortete Gerdrud.

»Und Euer Gemahl selbst?«, wollte Melchior wissen.

»Er ist schon im Morgengrauen zum Hafen geeilt, um dort einen Handel abzuschließen. Danke für die Salbe.«

»Geeilt?«, wiederholte Melchior nachdenklich. »Nun, ich bin natürlich kein richtiger Arzt, aber das eine oder andere über Krankheiten weiß ich doch. Und in Herr Mertins Alter ist Eile nicht mehr das Richtige, das sage ich Euch. Ein ruhiges Leben, kräftiges Essen, während der Fastenzeit das Fasten nicht übertreiben, nicht wahr, regelmäßig ein Aderlass sowie die schmerzenden Stellen ab und zu mit Salbe einreiben und dann noch heiße Bäder – mehr kann ich nicht empfehlen.«

Während er so sprach, beobachtete er verstohlen Gerdruds Gesicht. Das Mädchen war noch keine zwanzig. Gerdrud hatte helle Haare und blaue Augen, unter ihrer länglichen Haube sah ihr jugendliches Gesicht ganz unschuldig aus und löste Mitgefühl aus. Verbarg sie mit ihrem sorglosen Aussehen all den Kummer, den eine junge Frau ertragen musste, deren Gemahl gute vierzig Jahre älter als sie und dazu noch krank war?

»Er lässt in der Nikolaikirche für sich beten und bezahlt für die Messen«, erzählte das Mädchen und seufzte. Nicht gerade allzu großzügig, wie ich gehört habe, dachte Melchior, doch er nickte eifrig.

Das Mädchen schwieg. Es sah Melchior an, wurde ernst und fragte dann plötzlich: »Aber sagt, Herr Melchior, das alles hilft wohl gar nichts? Seine Schmerzen wollen einfach nicht nachlassen.«

»Liebe Frau Nachbarin, das Leben des Menschen verläuft so, wie es ihm bestimmt ist. Mit Hilfe von Behandlungen und Gebeten kann Herr Mertin sein Leben wohl noch etwas verlängern. Und wenn er ordentlich zur Ader gelassen wird und seine kranken Knochen und Glieder eingerieben werden, so hat seine Gesundheit noch nicht das Schlimmste zu befürchten, das habe ich ihm auch gesagt. Er kann noch mehr als zehn Jahre leben.«

»Sagt Euch das Eure Sternenkarte?«

»Meine Sternenkarte?«, fragte Melchior. Er bückte sich und holte unter der Theke eine zusammengefaltete Sternenkarte hervor, eine Arbeit Brüggescher Meister, die ihm sein Vater vererbt hatte. Das Lesen der Sternenkarte war eines der Geheimnisse der Apothekerzunft. Die Astrologen der Königshäuser lasen die Karte auf ihre Art, die Apotheker aber konnten aus der Karte etwas ganz Anderes herauslesen, wenn sie den Namen und den Geburtsmonat des Kranken wussten.

»Nein, nicht meine Sternenkarte«, sagte er dann. »Das sagen mir mein Gefühl und meine Erfahrung. Die Glieder Eures Gemahls sind krank und seine Knochen schmerzen, aber seine Lebenskraft ist noch stark. Die Sternenkarte sagt mir, wann der beste Tag für den Aderlass ist, und wie ich sehe, wäre das ...«

Er ließ seine Finger rasch über die Symbole der Sternenkarte gleiten und murmelte: »Gegen die Hüftschmerzen von Herrn Tweffell müssen wir schauen, wo der Schütze steht, für die Beine brauchen wir den Steinbock und für die kranken Knie den Wassermann ... Und wenn wir hier jetzt sehen, dass der Mond übermorgen abend im Steinbock steht, so würde ich sagen, dass Euer Gemahl in zwei Tagen vormittags für einen Aderlass zum Barbier gehen sollte und danach sollte er sich sofort mit der Salbe einreiben. Dann müssten die Schmerzen in seinen Beinen wohl nachlassen.«

»Das werde ich ihm ausrichten. Tausend Dank, Herr Apotheker, und auf Wiedersehen!« Das Mädchen seufzte noch einmal und wandte sich zum Gehen.

Melchior nickte ihr zu. »Jaja, das ist eine alte Wissenschaft, die Wilhelm von Saliceto und Gerhard von Cremona und all die anderen berühmten Heiler vergangener Zeiten uns gelehrt haben. Empfehlt Eurem werten Gemahl einen ordentlichen Aderlass und Ihr werdet schon sehen, liebe Frau Nachbarin, dass er sich noch lange guter Gesundheit erfreuen wird.«

»Gebe es Gott«, murmelte Gerdrud. Dann ging sie, und der Apotheker sah ihr nachdenklich hinterher.

»Das arme Mädchen!«, meinte plötzlich eine Frauenstimme hinter ihm. Melchior hatte gar nicht gehört, dass seine geliebte Keterlyn hereingekommen war.

Apotheker Melchior und das Rätsel der Olaikirche

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