Читать книгу Apotheker Melchior und das Rätsel der Olaikirche - Indrek Hargla - Страница 17
Kapitel 6
Melchiors Apotheke 16. Mai, Morgen
Оглавление»Das arme Mädchen«, wiederholte Keterlyn, als sie neben ihren Gemahl trat und Gerdrud nachschaute.
»Alles andere als das, meine Liebe«, sagte Melchior und schmunzelte. »Gerdrud ist vielleicht unglücklich, aber arm ist sie nicht, denn Herr Mertin ist einer der reichsten Männer Revals.«
»Doch was nutzt dir der Reichtum, wenn du keinen Pfennig davon siehst und jeden Tag die geschwollenen Beine deines kranken Gemahls einreiben musst wie ein Armenpfleger?«, fragte Keterlyn. »Ich kenne Gerdrud schon seit meiner Kindheit, als wir zusammen auf der Wiese vor der Stadt gespielt haben, sie sprudelte nur so vor Lebensfreude, ein so vergnügtes Mädel, aber sieh sie dir jetzt an ...«
Der Apotheker zuckte die Achseln. »Natürlich haben Gerdruds Eltern nicht so sehr für ihre Tochter gesorgt, dass sie sie einem jungen, tüchtigen Apotheker zur Frau gegeben hätten, aber wenn man den Brautpreis anschaut, den der alte Mertin Gerdruds Eltern gezahlt hat und das, was ich deinen Eltern geben konnte ...«
»Mein Vater war auch nicht deutscher Abstammung, sondern ein Este und eben nur ein einfacher Steinmetz«, sagte seine Frau vorwurfsvoll.
»Nun ja, da habe ich einen guten Handel gemacht, ich habe mir das stattlichste Mädel ausgesucht, für das nur ein geringer Brautpreis zu zahlen war ...«
Keterlyn brach in Gelächter aus. »Du alter Geizhals!«
»Aber ich beklage mich nicht, nicht im Geringsten, das käme mir gar nicht in den Sinn. Der Preis war nicht hoch, aber was für ein Prachtweib. Übrigens, ich habe vorhin auf meiner Sternenkarte nachgeschaut, was diese einem schlauen Apotheker für heute verspricht, und dort stand etwas sehr Erfreuliches«, verkündete Melchior und blinzelte seiner Gemahlin spitzbübisch zu.
Keterlyn ertappte seinen Blick dabei, wie er ihren Körper entlangglitt und fragte mit gespielter Strenge: »So, was denn?«
Melchior zwinkerte noch einmal und breitete die Sternenkarte aus. »Tritt nur näher, meine Liebe, und schau selbst.«
»Dieses Sternenzeug ist doch Hokuspokus und ich glaube sowieso nicht dran, was soll ich da denn schauen?«
Wenn Keterlyn überhaupt an irgendetwas ernsthaft glaubte, so war dies ihr weiblicher Instinkt, in dem sich die alte Bauernschläue ihrer Vorfahren und die Vorsicht einer modernen Städterin vereinten. Melchior aber schmunzelte und beugte sich über die Sternenkarte. Die Frau eines Apothekers ist eben kein Apotheker, dachte Melchior.
»Wenn ich es richtig verstehe, so zeigt der Schütze ziemlich eindeutig, dass heute morgen ein tüchtiger und vortrefflicher Apotheker genau hier und jetzt von seiner lieben Gemahlin einen süßen Schmatz bekommt«, sagte er dann. Er drehte sich schnell um und zog seine Frau an sich. Keterlyn zierte sich anfangs, doch nur, weil sich das so gehörte. Ihren Einwand, dass doch jeden Moment jemand hereinkommen könnte, wollte Melchior nicht hören. Er drückte seine Frau sanft gegen den Ladentisch, drückte die Lippen auf ihren Mund, fuhr mit der Hand unter ihr Kleid und streichelte ihre geschwungene Hüfte.
»Siehst du, Liebste, genau so, wie es der Schütze vorausgesagt hat: Ein süßer Schmatz, und der Tag kann beginnen. Du glaubst also ganz umsonst nicht an die Sternenkarte«, flüsterte er nach einer Weile seiner Frau ins Ohr.
Und erst nachdem Keterlyn die Voraussage des Schützen bereitwillig entgegengenommen hatte, hörte Melchior Wakenstede, dass gestern auf dem Domberg ein hochrangiger Ordensritter umgebracht worden war. Keterlyn war am Morgen auf dem Markt gewesen, und wie Melchior schon oft bemerkt hatte, war der Markt der einzige Ort in der Stadt, wo man noch früher als in der Apotheke das Neueste hörte.
»So, haben die Ritter einander ein wenig zur Ader gelassen?«, fragte er neugierig, denn Apotheker sind nun einmal sehr neugierig.
»Ich weiß nicht. Ein gewisser Clingenstain oder so ähnlich. Es heißt, dass man ihm den Kopf abgeschlagen hat, im Schlaf!«
»Du lieber Gott!«, entfuhr es Melchior. »Was für furchtbare Spiele unsere Ritterherren nur spielen. Wer mag dieser Übeltäter nur gewesen sein?«
»Oh, erzählt wird alles Mögliche, aber Genaues weiß niemand. Der Komtur weiß es auch nicht, es gibt keine Zeugen. Der Kopf war abgeschlagen und das ist alles, kein Mörder weit und breit. Ein paar Rittersknappen wurden am Morgen schon beim Rathaus gesehen, die waren recht verdrossen und stritten miteinander. Melchior, sag, wohin ist unsere Welt nur geraten, wenn schon die Ordensmänner untereinander Streit suchen und so schreckliche Bluttaten begehen?«
»Ich weiß es nicht,« gestand Melchior und sah zum Fenster hinaus. »Und ich weiß nicht, ob ich es überhaupt wissen will. Aber ich glaube, dass wir gleich mehr darüber hören werden, denn dort kommt ja unser werter Gerichtsherr Dorn persönlich.«
Die Stadt war zum Leben erwacht, auf der Raderstraße drängte sich bereits die alltägliche Menschenmenge, und unter den bekannten Gesichtern erkannte Melchior sofort ein besonders vertrautes Gesicht, seinen guten Freund, den Gerichtsherrn der Stadt Reval, Wentzel Dorn. Und schon als Dorn die Apotheke betrat, wusste Melchior, was für Nachrichten ihm der Freund brachte. Der Gerichtsherr schien mürrisch und verdrossen, er hatte seine Amtskette vergessen und brannte auf ein paar Heilschnäpse und guten Rat.
Das ist nicht das erste Mal, erinnerte sich Melchior. Der Gerichtsherr kannte sich zwar gut im lübischen Recht aus und er hatte kräftige Diener, aber wenn er guten Rat brauchte, so war die Apotheke der erste Ort, den er aufsuchte. Es war schon drei Mal vorgekommen, dass Melchior dem Rat von Reval bei der Suche nach einem Mörder behilflich sein konnte und beim vorigen Mal im letzten Sommer, als Melchior herausgefunden hatte, wer jenen flämischen Ketzer erwürgt hatte, hatten sie festgestellt, dass sie sehr gerne Zeit miteinander verbrachten, über die weite Welt diskutierten und zusammen Bier tranken. Und das nannte man dann wohl Freundschaft.
Der Revaler Gerichtsvogt Wentzel Dorn war ein Dutzend Jahre älter als der Apotheker, ein untersetzter und stämmiger Mann mit roten Haaren, der leicht auf dem rechten Bein hinkte. Das rührte von einer alten Verletzung her, die er sich in seiner Jugend in der städtischen Kriegstruppe beim Kampf gegen die Litauer zugezogen hatte. Schon sechs Jahre lang war der gebürtige Revalenser Wentzel Dorn der Gerichtsvogt des Rates, einer von vierzehn Ratsherren, allerdings nannte man den Gerichtsvogt auch den kleinen Ratsherren, denn größeres Mitspracherecht bei der Planung von städtischen Angelegenheiten hatte er keines. Die Aufgabe des Gerichtsherrn war es, Verbrecher zu fassen und sie bei geringeren Vergehen nach dem lübischen Recht zu bestrafen. Ebenso war es seine Sache, ein Auge auf die Handwerker zu haben, dass sie die Vorschriften des Rates befolgten und die Stadtbewohner nicht betrogen. Bei schwereren Verbrechen hielt der ganze Rat Gericht, gemeinsam mit allen Bürgermeistern und Ratsherren. Wentzel Dorn war ein guter Gerichtsvogt, fand Melchior, und ein guter Richter, da er das Herz auf dem rechten Fleck hatte. Wie es im lübischen Recht stand, durfte sich ein Richter weder von Hass, Gunst noch Geschenken beeinflussen lassen und durfte niemanden fürchten außer dem Herrgott, und genau daran hielt sich Wentzel Dorn auch. Wenn jemand gefoltert werden musste, so befahl Dorn, ihn zu foltern. Und was Gerechtigkeit und Rechtsprechung anging, so war er weder übermäßig streng noch grausam, er hörte stets alle Beteiligten an und verhängte eine solche Strafe, die der Angeklagte zahlen konnte und die seine Familie nicht in die tiefe Armut trieb. Wenn aber Schläue nötig war oder man einen Verbrecher seinen Spuren nach suchen musste oder wenn ein Dieb alles abstritt und niemand gegen ihn aussagte, dann fehlte es Dorn manchmal an Scharfsinn. Aber dazu hatte man schließlich Freunde.
Ja, dies war nicht das erste Mal, dass Melchior seinem Freund einen guten Rat geben sollte, und mit genau solchen gerunzelten Augenbrauen wie immer in solchen Fällen betrat Wentzel Dorn nun die Apotheke.
Der Gerichtsherr begrüßte höflich Keterlyn und ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen.
»Der Frieden des Herrn sei mit Euch, Herr Wentzel«, sagte Keterlyn.
»Von Frieden sind die Dinge hier weit entfernt«, entgegnete der Gerichtsherr unwirsch.
»Ich frage dann erst gar nicht lange«, sagte Melchior, »wie es dem Bauch des Gerichtsherrn heute morgen geht, ich schenke besser gleich einen heilenden Gewürzwein ein.«
»Ach«, rief Keterlyn mit gespielter Überraschung, »geht es dem Gerichtsherrn wieder im Bauch herum? Wie jeden Morgen?«
»So ein kleiner Heiltrunk, ja, der würde nichts schaden. Der Bauch zwickt und zwackt schon rechtschaffen ...«, brummte Dorn.
Melchior hatte die Tonflasche schon bereitgestellt. »Und wie ich sehe, sind die Bauchschmerzen heute ganz besonders schlimm, der Gerichtsherr hat deswegen sogar seine Amtskette vergessen«, bemerkte er, während er den Trunk eingoss. »Wohl bekomm‘s!«
»Dank dir, Melchior, wohl bekomm‘s!« Der Gerichtsherr kippte den Becher Gewürzwein mit Kräutern die Kehle hinunter und atmete tief aus. Keterlyn beobachtete ihn und lachte still in sich hinein. Soweit sie wusste, plagten den Gerichtsherrn seine Bauchschmerzen allzu oft und ein Apothekertrunk der stärkeren Art schien das einzige zu sein, was half.
Dorn ächzte jedoch: »Als ob der Leibhaftige selbst dahintersteckte, das zwickt und zwackt nur so. Die Amtskette aber, ja ... Die habe ich vielleicht gar nicht mehr lange um. Aber Melchior, falls du es noch nicht gehört haben solltest ...«
»Das habe ich wohl, denn meine Frau war heute früh bereits auf dem Markt«, sagte Melchior.
»In dem Fall weißt du schon mehr als ich«, meinte Dorn.
Melchior schwieg einen Moment und sagte dann ernster: »Nur ein kleines bisschen, Herr Gerichtsvogt, nur soviel, dass gestern auf dem Domberg am Abend dem ehemaligen Ordensgebietiger von Gotland der Kopf abgeschlagen wurde und dass der Mörder in die Stadt geflohen ist.«
»In die Stadt!«, rief Keterlyn. »Das hat auf dem Markt aber niemand gesagt! Woher weißt du das nur?«
»Nun, das ist nicht gerade schwer auszurechnen – wenn auf dem Domberg eine Bluttat begangen und noch niemand in Ketten gelegt worden ist, hat der Mörder es folglich geschafft, zu entfliehen. Und wenn er entflohen ist und sich am frühen Morgen Ordensdiener beim Rathaus herumtreiben und der Gerichtsvogt nach alledem äußerst missgestimmt ist, dann ist klar, dass er nur in die Stadt geflüchtet sein kann.«
Dorn nickte und nahm einen Schluck.
»Der Mörder ist in der Stadt? Ach du grundgütiger Himmel, Melchior, der Mörder ist in der Stadt? Jetzt wage ich mich überhaupt nicht mehr auf die Straße«, klagte Keterlyn.
»Um so besser«, sagte Melchior. »Ich habe dir vorhin nur das gesagt, was die Sternenkarte tüchtigen Apothekern für den Morgen versprochen hat, aber wenn ich jetzt recht überlege, stand dort für die Mittagszeit noch das eine oder andere mehr, geh also wirklich besser nicht in die Stadt.«
»Melchior! Schäm dich!« Keterlyn wurde rot, aber Dorn interessierte sich sogleich dafür, was denn über Gerichtsvogte für heute in der Sternenkarte stünde.
»Drei Becher Gewürzwein gegen Bauchschmerzen«, antwortete Melchior und nickte heiter. Keterlyn aber verabschiedete sich vom Gerichtsvogt, weil sie diese furchtbaren Mordgeschichten nicht hören wollte.
Das war eine ernste Angelegenheit, wenn der Mörder des hohen Ordensmeisters sich unter das Stadtrecht flüchtete. Oh, natürlich würde der Orden ihn auf den Domberg holen lassen, und natürlich würde der Rat ihn auch herausgeben, aber alles weitere hing davon ab, wer der Mörder war und warum er gemordet hatte. Die Ordensleute durften nicht selbst in die Stadt kommen und dort ihr Landrecht durchsetzen. Melchior liebte Reval, dies war seine Stadt. Er wollte, dass Reval wohlauf war, dass sich keine Krankheiten ausbreiteten und das Leben ungefährlich war und dass die Stadt auch für seine Kinder ein sicherer Wohnort blieb. Reval lag auf dem Herrschaftsgebiet des Ordens, obwohl hier das lübische Recht galt und der Orden bei Stadtangelegenheiten nicht mitbestimmen konnte. Wenn der Mörder des Ordensmannes aber ein Stadtbürger war, konnte die Rache des Ordens die ganze Stadt treffen. Das war noch nie passiert, dass jemand aus Reval einen Ritter geköpft hätte. Das war unerhört, das war grauenhaft ...
»Haben sie den Mörder gesehen?«, fragte Melchior plötzlich. »Haben die Ordensmänner gesehen, wer es war?«
»Das weiß ich nun nicht, was oder wen sie dort gesehen haben. Die Ritter erkennen doch kaum noch jemanden, die zechen mit den Männern von Gotland doch schon mehrere Tage lang«, brummte der Gerichtsvogt.
»Jaja, wenn ich jetzt nachdenke, war nicht dieser von Clingenstain – Friede seiner Asche –, jener berühmte Henning von Clingenstain von Gotland, einer der Armeeanführer des hochehrenwerten Ordensmeisters von Jungingen, als der Orden vor neun Jahren die Ordnung auf Gotland wiederherstellte und die Vitalienbrüder von dort vertrieb?«, erinnerte sich Melchior.
»So ist es«, bestätigte Dorn. »Wie dem Rat mitgeteilt wurde, reisen die Ordensmänner von Gotland über Reval zurück nach Marienburg, zum Hochmeister, nachdem der Orden Gotland nun an die dänische Krone abgetreten hat.«
»Von Clingenstain, der Schlächter von Gotland, wie man ihn nannte ...«, murmelte der Apotheker. »Wie man früher erzählte, verbrannten die Ordensmänner damals auf Gotland die Vitalienbrüder bei lebendigem Leibe, schlugen ihnen die Arme ab und ließen sie am Strand verbluten, manchen zogen sie die Haut ab und aus ihrer Haut machten sich die Ordensmänner Handschuhe. Dort ist das Blut geradezu in Strömen geflossen.«
»Und ganz zu Recht!«, polterte der Gerichtsvogt. »Hatten denn die Vitalienbrüder mit irgendjemandem Erbarmen? Haben sie denn damals nicht jedes Schiff ausgeraubt, ganz gleich, ob nun Schiffe der Hanse, aus Schweden oder Dänemark, waren sie nicht die schlimmste Plage der Nordsee, diese Bande von hinterhältigen, tollwütigen Räubern, verfluchte Mörder! Störtebeker, Gödeke Michels und Magister Wigbold und wie sie alle hießen ...«
Ja, Melchior kannte diese Namen, wie sie wohl jeder Hafenstadtbewohner hier am Meer kannte. Dies waren Namen aus seiner Jugendzeit, die Angst und Schrecken verbreitet hatten. Die Vitalienbrüder hatten mit niemandem Erbarmen und niemand Erbarmen mit ihnen. Die einen töteten, damit sich ihre Feinde vor Angst schneller ergaben, die anderen, damit die Räuber aus Angst vor ihrem Schicksal von den Meeren verschwanden. Die gefangen genommenen Vitalienbrüder wurden an Land gebracht und dort in den Häfen vor den Augen des Volkes hingerichtet. Eine solche Hinrichtung hatte er selbst vor einem Dutzend Jahren miterlebt. Im Hafen von Reval wurden drei Vitalienbrüder geköpft und ihre Schädel an die Schiffsdalben genagelt. Hunderte und aberhunderte von Menschen kamen bei diesen Kriegen ums Leben und der Zug der Verwüstung traf auch Livland, selbst Hapsal hatten die Vitalienbrüder niedergebrannt. Der Orden hatte alledem ein Ende gemacht. Melchior dachte daran zurück, hörte dem Gerichtsvogt und seinen Schimpftiraden zu und sah dabei ab und an aus dem Fenster. Er sah, wie unter all den Leuten der Herr Schwarzhäupter Clawes Freisinger und Fräulein Hedwig vertraulich flüsternd am Fenster vorbeigingen, er sah den Pastor der Heiliggeistkirche Herrn Rode vorbeilaufen, dann waren da der Schustergeselle und andere bekannte Leute, die offensichtlich noch nicht wussten, dass hier irgendwo auch der Mörder vom Domberg herumspazieren könnte.
»Sie hatten ihre Gefangenen in Heringsfässer gesteckt und ins Meer geworfen«, ereiferte sich der Gerichtsvogt weiter, »und sogar meinen Schwiegersohn hatten sie gefangen genommen und erst später hörten wir, dass er schon längst am Strand von Stralsund abgestochen worden war. Verflucht, Reval war wegen dieser Vitalienbrüder wie umzingelt, kein einziger ehrlicher Schiffer hat es mehr gewagt, ohne Soldaten zur See zu fahren und selbst die überkam manchmal die Gier und sie haben das ganze Schiff an die Vitalienbrüder verschachert. Das war ein Segen Gottes, Melchior, dass der Orden sie von Gotland verscheucht hat.«
»Ein Segen Gottes, das war es«, stimmte Melchior zu. »Auf der See ist es jetzt tatsächlich weniger gefährlich, obwohl die Räuberei dort solange weitergehen wird, wie Waren auf dem Seeweg befördert werden. Denn wie man hört, lassen die Vögte von Wiborg und Turku die Schiffe aus Reval von ihren Küstenleuten weiterhin kapern. Dennoch seltsam, dass von Clingenstain gerade jetzt sein Ende gefunden hat, nachdem er Gotland verlassen hatte.«
»Was willst du damit sagen, mein Freund?«
»Nichts, nur, dass es seltsam ist. Solange er Herrscher auf Gotland war, war er gesund und munter, und gerade jetzt, wo er seiner Amtspflichten entbunden ist, findet er sein Ende. Und das gerade in Reval, wohin er vorher wohl noch nie einen Fuß gesetzt hat und wo niemand Hass gegen ihn hegen konnte.«
Der Gerichtsvogt seufzte. »Gerade in Reval, ja, jetzt reibst du auch noch Salz in die Wunde.«
»Das ist doch die Aufgabe eines Apothekers, alle möglichen Wunden einzureiben. Nein, ich möchte auf deine Kosten keine Späße machen, lieber Freund, aber das eine sage ich dir, wenn ich dir irgendwie zwischen den Mühlsteinen des Rates und des Ordens heraushelfen kann, damit sie dich nicht ganz zermahlen ...«
Melchiors Angebot unterbrach ein heller Aufschrei vor dem Fenster. Er drehte sich um und sah, dass es offensichtlich Fräulein Hedwig Casendorpe gewesen war, das sich über Herrn Freisingers Worte mächtig gefreut hatte und daraufhin beinahe mit Pastor Rode zusammengestoßen war. Der Schwarzhäupter Freisinger versuchte nun, dem Pastor die Sache beschwichtigend zu erklären, Hedwig aber eilte fröhlich wieder auf den Markt zurück.
»Was ist los?«, erkundigte sich Dorn.
»Nichts besonderes«, meinte Melchior. »Der Herr Schwarzhäupter geht dort mit seiner Angebeteten nur spazieren. Oder besser gesagt, ging. Sie haben sich nämlich gerade sehr innig verabschiedet. Sieh einer an, der Herr Schwarzhäupter hat also vor einem so wichtigen Abend auch noch Zeit für Herzensdinge.«
»Abend? Was denn für ein Abend?«, fragte Dorn.
»Bester Freund, heute ist doch bei den Schwarzhäuptern der erste Tag der Bierprobe, wo sowohl der Herr Apotheker als auch der Herr Gerichtsvogt erwartet werden. Ich habe schon gestern gesehen, wie sie von den Dominikanern Bierfässer zu den Schwarzhäuptern gerollt haben.«
»Verdammt«, stöhnte Dorn. »Das hatte ich schon ganz vergessen. Das Fest wird doch wohl nicht abgesagt, jetzt, wo ...«
»Ein Mörder in der Stadt herumläuft? Aber das können wir Herrn Freisinger doch gleich fragen.«
Melchior steckte den Kopf zum Fenster hinaus und rief dem Kaufmann Freisinger zu, der Fräulein Hedwig noch sehnsuchtsvoll nachblickte: »Seid gegrüßt, Herr Schwarzhäupter, bleibt nun doch nicht auf der Schwelle stehen, kommt nur in die Apotheke herein, wenn Ihr schon in der Gegend seid.«
»Aber gerne«, erwiderte der Kaufmann von der Straße aus. Er sah noch einmal Hedwig hinterher, wie sie Richtung Rathaus lief und rieb sich schnell die Augen. Dann stieß er die Tür zur Apotheke auf und trat ein, während Melchior ihm bereits einen Becher seines Apothekertrunks einschenkte.
»Ah, der Gerichtsherr ist auch hier, einen guten Morgen«, nickte Freisinger ihm zu.
Melchior konnte nicht behaupten, dass Clawes Freisinger gerade sein Freund sei, dazu waren sowohl sie selbst als auch ihre Lebensweise zu verschieden. Jedoch brachte er diesem groß gewachsenen, südländisch anmutenden Mann Ehrerbietung und Hochachtung entgegen und das nicht nur, weil er als Apotheker zu den Festgelagen der Schwarzhäupter eingeladen wurde, nein. Clawes Freisinger war, so fand Melchior, ein Mann mit Gerechtigkeitssinn, er hatte etwas Edles und Ritterliches an sich, was ihn von den anderen Kaufleuten der Stadt abhob. Freisinger strahlte eine unerklärliche Würde aus, gerade, als sei er ein Adliger. Den Oldermann der Schwarzhäupter umgab auch ein bisschen etwas Geheimnisvolles und eine unerklärbare Kraft, die Melchior noch nie richtig verstanden hatte. Jetzt aber goss Melchior dem Herren Freisinger einen kleinen Becher Apothekertrunk ein und der Gerichtsherr wollte wissen, wer denn da gerade auf der Straße gerufen habe.
»Fräulein Hedwig Casendorpe hätte beinahe Pastor Rode von der Heiliggeistkirche umgerannt«, antwortete Freisinger sachlich. »Niemandem ist dadurch größerer Schaden entstanden.«
»Ah, Fräulein Hedwig war das, aber dann ist doch klar, warum sie den Pastor beinahe umrennt«, prustete Dorn vor Lachen.
»Ich verstehe nicht, was Euch zu der Annahme bringt?«, fragte Freisinger in nun angespannterem Ton.
»Hört mal, die ganze Stadt weiß doch, dass Fräulein Hedwig und Ihr den Pastor bald brauchen werdet, der wie es sich gehört vor dem Altar ...«, raunte der Gerichtsvogt vertrauensvoll und zwinkerte Freisinger zu. »Sagt an, Herr Schwarzhäupter – wann wird der alte Casendorpe für die ganze Stadt das Verlobungsfest ausrichten?«
Freisinger schien solches Gerede aber nicht zu passen. »Das müsst Ihr schon Herrn Casendorpe selbst fragen«, erwiderte er knapp.
Melchior klopfte dem Gerichtsvogt auf die Schulter und lachte. »Tja, unsere Stadt ist eben klein, da bleibt nichts unbemerkt und die Frauen fangen doch gleich an zu tratschen, sobald eine Hochzeit auch nur zu erahnen ist. Nun, auch ich habe gehört, dass der Herr Freisinger bald das fröhliche Leben der Schwarzhäupter hinter sich lassen und ein verheirateter Stadtbürger werden soll, aber erzählt wird eben alles Mögliche, und wenn etwas erzählt wird, gelangen die Gerüchte auch hierher in die Apotheke. Nehmt uns unsere Neugierde also nicht übel, Herr Schwarzhäupter.«
»Ich nehme sie Euch nicht übel, Melchior«, sagte der Kaufmann. »Ihr als verheirateter Mann wisst ja selbst, wie das ist: Man sagt etwas, der Nächste versteht es anders, und Dritte hören eine dritte Variante, und erzählen es Vierten wiederum auf ihre Weise weiter.«
»So ist es, Herr Schwarzhäupter«, stimmte Melchior zu. »Aber was sagt Ihr zu einem süßen Heiltrunk gegen die Halsschmerzen, die Euch letzte Woche erst plagten? Ich habe noch etwas davon übrig und Eurem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, würde ich sagen, dass die Schmerzen noch nicht ganz weg sind.«
»Es wäre in der Tat Sünde, den Trunk abzulehnen, wenn ich schon hier in der Apotheke bin. Tausend Dank und heute Abend werde ich Euch dann meinerseits bewirten.«
»Ja, richtig, die Bierprobe«, meldete sich nun Dorn zu Wort. »Sagt nur, sie wird doch nicht ausfallen?«
»Wann ist jemals bei den Schwarzhäuptern ein Fest ausgefallen? Wenn es so ausgerufen wurde und das Bier gebraut ist, findet bei den Schwarzhäuptern das Fest auch statt, und sollten die Stadt hunderte Feinde belagern.«
»Wenn Ihr das sagt, Herr Schwarzhäupter, wenn Ihr das sagt ... Ich wüsste nicht, dass die Schwarzhäupter früher in der Stadt so große Feste gefeiert hätten. Von euch hat man kaum etwas gehört, als ich jung war«, sagte Melchior und nickte. Es hieß, die Schwarzhäupter seien in Reval schon seit ein paar hundert Jahren ansässig, länger als die anderen Gilden, aber das behaupteten nur sie selbst und Melchior erinnerte sich wirklich nicht, dass viel von ihnen die Rede gewesen war, bevor Herr Freisinger in die Stadt kam. Kaum war aber Freisinger in die Stadt gekommen, wurden die Schwarzhäupter auf einen Schlag berühmt. Der junge Kaufmann hatte die Söhne der Kaufleute der Großen Gilde und andere Kaufmänner aus dem Ausland zu den Schwarzhäuptern geholt. Seitdem, schon seit drei Jahren, waren die fröhlichen und vergnügten Schwarzhäupter in der ganzen Stadt bekannt für ihre ausgelassenen Feste und Drunken, Kampfspiele und Turniere. Davor gab es in Reval nur drei alte alleinstehende Kaufmänner, die sich Schwarzhäupter nannten. Diese waren aber schon so alt und gebrechlich, dass mit ihnen auch die Gilde der Schwarzhäupter zu Grabe getragen worden wäre.
Freisinger nippte an seinem Becher und pries den Apothekertrunk, dass er dem Hals wirklich sehr gut tue. »Mit den Schwarzhäuptern ist es in jeder Stadt eben ein bisschen anders«, antwortete er dann auf Melchiors Frage. »Von unseren Bruderschaften gibt es auch nicht sehr viele. Ja, aber Ihr habt vorhin gefragt, ob das Fest ausfallen würde. Warum sollte es denn ausfallen? Ist etwas passiert?«
»Hat der Herr Schwarzhäupter etwa noch nichts über den Vorfall auf dem Domberg gehört?«, fragte Dorn.
»Ich war gerade auf dem Markt und dort ist mir wohl etwas über den Domberg zu Ohren gekommen, aber ich habe nicht genauer nachgefragt. Was ist denn, ist etwa Krieg ausgebrochen? Nur heraus mit der Sprache, Melchior, sicher sind doch auch diese Gerüchte schon in der Apotheke angekommen«, erkundigte sich Freisinger belustigt.
»Soviel ich weiß«, sagte Melchior, »wurde der ehemalige Ordensgebietiger von Gotland Henning von Clingenstain gestern Abend auf dem Domberg um einen Kopf kürzer gemacht.«
»Gotterbarmen, der berühmte von Clingenstain!«, brach es aus dem Schwarzhäupter hervor. »So ist es also wahr! Gütiger Himmel! Wer kann dieses furchtbare Verbrechen nur begangen haben?«
»Der Mörder ist in die Unterstadt geflohen, heißt es«, äußerte der Gerichtsvogt verärgert. »Aber wer es war, das weiß ich nicht.«
Sie stießen an und tranken, so wie es hier in der Stadt Brauch war, wenn man vom Domberg schlechte Nachrichten hörte.
»Hat der Ordensmeister denn schon ein Kopfgeld ausgesetzt?«, fragte Freisinger schließlich.
»Das weiß ich nicht, was der Ordensmeister getan hat oder nicht getan hat, aber das werde ich wohl gleich zu hören bekommen, denn ich bin von hier auf dem direkten Weg auf den Domberg, sobald meine Bauchschmerzen etwas nachgelassen haben«, meinte Dorn. »Nein, über ein Kopfgeld haben die Ordensmänner nichts gesagt. Ach, aber das haben sie erwähnt, dass man dem armen Clingenstain irgendeine Münze in den Mund gestopft hatte und den Kopf an die Wand ...«
»Eine Münze in den Mund gestopft!«, rief Melchior erschrocken.
»Das sagten sie. Dass die ihm aus dem Mund gekullert war, als man ihn fand. An so etwas Widerwärtiges möchte ich gar nicht erst denken.«
»Eine schlimme Sache«, meinte Freisinger nachdenklich. »Je schneller der Mörder gefasst wird, desto besser, sonst wird der Ordensmeister ungehalten, und wenn seine Wut die Stadt treffen sollte ... das würde den Kaufleuten nicht gefallen. Aber erinnert doch den Komtur auf dem Domberg daran, dass auch er heute und übermorgen bei den Schwarzhäuptern als Gast erwartet wird. Übrigens, was hält denn der ehrenwerte Rat von der Sache? Wird er ein Kopfgeld aussetzen?«
»Der ehrenwerte Rat hat sich noch nicht besprochen«, sagte Dorn. »Der ehrenwerte Rat schläft oder treibt seine Handelsgeschäfte und der Gerichtsherr muss mit schrecklichen Rückenschmerzen auf den Domberg steigen. Das ist eine leidige Sache. Von welcher Seite man es auch betrachtet – es bleibt doch eine leidige Sache.«
Melchior schmunzelte: Vorhin hatte der Gerichtsherr noch über Bauchschmerzen geklagt. Doch dann verabschiedete sich Freisinger von ihnen und betonte noch einmal, dass eine so wichtige Veranstaltung wie der Smeckeldach ganz sicher nicht ausfalle, wenn der Rat es nun nicht ausdrücklich verbot. Und dass nach altem Brauch der Ordenskomtur als Landesherr herzlich eingeladen sei. Dann zog er seinen Hut und ging und Melchior kam es vor, als hätte er noch kurz vorher aus dem Augenwinkel auf der Straße das Gesicht von Goldschmied Casendorpe gesehen. Dies führte ihn zu dem Gedanken, dass es doch sehr schade wäre, wenn die Stadt einen so fleißigen und großartigen Schwarzhäupter verlöre.
Aber so stand es in ihrem Schragen geschrieben, dass zu den Schwarzhäuptern keine Stadtbürger oder verheiratete Männer gehören durften. Wenn ein Schwarzhäupter heiratete – und alle Zeichen deuteten daraufhin, dass Herr Freisinger in genau diesen Hafen segelte – musste er das Amt des Schwarzhäupter-Oldermanns niederlegen. Aus ihm wurde dann ein Stadtbürger und verheirateter Mann, er wurde in die Große Gilde aufgenommen und die Schwarzhäupter mussten sich einen neuen Oldermann suchen. Das war eine etwas seltsame Regel, aber bei den Schwarzhäuptern war eben alles ein wenig seltsam. Es gab sie zwar schon seit ewigen Zeiten in Reval, aber niemand hatte sie recht gehört oder gesehen. Sie suchten sich stets unter den neuen Kaufleuten ihre Nachfolger und was für Dinge sie untereinander besprachen, wusste niemand. Jetzt aber, wo sie sich mit den Söhnen der Männer der Großen Gilde und den ausländischen Kaufmannsgesellen zusammengetan hatten, fand man in der Stadt kaum eine fröhlichere Gesellschaft. Wer weiß, vielleicht wäre auch aus mir ein Schwarzhäupter geworden, dachte Melchior.
»Gut«, sagte er dann zum Gerichtsherrn. »So wie ich die Dinge sehe, haben wir jetzt einen wichtigen Gang auf den Domberg vor uns. Ich wiege schnell ein paar Arzneien ab, damit Keterlyn alleine zurecht kommt, solange ich fort bin ...«
Der Gerichtsherr kratzte sich am Hals und gab zu, dass er im Namen des Rates tatsächlich genau diese Bitte habe.
»Weißt du, wenn du nichts dagegen hast, dann ...«, murmelte er unsicher, »würde dich der Rat als Gehilfen des Gerichtsherren bezahlen, so wie letztes Mal, weißt du noch, als wir diesen Würger suchten. Nun ja, und unter uns gesagt, waren meine Rückenschmerzen auch nur so getan als ob ...«
»Bauchschmerzen, meintest du«, berichtigte Melchior grinsend. »Aber ja, ich bin gerne einverstanden. Und mir fiel gerade ein, dass ich dem Komtur ab und zu einen Trunk der besonderen Art habe zukommen lassen. Den braue ich aus süßem Met und ein paar Heilpflanzen zusammen und er treibt nach mehrtägigem Feiern die Müdigkeit wie von Zauberhand aus den Knochen. Das ist meine Apotheke und meine Stadt, und ich will wissen, was hier in der Stadt vor sich geht. Komm mit, gehen wir nach hinten, ich gebe meiner Frau ein paar Anweisungen, außerdem muss ich meinen Hut suchen und ihn erst etwas abstauben.«
»Gehen wir, mein Freund,« rief Wentzel Dorn und sprang auf, »geben wir dem Hut ein paar Anweisungen und stauben deine Frau ab und dann nichts wie auf den Domberg!«