Читать книгу Apotheker Melchior und das Rätsel der Olaikirche - Indrek Hargla - Страница 19

Kapitel 8
Domberg, Kleine Ordensburg 16. Mai, Mittag

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Melchior wartete beim Rathaus, während Dorn den Hilfsschreiber, den Juristen und die Gerichtsdiener zusammentrommelte, sie ordentlich maßregelte und hieß, auf den Domberg mitzukommen. Von der Unterstadt führten zwei Wege auf den Domberg. Den größeren und besseren Weg, den auch Lastpferde hinaufkamen und den das Vieh entlang getrieben wurde, nannte man den Langen Domberg. Dieser begann am Ende der Raderstraße beim neuen Torturm, der in Melchiors Jugendjahren erbaut worden war. Der zweite Weg, der Kurze Domberg, wurde von einer Torschranke mit einem schmalen Durchgang begrenzt. Beide Tore wurden abends abgeschlossen und die Schlüssel von den Stadtwächtern im Rathaus verwahrt. Im Frühjahr bestand allerdings keine große Hoffnung den Fußweg am Kurzen Domberg passieren zu können. Er war zu steil, schlüpfrig und matschig. Schon viele hatten sich hier die Knochen gebrochen und ein Ordensdiener kürzlich sogar das Genick.

Im Mai war aber auch der Lange Domberg schwer passierbar, der Weg war voller Schlamm und Viehmist, hatte große Löcher und war stellenweise so eng, dass Pferdewagen kaum ein Durchkommen hatten. Zudem hagelte es vom Steilhang, an dessen oberer Kante die Außenmauer der Großen Festung verlief, ständig Steine und Schutt auf den Weg.

Den Weg auf den Domberg mit seinen zwei Toren kannte Melchior gut, weil er als Kind einen Winter lang bei der Domkirche zur Schule gegangen war. Nachdem sie den steinernen Turm passiert hatten, stieg der Weg steil an. Rechterhand erhob sich eine Felswand, wie ein von der Natur errichteter Schutzwall. Linkerhand aber gähnte ein jäher Abgrund. Wer hier ausrutschte, fand sich auf schnellstem Wege in der Stadt wieder. Der Rat hatte zwar ein Geländer anbringen lassen, aber das war die letzten Winter über morsch geworden und bot keinen besonderen Schutz. Ein paar hundert Schritte weiter erhob sich der viereckige Torturm am Kurzen Domberg, der die Stadtgrenze markierte. Hier musste jeder, der aus der Stadt kam, die freie Stadtluft und das lübische Recht hinter sich lassen, hier begann das Gebiet des Dombergs, wo das Landrecht und die Gesetze des Ordens galten und wo der Komtur das Sagen hatte. Am Turm war ein schweres, zweiflügeliges Tor aus Eichenholz angebracht, das der Ratswächter bei Sonnenuntergang abschloss. Nachts hatte niemand aus der Stadt Zugang zum Ordensgebiet noch andersherum.

Sie stiegen, besser gesagt, stolperten den Berg hinauf, bis sie endlich das Tor am Kurzen Domberg erreichten. Als ob diese Strecke zwischen den beiden Toren zum Nachdenken da sei, so ging es Melchior durch den Kopf, als er kurz über die Schulter zurückschaute, ob die Stadtbürger die Ordensburg wirklich betreten und sich den Gesetzen des Ordens ausliefern, ob sie das schützende Stadtrecht tatsächlich hinter sich lassen und sich in die Festung ihres Landesherren begeben wollten.

Sie hatten es auf den Domberg geschafft, ins Zentrum der Macht, und standen in der Vorburg, einem mit einer niedrigen Mauer begrenzten Hof. Von hier aus ging es entweder in Richtung Norden durch die Dompforte in die Bischofsfestung oder geradeaus in das prächtige Kastell des Komturs, von einem Wallgraben umgeben, dessen Haupttor ein paar hundert Schritte entfernt lag.

Jeden Ankömmling aus der Stadt beeindruckte hier als erstes die Übermacht der Mauern und Türme. Wenn auch die Mauern der Unterstadt ständig höher gebaut und verstärkt und neue Türme errichtet wurden, vermittelte deren Anblick doch nicht dasselbe Gefühl, wie wenn man zwischen den Türmen auf dem Domberg stand. Melchior war schon oft hier gewesen, doch jedes Mal, wenn er die kalten Mauern sah, überkamen ihn Befremden und Furcht. Der Orden war und blieb, und je mehr Zeit ins Land ging, um so unterschiedlicher entwickelte sich das Leben in den Ordensfestungen und den Städten. Um so unterschiedlicher waren die Gedanken, die man sich in den Ordenskonventen und innerhalb der Stadtmauern machte. Zugegeben, der jetzige Revaler Komtur Ruprecht von Spanheim war offener und einfacher als so mancher seiner Vorgänger und ein paar Mal hatte er den Stadtapotheker sogar als seinen Freund bezeichnet.

Auf dem Domberg war der Boden sehr schlammig, auch hier in der zugigen Vorburg. Die Straßen waren nicht mit Steinen gepflastert, so wie in der Unterstadt. Sie wateten durch den Schlamm weiter zum Haupttor des Kastells. Zu ihrer Rechten lagen der Wallgraben und der Glockenturm, die Dompforte. Die von hier abzweigende Bischofsstraße führte zur Domkirche, deren achtflächiger Turm sich weit über die Mauern erhob.

Nun standen sie unmittelbar vor der Kleinen Burg, dem Sitz des Komturs, und dem Langen Hermann, dem Turm, der den Städtern eindrucksvoll die Macht des Ordens demonstrierte. Die Festung war bereits vom dänischen König errichtet worden und der Orden hatte sie eifrig weiterbefestigt – er hatte die Mauern höher und an den Ecken vier mächtige Türme bauen lassen, die wie die Olaikirche von der See aus schon von Weitem zu sehen waren.

Eine Apotheke gab es auf dem Domberg nicht. Der Komtur hatte zwar einen Leibarzt, der seinem Herren auch ab und zu Arzneien mischte, doch in den letzten Jahren hatte dessen Sehkraft nachgelassen und, wie Melchior befürchtete, nicht nur die Sehkraft, sondern auch der Verstand. Wenn Melchior für den Komtur Arzneien herstellte, benutzte er deshalb nicht die Rezepte dessen Leibarztes, sondern vertraute auf seine eigene Logik oder die Rezepte des Stadtarztes. Dem Revaler Rat hatte er natürlich nicht auf die Nase gebunden, dass er als Stadtapotheker manchmal auch dem Landesherren auf dem Domberg Arzneien mischte, denn so mancher Ratsherr würde hierzu eine gehässige Bemerkung machen. Mit der Behandlung der Herren auf dem Domberg hatte die Stadt nichts zu schaffen. Ruprecht von Spanheim war jedoch verglichen mit den vorherigen Komturen aus etwas anderem Holz geschnitzt. Wie es hieß, stammte er aus einer sehr armen Adelsfamilie aus Sachsen, der der Adelsstand schon lange kein Auskommen mehr bot. Ruprecht von Spanheim war der vierte Sohn der armen Rittersfamilie, deren Geld nicht einmal langte, den Jungen ins Kloster zu geben. So war Ruprecht schon in seiner Jugend dem Orden beigetreten, um als genügsamer Soldatenmönch aus eigener Kraft im Leben zurechtzukommen. Inzwischen hatte er es zum Komtur der wichtigsten Stadt Livlands gebracht und dies vor allem durch die Tapferkeit, die er auf dem Schlachtfeld bewiesen hatte. In den Kriegen gegen die Polen, Litauer, Russen und Schweden hatte Ruprecht von Spanheim mutig gekämpft, was ihm innerhalb des Ordens zu vielen Anhängern verholfen hatte. Doch selbst als Komtur war von Spanheim ein einfacher Mann geblieben, der für die Angelegenheiten der Unterstadt Verständnis aufbrachte. Seinen Beitrag hierzu leistete sicherlich das Bier, das die Stadt dem Domberg lieferte und das der Komtur keineswegs ablehnte. Ganz im Gegenteil, soweit Melchior wusste – denn recht oft schickte der Komtur seinen Diener in Melchiors Apotheke und ließ sich einen gewissen Trunk bringen, den Melchior aus Kräutern, Apfelsaft und Met herstellte und zuletzt ein rohes Ei hineinschlug. Und just wegen dieses Trunks hatte der Komtur ihn ein paar Mal seinen Freund genannt.

Als Melchior und Dorn das Haupttor der Kleinen Burg erreicht hatten, wo um diese Tageszeit natürlich kein einziger Wächter stand, betraten sie ehrfürchtig den Innenhof – sie befanden sich im Zentrum der Ordensmacht. Und in diesem Zentrum stank es gewaltig nach Mist. Hier standen die Ställe und Scheunen des Ordens, auf dem Hof gackerten Hühner und im Stall grunzten ein paar Ferkel.

Dorn sah sich suchend um, ob nicht ein Knecht in der Nähe sei, um dem Komtur ihren Besuch anzukündigen. Doch das war gar nicht nötig – beim Brunnen in der Ecke des Burghofes stand der Komtur persönlich und ...

Der Komtur brüllte aus Leibeskräften.

Er brüllte so laut, dass die Gerichtsdiener die Köpfe einzogen und der Ratsvogt erschrocken zusammenzuckte.

Allerdings hatte das Gebrüll nicht das Geringste mit dem Erscheinen der Ratsgesandtschaft zu tun. Der hochehrenwerte Komtur hatte sich gerade einen Eimer kalten Wassers über den Leib schütten lassen. Als er die Ratsgesandten bemerkte, gab er einen grummelnden Laut von sich, stieß den zweiten vollen Wassereimer mit dem Fuß um und winkte zur Eingangstüre hinüber. Daraufhin wurde die Gesandtschaft über den Hof zum Südflügel der Burg geleitet, wo sich die Wohnräume des Komturs befanden. Dort mussten sie ein wenig warten, während Spanheim sich abtrocknete und umkleidete. Die Gerichtsdiener schwiegen betreten, der Syndikus kaute sorgenvoll auf seiner Unterlippe herum und Dorn bestaunte die Aussicht, die sich durch die Schießscharten auf die Domkoppel und den Tönniesberg eröffnete.

Schließlich tauchte der Komtur auf und bat sie in seinen Empfangssaal. Als er unter den Wartenden Melchior erblickte, hellte sich seine Miene sofort auf.

»Melchior, alter Schlawiner, du hier? Wer hat denn dich auf den Domberg gelassen?«

Melchior verbeugte sich ehrerbietig und überreichte dem Komtur wortlos ein Tonfläschchen.

»Bei der heiligen Jungfrau, dein Wundermittel!«, lachte Spanheim. Er griff nach der Flasche, setzte sie an und nahm einen kräftigen Schluck. Dann befahl er den Gerichtsdienern und dem Syndikus, sich aus dem Staube zu machen – der Domberg sei schließlich kein Jahrmarkt. Etwas später, als sie im Empfangssaal mit seinem niedrigen Gewölbe angekommen waren, seufzte der Komtur zufrieden und anerkennend:

»Nein, man kann es nicht anders sagen, Herr Melchior, das ist ein Wundermittel ...«

»Ich kann versichern, dass es sich nur um einen ganz gewöhnlichen Apothekertrunk handelt, mehr nicht«, erwiderte Melchior bescheiden.

»Tod und Teufel, dem Komtur widerspricht man nicht, Melchior«, donnerte Spanheim. Seine üble Laune schien verflogen, wie immer, wenn er nach mehrtägiger Zecherei Melchiors Trunk zu sich genommen hatte. Sie standen nun im Empfangssaal, dessen ganze Einrichtung aus einem Kohlenbecken, einem Schreibpult und einem verblichenen Ordenswappen bestand.

»Widersprich mir nicht«, wiederholte der Komtur. »Auf dem Schlachtfeld, danke der Nachfrage, komme ich allein zurecht, ja, in meiner Jugend habe ich ganze Heere in Stücke gehauen. Und bei Festgelagen trinke ich sämtliche Witzbolde aus Fellin unter den Tisch und da bleiben sie liegen und wenn ihnen die Hunde die Brotkrümel aus den Bärten lecken. Sogar die Revaler Waschweiber vertragen mehr Bier als der Felliner Komtur. Über den lachen selbst die Katzen und hören nicht auf, ehe ihnen jemand auf den Schwanz tritt.«

Dorn lachte nur etwas gekünstelt und Melchior versicherte, dass der ehrenwerte Rat und die Apotheke hier vollkommen derselben Meinung seien. Es bestehe nicht der geringste Zweifel, dass niemand in Fellin gegen den Komtur ankam, wenn es ums Biertrinken ging.

»Genau so ist es«, rühmte sich der Komtur. »Unter den Tisch hab ich sie alle getrunken und laufe dann noch kerzengerade und lege vor dem Morgen zehn Dirnen aufs Kreuz, wenn ich nur will, und das kommt öfters vor, das könnt ihr mir glauben ...«

»Das habe ich immer gesagt, dass in der Hurerei und dem Biertrinken mit unserem Komtur keiner mithalten kann, der ganze Rat weiß, dass ...«, setzte Dorn an, doch Melchior trat dem Gerichtsvogt rasch gegen das Schienbein und hustete. Dorn verstummte erschrocken.

Dies fiel Spanheim aber nicht weiter auf. »So ist es«, sagte er, atmete tief durch und schritt zum Schreibpult.

»Tretet näher, Herr Gerichtsvogt«, befahl er dann. »Ich möchte Euch etwas zeigen.«

Was der Komtur vorzuzeigen hatte, ließ Dorn und Melchior erschaudern. Der Komtur griff in die Truhe des Schreibpults und holte aus ihr einen Menschenkopf hervor.

»Hier ist von Clingenstains Kopf. Sein Leichnam liegt in der Kapelle, bis er in der Domkirche zur ewigen Ruhe gebettet wird«, teilte er dann mit.

»Heilige Maria!« Dorn zuckte zurück. Der Kopf hatte einem etwa vierzig Jahre alten Mann gehört. Das Blut war abgewaschen. Ein Kopf wird viel kleiner, wenn das Blut herausgeflossen ist, fiel Melchior auf, das Gesicht fällt ein, die Haut färbt sich leicht gelb ...

»Zur Sache«, sagte der Komtur nun ernst. »Gestern Abend hat jemand dem Ritter von Clingenstain den Kopf abgeschlagen und ist dann in die Stadt geflohen. Herr Gerichtsvogt, noch bevor ich den Ordensdiener zu Euch ins Rathaus schickte, habe ich einen Eilboten mit der furchtbaren Nachricht zum Ordensmeister gesandt. Eine solche Gräueltat ist eine Schande für die ganze Stadt! Unerhört, dass in Reval ein hoher Machtinhaber derart niederträchtig ermordet worden ist!«

Auf dem Domberg, dachte Melchior, auf dem Domberg ist er ermordet worden.

»Jetzt ist es für die Stadt Ehrensache, dass der Mörder in Ketten gelegt und dem Orden ausgeliefert wird, damit das Rittergericht ihn zum Tode verurteilen kann. Er wird in den Langen Hermann gesteckt und nach allen Regeln gefoltert«, fuhr Spanheim fort. »Gewöhnlich erhält die Stadt eine schriftliche Anordnung von uns, aber hiermit habe ich Euch diese Weisung nun erteilt.«

Dorn verbeugte sich und wollte etwas sagen, doch der Komtur sprach bereits weiter.

»Und wenn ich den nächsten Eilboten zum Ordensmeister schicke, möchte ich ihm mitteilen, dass der Mörder im Langen Hermann in der Zelle sitzt und dass der Revaler Rat dem Orden gegenüber die nötige Ehrerbietung gezeigt hat. Herr Gerichtsvogt, Ihr versteht, dass ich dem Ordensmeister mit dem nächsten Eilboten nicht übermitteln will, dass der Mörder noch immer auf freiem Fuße ist und der Revaler Rat ihn noch nicht gefasst hat. Ich will nicht, dass es so kommt wie beim letzten Mal, als sich der Streit zwischen Rat und Domberg über die Herausgabe eines Diebes über zwei Monate hinzog und der Dieb währenddessen mit einem Schiff das Weite suchte! Euer lübisches Recht in der Unterstadt ist aus des Ordensmeisters Gnaden gut und recht, aber es gibt mir nicht die Vollmacht, den Mörder selbst in Ketten legen zu lassen und auf den Domberg zu holen.«

Dorn fasste sich und fragte: »Aber würde der hochehrwürdige Komtur uns dann sagen, wer der Mörder ist, damit ich dem ehrenwerten Rat den Namen mitteilen und der Rat die Erlaubnis erteilen kann, ihn ...«

»Nach allen Regeln zu foltern und so weiter. Natürlich würde ich Euch den Namen sagen, zum Teufel, aber ich weiß nicht, wer es war! Ich habe schon alle Knechte, Handwerker und Bediensteten befragt, aber niemand hat etwas gehört oder gesehen. Und Jochen, der Diener des seligen Bruder Henning, hat sich zur Zeit des Mordes mit einem Waschweib vergnügt und auch nichts gehört oder gesehen.«

»Aber wen soll ich denn dann festnehmen?«, fragte Dorn verwirrt.

»Zum Donnerwetter!«, fauchte der Komtur. »Der Gerichtsherr seid doch Ihr! Hat bei Euch in der Unterstadt jeder Ermordete ein Schild um den Hals hängen, auf dem steht, wer ihn ins Jenseits befördert hat? Pinselt etwa jeder Dieb seinen Namen an die Kirchenwand, so dass Ihr ihn festnehmen könnt?«

»Aber dem Gesetz nach muss doch der Orden den Namen des Verbrechers von der Stadt einfordern und dann ... und dann muss das Ratsgericht ... Aber wen soll das Ratsgericht denn dann in Ketten legen lassen?«

»Mein lieber Gerichtsherr Dorn, Ihr seid derjenige, der herausfinden muss, wer Clingenstains Mörder war! Ihr sagt mir den Namen, und ich verlange den Mörder dann vom Rat heraus. Das ist doch ganz einfach.«

»Hochehrenwerter Komtur«, mischte sich nun Melchior ein. »Der Gerichtsvogt will damit nur sagen, dass es ihm eine große Hilfe wäre, wenn der Domberg die Untersuchungen mit seinem Wissen und seinen Ratschlägen unterstützt. Zum Beispiel wäre es sehr hilfreich zu erfahren, um welche Stunde der schreckliche Mord begangen worden ist und wer den Leichnam gefunden hat, ob in seiner Nähe vielleicht Gegenstände lagen, die uns etwas über den Mörder sagen können und woher wir überhaupt wissen, dass der Mörder in die Unterstadt geflohen ist.«

Spanheim musterte den Apotheker für einen Moment. »Hör mal, Melchior, warum steckst du überhaupt deine Nase in diese Sache? In der Stadt warten Notleidende und Kranke auf dich, um die du dich zu kümmern hast. Der Ratsherr kommt schon alleine zurecht. Wenn nötig, nimmt er den Scharfrichter zu Hilfe, der den Verdächtigen ein bisschen die Knochen verdreht, und dann wird sich schon jemand geständig zeigen,« sprach der Komtur. »Ich habe dich nur hier hereingelassen, weil du mir dein Wundermittel gebracht hast.«

Dorn räusperte sich: »Der Scharfrichter wäre mir in der Tat eine große Hilfe, aber dem Rat wäre Melchior eine ebenso große Hilfe. Denn wohin gehen die Leute, um zu schwatzen? In die Apotheke! Jeder Mensch, sei er Kaufmann oder Ratsherr, Maurer oder Schuster, Bierträger oder Mündrich, muss irgendwann einmal in die Apotheke, nicht wahr. Und dort schenkt ihnen der gute Melchior ein Gläschen ein und die Leute erzählen, was sie alles gehört und gesehen haben.«

»Und sie erzählen um einiges lieber und um einiges mehr als unter Androhung des Scharfrichters«, fügte Melchior hinzu. »Der ist im Übrigen ein guter Freund von mir. Er kommt ab und zu auch in die Apotheke und holt sich ein Mittel gegen seine Gliederschmerzen.«

»Außerdem ist das nicht das erste Mal, dass Melchior dem Rat weiterhelfen kann«, sprach der Gerichtsvogt weiter. »Letztes Jahr nämlich ...«

»Sei‘s drum«, unterbrach Spanheim den Gerichtsvogt. »Letztendlich ist es nicht meine Sache zu entscheiden, wie der Rat den Mörder findet, und wenn Melchior und die Apotheke wirklich dazu beitragen können ...«

Er trank einen Schluck und berichtete dann, dass Henning von Clingenstain schon seit fünf Tagen auf dem Domberg im Haus eines wierländischen Vasallen gewohnt habe, der selbst auf seinem Gutshof verweilte, so wie die meisten Vasallen im Frühjahr. Der Ordensgebietiger Clingenstain war unterwegs von Gotland nach Marienburg, doch vor seiner Weiterreise hatte er in Reval noch einige Dinge zu erledigen. Insgesamt waren acht Männer von Gotland angereist, bei Clingenstains Weggefährten handelte es sich um Ordensbrüder niedereren Ranges, die der Komtur im Dormitorium der Festung untergebracht hatte. Die meiste Zeit verbrachte Clingenstain im Speisesaal im Ostflügel der Festung, denn, wie der Komtur meinte, »musste man ja irgendwohin mit den vier Fass Bier, dem Fass Hering und dem Berg gepökelten Schweinefleischs, das der Rat zur Bewirtung des hohen Gastes geschickt hatte.« Im Haus des Vasallen wohnte außer Clingenstain noch sein Knappe Jochen, der inzwischen in Ketten gelegt und durchgeprügelt worden war. In seine Bleibe ging Clingenstain nur zum Schlafen. Gestern Abend gegen acht Uhr hatte sich Clingenstain auf den Heimweg gemacht. Er ging alleine, ein paar Ordensknechte hatten ihn gesehen, wie er bei den Stallungen herumstolperte, nach dem richtigen Weg suchte und seinen Knappen rief. Clingenstain hatte den Weg durch das Seitenportal des Nordflügels gewählt, von wo er ohne den langen Umweg durch die Vorburg und die Dompforte direkt in die Bischofsburg gelangte. Eine Stunde später fand Jochen den geköpften Leichnam seines Herren und kam laut schreiend in die Burg gerannt. Der Komtur ließ sofort die Sturmglocke läuten, doch wonach oder nach wem sollte man suchen? Die halbe Nacht lang hatte der Komtur alle Ritter, Knechte und Knappen verhört. Niemand hatte etwas Besonderes gehört oder gesehen.

»Um acht Uhr«, murmelte Melchior vor sich hin, als der Komtur fertig erzählt hatte. »Damit wissen wir also, dass der Mörder in die Unterstadt geflohen ist.«

»Was willst du denn da schon wissen?«, fragte Spanheim. »Du kannst noch gar nichts wissen. Das Schwert und die Blutspuren fanden wir erst in der Morgendämmerung.«

»Ein Schwert?«, fragte Melchior neugierig.

»Ja, die Mordwaffe. Das Schwert gehörte einem Ordensknecht, der Mörder hatte es aus der Burgschmiede gestohlen. Der Schmied war natürlich vollkommen betrunken und ich habe ihn bereits in Ketten legen lassen. Das Schwert haben wir bei Sonnenaufgang beim Torturm am Kurzen Domberg entdeckt, am Grabenrand. Außerdem fanden wir Blutspuren an der Turmwand und auf den Pflastersteinen vom Haus des Vasallen bis hin zum Torturm. Der Mörder hatte das Schwert in den Graben geworfen, aber die Morgensonne spiegelte sich darauf und so haben wir es gleich gefunden. Nun interessiert mich, wie du schon wissen willst, was wir erst später herausgefunden haben?«

»Die Tore werden bei Sonnenuntergang geschlossen und danach gelangt niemand mehr vom Domberg in die Unterstadt«, antwortete Melchior ehrerbietig.

»Und weiter?«, fragte der Komtur.

»Der Mörder musste sich beeilen, um seine Tat noch vor Toresschluss zu vollbringen. Würde der Täter auf dem Domberg wohnen, hätte er vernünftigerweise bis zur Nacht gewartet, wenn niemand mehr auf den Straßen unterwegs ist und auch von Clingenstain und Jochen eingeschlafen sind. Doch nein, er verrichtete seine Bluttat am Abend, so dass er noch durch die Stadttore entwischen konnte«, antwortete Melchior.

»Genau das habe ich mir auch gedacht«, sprach der Komtur. »Er muss das Tor passiert haben, kurz bevor die Wächter kamen und das Tor abschlossen.«

Melchior fuhr eifrig fort: »Wahrscheinlich hatte er das Schwert unter seinem Mantel versteckt und es sicherheitshalber bis zum Tor mitgenommen, damit er sich hätte verteidigen können, wenn der Mord sofort entdeckt worden wäre. Daraus können wir folgern, dass er Soldat gewesen ist oder ihm das Kämpfen zumindest nicht fremd war. Dann ging er durch die Dompforte und bei der Pforte am Kurzen Domberg warf er das Schwert fort, weil er sich bereits auf Stadtgebiet befand. Er fühlte sich in Sicherheit, weil er wusste, dass ihm die Ordensleute hier nichts mehr anhaben konnten. Es deutet also alles darauf hin, dass er wirklich in die Stadt geflohen ist.«

Der Komtur starrte Melchior überrascht an. Dorn machte den Mund auf, sagte dann aber doch nichts.

»Ganz bestimmt ist der Mörder auch aus der Stadt gekommen«, sagte Spanheim dann. »Daran besteht kein Zweifel. Aus der Burg ist ihm niemand durch das Seitenportal gefolgt, das kann der dortige Wächter bestätigen. Das Haus des Vasallen steht direkt am Wallgraben, in der Nähe der Dompforte. Die Tat muss ein Fremder vollbracht haben, ein niederträchtiger und ruchloser Fremder, der sich aus der Stadt hergeschlichen und den richtigen Moment abgepasst hat. Verteufelt, ich kenne jeden hier auf dem Domberg und ich kann schwören, dass kein einziger der Vasallen Clingenstain gegenüber – Friede seiner Asche – Hass gehegt hat. Niemand hatte ihn je zuvor gesehen! Ganz abgesehen davon, dass sich die Vasallen zur Zeit gar nicht hier aufhalten und in der großen Festung nur die Leute des Bischofs und Bäcker und Knechte wohnen. Und ich habe in der Nacht nachzählen lassen – es fehlt niemand.«

Dorn, der lange geschwiegen hatte, wagte nun zu äußern: »Aber auch in der Unterstadt hat den edlen Rittersherren doch niemand gehasst? Eher im Gegenteil, wir hier in Reval sind ihm und dem Orden dankbar, dass sie uns von der Plage der Vitalienbrüder befreit haben.«

Der Komtur runzelte die Stirn: »Aber jemand aus dieser unserer dankbaren Stadt hat ihm dennoch den Kopf abgeschlagen, Herr Gerichtsvogt.«

»Und das ist doch seltsam«, meinte hierauf Melchior. »Wie ist es möglich, sich auf den Domberg zu schleichen, hier ein Schwert zu stehlen und sich zu verbergen, bis sich am Abend ein passender Augenblick für den Mord ergibt? Wie der ehrenwerte Komtur selbst gerade erwähnte, hat niemand etwas Verdächtiges gehört oder gesehen. Deshalb gehen auch meine Gedanken in die Richtung, dass der Täter jemand sein muss, der den Domberg gut kennt, der weiß, sich hier zu verstecken und ein Schwert zu stehlen und dessen Anblick hier absolut alltäglich ist. Ein ausländischer Kapitän oder Schiffsjunge, deren Schiff im Hafen liegt, verirrt sich nicht einfach so auf den Domberg.«

»Jegliche Herumtreiber werfen wir hier sofort raus«, stellte Spanheim klar.

Das ist wahr, dachte Melchior. Die Leute aus der Unterstadt konnten nicht einfach so auf dem Domberg herumschlendern, Bettler und Landstreicher gleich gar nicht. Jedes fremde Gesicht erregte Aufmerksamkeit.

»Das heißt, ein Herumtreiber war hier gestern doch«, fiel dem Komtur dann ein. »Dieser Sänger ... ich muss gestehen, er sang recht gut, es war eine reine Lust ihm zuzuhören ... dieser Bursche aus Nürnberg.«

Melchior war überrascht. Kilian auf dem Domberg?

»Meint der Herr Komtur den Kostgänger des Herren Tweffell, Kilian Rechperger?«, fragte er.

»Ja, den meine ich. Er hat Tweffell hierher begleitet. Und er wollte eine Urkunde.«

»Folglich ist auch Herr Tweffell auf dem Domberg gewesen? Der Oldermann der Großen Gilde?«

»Ja, der Oldermann war gestern hier«, nickte der Komtur. »Er hatte mit Clingenstain ein Handelsgeschäft zu besprechen. Soweit ich mich erinnere, ging es um ein Schiff, und Tweffell verließ den Domberg in ausgesprochen mieser Laune. Aber das war schon um die Mittagszeit, nachdem Clingenstain mit dem Goldschmied gesprochen hatte ...«

Bei dem Goldschmied handelte es sich um keinen anderen als Burckhart Casendorpe, den Oldermann der Kanutigilde, wie Melchior nun hörte. Gestern waren überhaupt recht viele Leute bei Clingenstain gewesen. Der Ordensgebietiger hatte von Casendorpe ein Geschenk für den Ordensmeister in Marienburg kaufen wollen. Die Goldschmiede auf Gotland seien miserabel und geizig, die Arbeiten der Revaler Meister dagegen rund um die Ostsee für ihre Güte bekannt. Schon vor seiner Ankunft hatte er mit Casendorpe wegen des Geschenks im Briefwechsel gestanden und hatte dem Goldschmied letztendlich auch eine vergoldete Kette abgekauft. Die aber habe ein Heidengeld gekostet. Clingenstain hatte Jochen noch zum Schiff schicken und mehr Geld holen lassen müssen, weil sein Geldsack nichts mehr hergab.

»Aus der Unterstadt waren gestern also drei Personen bei Clingenstain«, meinte Melchior nachdenklich. Fünf Tage lang kein Einziger und dann gleich mehrere nacheinander. Genau an dem Tag, an dem er umgebracht wird.

»Wenn Tweffell hier war, dann hat auch bestimmt sein Diener Ludke nicht gefehlt, denn ohne ihn geht der alte Kaufmann nirgends hin, selbst in die Kirche und ins Rathaus nicht. Manchmal trägt Ludke seinen Herren sogar die Treppe hoch«, warf Dorn ein.

»Das stimmt, seinen Diener hatte er dabei. Ein unglaublich starker und zäher Kerl, dieser Ludke, noch größer als unser Ordensmeister, der schon fast alle überragt. Wenn man dem ein Beil in die Hand gibt und ihn in die Schlacht schickt, kämpft er für drei, zweifellos. Warum einer wie er wohl Diener geworden ist? Wisst Ihr das?«

Melchior musste zugeben, dass er es nicht wusste. Der Oldermann Tweffell und Ludke schienen unzertrennlich zu sein. Mit Ludke, einem Mann undeutscher Herkunft, hatte er selten die Gelegenheit gehabt, sich zu unterhalten. Der Diener war nicht sehr gesprächig und machte einen etwas einfältigen Eindruck, war aber stark wie Goliath. Melchior überlegte, ob er jemals von Tweffell gehört hatte, dass dieser den gotländischen Ordensgebietiger kannte. Ja, von einem Streit um Gotland und ein Schiff war ihm tatsächlich etwas zu Ohren gekommen, aber an Genaueres konnte er sich nicht erinnern. In dem Moment erweckte der Komtur wieder Melchiors Aufmerksamkeit: Er hatte gerade Prior Eckell erwähnt.

»Baltazar Eckell, der Dominikanerprior?«, fragte Melchior überrascht.

»Ja, verdammt, das habe ich doch gerade gesagt«, schnappte der Komtur. »Er kam, um Clingenstain Respekt zu zollen, und Clingenstain – als frommer und gottesfürchtiger Ritter, der er war – bat, sich die Beichte abnehmen zu lassen. Hier in der Domkirche wurden ihm also kurz vor seinem Tode seine Sünden vergeben. Aber das, Melchior, hat mit dem Mord nicht das Geringste zu tun.«

»Beim heiligen Andreas, das hoffe ich«, murmelte Melchior.

»Was murmelst du da?«

»Ach, nichts ... nichts. Mir kommt es nur seltsam vor, dass er den Dominikanerprior um die Beichte bat, und nicht den Pastor der Domkirche.«

»Daran ist ganz und gar nichts seltsam. Der Orden ist schon seit langem Gönner der heiligen Dominikaner und Clingenstain hat sich oft in der Sankt-Nikolaus-Kirche zu Visby die Predigten der Brüder angehört. Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, war auch Prior Eckell früher einmal im Konvent von Visby tätig und vergiss nicht, Melchior, es waren die Dominikaner, die die Domkirche bauten.«

Das erzählte man sich tatsächlich, fiel Melchior nun wieder ein. Als die Dominikaner vor langer Zeit nach Reval gekommen waren, ließen sie sich auf dem Domberg nieder und genau an der Stelle der jetzigen Domkirche errichteten sie ihre erste Kirche. Und genau dort fand ein grauenhaftes Blutvergießen zwischen den Ordensleuten und den Dänen statt. Die Ritter hatten die Dänen in der Kirche erschlagen und ihre Leichen auf dem Altar aufgehäuft. Und hatte nicht der Orden die Dominikaner seitdem vom Domberg verbannt? Aber das war fast zweihundert Jahre her – bei der Suche nach Clingenstains Mörder bot dieses Wissen keine Hilfe.

»Fünf Revaler Bürger«, sagte nun Melchior. »Wir haben es also mit fünf Männern zu tun, die sich gestern mit Clingenstain getroffen haben. Es waren nicht etwa noch weitere Leute aus der Stadt auf dem Domberg?«

»Natürlich kann es sein, dass ein paar Müllersgesellen oder Schusterlehrlinge aus der Stadt hier waren«, erwiderte der Komtur verdrossen. »Aber ich erinnere mich nicht, dass von denen jemand mit Clingenstain zu tun gehabt hätte. Ach ja, noch bevor der Prior kam, bettelte dieser Laienbruder von den Dominikanern hier um Almosen, aber das ist nichts besonderes. Er kommt oft hierher.«

»Ach, Bruder Wunbaldus?«

»So heißt er wohl, ja. Der Laienbruder mit dem Buckel.«

»Das ist Bruder Wunbaldus«, nickte Melchior. »Ein armer und frommer Mann, der manchmal auch in meine Apotheke kommt und jedesmal verspricht, mich für die Arzneien in seine Gebete einzuschließen. Wie man hört, soll er ein ausgezeichneter Bierbrauer sein. Das Bier der Dominikaner schmeckt seit Wunbaldus‘ Aufnahme ins Kloster tatsächlich ganz anders als vorher. Dem Herren Komtur ist nicht etwa aufgefallen, ob Bruder Wunbaldus auch mit Clingenstain zusammentraf?«

»Wunbaldus bittet doch jeden um eine milde Gabe, dem er begegnet. Wahrscheinlich hat auch Clingenstain ihm etwas gespendet. Ja, ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass er etwas gespendet hat.«

Als der Komtur sie schließlich zum Gehen auffordern wollte, fiel ihm doch noch etwas ein: Er erkundigte sich bei Dorn, wie viel der Revaler Scharfrichter fürs Hängen verlange.

»Früher waren es vier Schilling und ein Fass Bier. Aber es ist schon eine ganze Weile her, seit wir zuletzt jemanden hängen mussten«, antwortete der Gerichtsherr.

»Vier Schilling! Das ist ja Wucher!«

Der Komtur hatte dem für den Domberg zuständigen Scharfrichter erlaubt, für eine Woche nach Wesenberg zu fahren. Dort lag der Vater des Scharfrichters schwer krank darnieder und der junge Mann hatte ihn noch ein letztes Mal sehen wollen. Eine trauriger Umstand, aber deshalb verfügte der Domberg derzeit über keinen eigenen Henker. Der Komtur erwog nun, den städtischen Henker zu beauftragen, den Mörder zu foltern und dann zu hängen oder zu vierteilen – je nachdem, wie das Manngericht entschied.

»Vierteilen ist teurer«, fiel Dorn dazu nur ein. »Fürs Vierteilen verlangt der Scharfrichter gleich sechs Schilling. Und zwei Fass Bier.«

»Euer Scharfrichter ist ein wahrer Halsabschneider«, schimpfte der Komtur. »Wenn ich in der Schlacht für jeden Kopf sechs Schilling bekäme, würde ich mir gleich den ganzen Domberg zu eigen machen!«

»Jemanden zu köpfen erfordert aber auch viel Geschick. Irgendein Dahergelaufener könnte das nicht«, meinte Melchior.

»Ein Dahergelaufener ...«, brummte Spanheim. »Ich sage Euch eins, Herr Gerichtsvogt: Dem Ordensmeister würde es am besten passen, wenn Clingenstains Mörder keiner wäre, der ... hmmm ... sagen wir, der Stadt eng verbunden ist, ein ehrenwerter und wohlhabender Mann, Ihr versteht schon. Einen solchen Streit zwischen der Stadt und dem Orden kann niemand brauchen, weder ich hier auf dem Domberg noch die Ratsherren in der Unterstadt. Bestimmt war es ein gewöhnlicher Landstreicher oder Dieb, solche tauchen doch immer wieder im Hafen und der Stadt auf. Ein Fremder. Nehmt ihn fest, leiht uns Euren Henker und bringen wir diese Sache rasch zu Ende, so wie wir bisher alle solche Angelegenheiten zwischen der Stadt und dem Domberg zu Ende gebracht haben.«

»So soll es sein und helfe uns der heilige Viktor dabei!«, stimmte Dorn sofort zu.

Sie hatten den Saal schon fast verlassen, da fiel Melchior noch etwas ein. Er verbeugte sich:

»Wenn der Komtur noch eine Frage erlaubt – mir ist etwas zu Ohren gekommen, dass dem seligen Clingenstain eine Münze in den Mund gesteckt worden war ...«

Spanheim zog die Augenbrauen hoch.

»Woher hast denn du das gehört?«

»Das sagte der Ordensdiener, der mich heute morgen aufgesucht hatte. Ich habe dann auch Melchior gegenüber ein Wörtchen verlauten lassen«, bemerkte Dorn.

»Diese verfluchten Schwatzmäuler! Nun fehlt nur noch, dass sie die Nachricht auf dem Markt verkünden! Ja, Jochen fand eine Münze im Munde seines Herren, als er den Kopf vom Haken abnahm ... Dieser Mörder ist ein Leichenschänder, ein Gottesverächter! Er hatte Clingenstains Kopf an der Wand aufgespießt und ihm eine Münze in den Mund gestopft. Als Jochen den Kopf fand, fiel die Münze heraus. Und ich hatte den Dienern noch eingeschärft, das nicht auszuplappern. Die Stadt braucht nicht zu wissen, wie der Leichnam eines so tapferen Kriegers geschändet wurde.«

»Der Komtur hat die Münze nicht zufällig beiseite gelegt?«, erkundigte sich Melchior.

Der Komtur ging zurück ans Schreibpult und nahm eine Münze aus der Truhe.

»Das ist eine gotländische Münze, ein gotländischer alter Örtug«, stellte Melchior erstaunt fest. »Die sieht man in Reval äußerst selten.« Er überlegte einen Moment und fügte hinzu: »Wenn der Komtur mir eine weitere Bemerkung erlaubt – so verhält sich kein gewöhnlicher Räuber, dass er jemanden umbringt und dann bei der Leiche Geld hinterlässt. Normalerweise erleichtern Räuber und Diebe ihre Opfer um Geld, unser Mörder hat sein Opfer jedoch bereichert. Ist Clingenstain denn irgendetwas Wertvolles gestohlen worden? Was ist zum Beispiel aus der goldenen Kette geworden, die er Casendorpe abgekauft hatte?«

»Bin ich etwa sein Schatzmeister?«, schnauzte der Komtur als Antwort. »Ich weiß nur, dass er hier mit der Kette prahlte, als Casendorpe sie ihm brachte, er trug sie den halben Tag lang um den Hals und sagte, er habe sie in seine Bleibe gebracht, bevor er zur Beichte ging. Ich nehme an, dort liegt sie nun in einer gut verschlossenen Truhe. Oder nein – jetzt fällt es mir wieder ein! Er wollte die Kette auf sein Schiff bringen lassen.«

»Das Geschenk für den Ordensmeister ist also auf dem Schiff, an einem sicheren Platz und hinter Schloss und Riegel?«

»Zum Teufel, Melchior, sicherlich. Du denkst doch nicht etwa, dass der Mörder ...« Der Komtur verstummte. »Nein, woher konnte der Mörder denn wissen, dass Clingenstain eine solche Kette bei sich hat, nein. Ich bin sicher, er hat die Kette auf sein Schiff bringen lassen«, brummte er dann.

»So können wir also beruhigt sein, dass das Geschenk an einem sicheren Ort ist. Es tut gut zu hören, dass der Komtur dies bestätigt«, meinte Melchior.

»Ich werde Jochen dazu befragen. Ja, das tue ich ganz bestimmt«, versprach der Komtur. »Nun aber, Herr Gerichtsvogt, ist meine Zeit zu Ende. Die Domherren warten auf mich. Ich wiederhole noch einmal – ich möchte, dass die Stadt den Mörder möglichst schnell festnimmt, und wenn der Mörder ein nutzloser Herumtreiber wäre, passte es am besten, so dass die guten Beziehungen zwischen der Stadt und dem Orden nicht unter der Sache leiden.«

Apotheker Melchior und das Rätsel der Olaikirche

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