Читать книгу Apotheker Melchior und das Rätsel der Olaikirche - Indrek Hargla - Страница 18

Kapitel 7
Beim Kirchgarten der Nikolaikirche 16. Mai, Vormittag

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Kilian Rechperger streifte gerne durch die Gärten Revals und übte dort unter den schattigen Sträuchern und Bäumen seine Lieder. Er hatte mehrere Lieblingsorte, einer davon lag zwischen der Schmiedestraße und der Unterbergstraße, unter den Obstbäumen, in der Gegend, wo die ärmeren Leute wohnten und wo Ludke ihn gar nicht erst suchen würde. Die Tatsache, dass ihm der Diener seines Hausherren in der Stadt nachspionierte – wenn der alte Onkel Mertin ihm keine anderen Aufgaben aufgetragen hatte –, brachte Kilian manchmal richtig außer sich. Aber als Kostgänger durfte er seinen Ärger nicht offen zeigen, ein Kostgänger musste stets unterwürfig und dankbar sein. Nachdem Ludke Kilians früheres Versteck entdeckt hatte, kam Kilian nun öfter hierher, an den Fuß des Dombergs, in den schattigen Kirchgarten der Nikolaikirche, was noch dazu näher an seinem Zuhause lag. Unterhalb lagen die Hinterhöfe der Häuser in der Schmiedestraße, oberhalb die Nikolaikirche und ringsumher wuchsen Bäume. Es war ein verborgener und sicherer Ort und Ludke hatte ihn bisher noch nicht aufgespürt. Am Nordrand des Kirchgartens direkt gegenüber der Münze wuchs dichtes Dickicht und dort lag ein großer Stein, auf dem man bequem sitzen und von wo aus man die Vorbeigehenden auf der Straße gut sehen konnte.

Hier unter den blühenden Apfelbäumen und Linden hatte Kilian in Reval seine schönsten Melodien geschrieben. Hier dachte er an die Worte seines Freundes Giuseppe, dass die beste Musik in Gärten geschaffen wurde, wo es grün war und das Leben blühte. Was Gärten anging, war Reval eine arme Stadt, nicht so wie Mailand ... Immer, wenn er an seine Zeit in Mailand dachte, zog sich Kilians Herz ein wenig zusammen. Ach, warum konnte es in Reval nicht solche Gärten geben wie in Mailand, solche Wärme und Lebensfreude, solchen Stolz und Edelmut, dachte er oft. Hier war es oft kalt und ungemütlich, der Sommer war kurz und das Frühjahr schien ewig zu dauern. Der Schnee schmolz, doch das Wetter wurde einfach nicht warm, Gras und Bäume nicht grün. Es schien geradeso, als wisse die Natur nach dem langen Winter nicht mehr, ob sie noch lebte oder schon tot war. Den Revaler Frühling hasste Kilian am meisten, er war so anders als zu Hause in Nürnberg oder in Mailand, wo er die bisher schönste Zeit seines Lebens verbracht hatte. Nicht der Winter, sondern der Frühling war in Reval die Zeit des Todes. Der Winter war in seiner kalten Gläsernheit, mit behaglichen Abenden an der warmen Feuerstelle, sogar schön. Der Frühling tat aber durch sein Nichtvorhandensein weh, mit seiner Kälte, seinem Schmutz und Dreck. Im Frühjahr war es am schwierigsten, hier zu leben. Ostern in Reval bedeutete Starre, Niedergeschlagenheit und Trauer. Doch auch in Reval fand man schöne Dinge, die Herz und Auge erfreuten und jetzt, Mitte Mai, schien es, als hätten auch die Bäume und Sträucher begriffen, dass die Zeit des Todes vorbei war.

Heute hatten im Kirchgarten der Nikolaikirche die Apfelbäume angefangen zu blühen.

Kilian Rechperger saß auf dem von der Frühlingssonne gewärmten Stein und spielte auf seinem Instrument. Ihm zu Füßen saßen zwei Mädchen und lauschten seiner Musik. Alle beide, Katrine und Birgitta, waren hübsch, Töchter stolzer Stadtbürger obendrein, aber sie waren so jung, dass die Liebe für sie noch nicht einmal ein Spiel war. Ihre Herzen waren zwar voller Übermut, bald würden sie ins Heiratsalter kommen, aber noch war die Liebe für sie etwas Fremdes – und Lustiges. Sie wussten nicht, dass Liebe weh tun musste und dass wahre Liebe Schmerz bedeutete.

Kilian sang:

Sieh, dort an der Wegkreuzung steht

beim Dorrenstamm eine Schenke

und der Teufel selbst in die Schenke geht ...

Das war ein altes Lied, er hatte es vor ein paar Jahren im Herbst in einer Herberge am Wegesrand gehört, als er von Nürnberg nach Mailand unterwegs gewesen war. In dem Lied ging es um eine Schenke, in der der Teufel die Reisenden vom rechten Weg abbrachte, sie zum Würfelspiel verleitete und sie zwang, zur Deckung ihrer Schulden ihre Seele zu verkaufen. Früher hatte Kilian das Verkaufen der Seele für vollkommen nichtig und unwichtig gehalten. Davon sprachen die Bischöfe und die Wandermönche manchmal in ihren Predigten, doch in Wirklichkeit konnte man seine Seele doch nicht verkaufen, das war alles nur Gerede.

Jetzt wusste er es besser, jetzt verstand er dieses Lied.

Seine Seele konnte man verkaufen. Der Mensch ließ sich auf den Sündenpfad locken. Die Sünde lauerte in Gedanken, in Blicken ... und im Begehren, und das war eine Todsünde. Kilian hatte den Kirchgarten nicht grundlos für seine mittägliche Faulenzerei gewählt. Mittags kam hier Gerdrud vorbei, wenn sie zur Mühle hinter der Schmiedepforte ging.

»Hört mal, Herr Meistersänger aus Nürnberg, kennt Ihr denn auch lustigere Lieder?«, rief nun Katrine und lachte. Die Sommersprossen tanzten auf ihrem reizenden Gesicht, sie hatte rotes Haar und aufgeweckte grüne Augen.

»Ja, solche, die auch tugendhaften, jungen Mädchen ziemen, nicht nur solche übers Würfelspielen und den Teufel«, wünschte sich Birgitta.

»Oder findet Ihr etwa, dass alle Lieder nur davon handeln sollten, wie Männer sich mit Würfeln die Zeit vertreiben?«

»Dem Meistersänger Kilian Rechperger aus Nürnberg hat es vom vielen Meistersingen wohl ganz die Sprache verschlagen?«

Die Fragen prasselten auf Kilian herab, die Mädchen lachten und von Weitem sah Kilian, wie Gerdrud sich näherte. Die junge Frau hatte einen Marktkorb unter dem Arm und bemerkte Kilian. Und sie bemerkte auch die zwei Mädchen, die seiner Musik zuhörten. Wäre Kilian alleine gewesen, wäre Gerdrud vielleicht zu ihm gekommen und hätte ihn gerügt, dass er den Tag so nutzlos mit Lautenspiel vorbeiziehen ließ, nun aber trat sie nicht näher. Sie nickte ihm nicht einmal zu, sondern wandte den Blick ab, als hätte sie Kilian gar nicht gesehen, als wäre Kilian gar nicht da.

Das tat weh, doch es war ein süßer Schmerz, der Kilians Herz erfüllte.

»Ganz und gar nicht, gnädige Fräulein«, sagte er dann und strich mit den Fingern über die Lautensaiten. »Aber noch bin ich kein richtiger Meistersänger, ich bin erst ein Schulfreund, ein Wandergeselle. Nichtsdestotrotz singe ich Euch gerne etwas vor. Für jeden Menschen, sei er alt oder jung, dick oder dünn, hübsch oder hässlich, Mann oder Frau, Räuber oder Heiliger, gibt es auf dieser Welt ein Lied.«

»Und was sind wir Eurer Meinung nach? Jung oder alt? Dick oder dünn?«, fragte Birgitta. »Hübsch oder hässlich, Räuber oder Heilige?«

»Frauen oder Männer?«, kicherte Katrine.

»Wer Ihr seid, gnädige Fräulein, liegt an Euch zu entscheiden, zu suchen und zu finden. Ich habe meinen Weg gewählt und gehe ihn mit Gesang. Wisst Ihr, in unserer Gilde wird nur der ein wahrer Meistersänger, der auf der Stelle ein Lied erschaffen kann, aus der Luft, aus dem Nichts, ein ganz eigenes und neues Lied, das es vorher noch nicht gegeben hat«, erzählte Kilian eifrig. Gerdrud war jetzt schon in der Nähe, doch zu Kilian schaute sie nicht hinüber.

»Und Ihr beherrscht diese Kunst, Kilian Rechperger?«, erkundigte sich Katrine.

»Wie ich schon sagte, bin ich erst Geselle. Von der wahren Kunst des Meistersingens bin ich noch weit entfernt.«

»Seid doch nicht so bescheiden, Kilian. Wir haben doch gehört, wie Ihr vorhin gesungen habt.«

»Sagt, könntet Ihr beispielsweise sofort ein eigenes Lied erfinden, einfach so, aus dem Nichts?«

»Oder ein Lied über etwas, was Ihr gesehen habt und was Euch gefällt?«

»Ach, singe ich denn nicht die ganze Zeit davon, was mir gefällt und was mir am Herzen liegt? Kann man denn überhaupt von etwas anderem singen?«, fragte Kilian bedrückt.

Die Mädchen spornten ihn weiter an. Kilian sträubte sich nicht ernsthaft, er wartete einfach.

»So singt doch, Kilian! Das ist doch Eure Aufgabe, herumzureisen und den Leuten etwas vorzusingen«, verlangte Birgitta.

»Schön, dann singe ich«, versprach er. »Aber worüber?«

»Singt über irgendetwas! Oder nein, singt über das Nichts! Ja, genau, singt Euer eigenes, neu erfundenes Lied, das von nichts handelt«, riefen die Mädchen durcheinander.

»Über das Nichts? Gut, das mache ich«, war Kilian einverstanden. Gerdrud war nun ganz nah, so dass sie ihn hören musste. Kilian sah nicht, dass auch Apotheker Melchior und Gerichtsvogt Dorn unterhalb des Kirchgartens aufgetaucht waren. Dorn regelte dort etwas mit seinen Amtskollegen, Melchior kam aber ein paar Schritte näher, winkte Kilian kurz zu und blieb stehen, um das Lied anzuhören.

Dies ist ein Lied über das Nichts

Es ist nicht über mich, nicht über einen anderen

Nicht über die Liebe, nicht über die Jugend

Auch über nichts anderes, über nichts

Es kam mir in den Sinn, als ich schlief

Und auf meinem Pferd durch die Einsamkeit trabte

Ich weiß nicht, wann ich geboren wurde

Ich bin weder glücklich noch böse

Ich bin hier kein Fremder

Und habe hier doch keinen Platz

Daran kann ich nichts ändern

Eine Bergfee hat mich verzaubert

Ich weiß nicht, ob ich wache oder träume

Mein Herz bricht fast entzwei, ich bin so bekümmert

Aber das kümmert mich nicht im Geringsten

Ich bin in jemanden verliebt, ich weiß nicht, wer sie ist

Denn ich habe sie noch nie gesehen

Niemals hat sie mich erfreut oder mich betrübt

Und auch das kümmert mich nicht

Ich habe sie nie gesehen, doch ich liebe sie so sehr

Sie hat mir weder das zukommen lassen, was sie sollte, noch das, was verboten ist

Sehe ich sie nicht, bin ich glücklich

Gar nichts mache ich mir aus ihr

Denn ich kenne eine, die netter ist als sie und hübscher und reicher noch dazu

Ich weiß nicht, wo sie wohnt

Oben in den Bergen oder auf dem ebenen Feld

Es schmerzte zu sehr euch zu erzählen, wie sie mich quält

Und zu sehr schmerzt es hier zu bleiben

Daher gehe ich

Hier ist mein Lied

Ich weiß nicht, wovon es handelt

Ich schicke es jemandem

Der es mit jemand anderem an jemanden in Nürnberg schickt

Vielleicht kann sie mir den Schlüssel ihrer Truhe schicken, mit dem ich dieses Rätsel lösen kann.

Gerdrud schritt an Kilian vorbei, als wäre der Junge überhaupt nicht anwesend, Melchior aber hörte interessiert das Lied zu Ende und eilte dann dem Gerichtsvogt hinterher.

Apotheker Melchior und das Rätsel der Olaikirche

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