Читать книгу Rock den Himmel, mein Held - Ines Gillmeister - Страница 10
Die kleinen Dinge
ОглавлениеUnser Sohn, der kleine Batman, wurde in ein Leben geboren, dass ungünstiger kaum hätte sein können. Ich versuchte, die Sichtweise unserer Tochter anzunehmen, die trotz der Situation jeden Tag über Kleinigkeiten strahlte. Zum Frühstück freute sie sich über das Knuspergeräusch, wenn sie in das Brötchen biss. Später spielte sie mit ihrem Bruder und freute sich darüber, dass er ihre Schnuffelpuppe zu mögen schien. Als sich ein Schmetterling in unsere Wohnung verirrte und sich auf den Esstisch setzte, war Emma begeistert, dass sie ihn von allen Seiten betrachten konnte, ohne dass er davonflog. Das tapfere Mädchen zeigte mir, was wirklich zählt. Sie und Leo ließen mich spüren, wie schön alles noch war, obwohl der Mann, den ich liebte, mit einer beschissenen Erkrankung im Krankenhaus lag und um sein Leben kämpfte.
Unsere Tochter erzählte, dass sie sich auf Simon freue, auf eine Zeit, in der er wieder zu Hause sei. Und sie hatte so recht damit. Mein Blick nach vorn war beschränkt und von Ängsten gesteuert, und ich bremste mich selbst damit aus. Ich drückte Emma an mich und nahm mir vor, mich ebenfalls auf die schönen Dinge zu konzentrieren, mich daran zu erinnern, wie schön Freude war.
Als ich Simon am nächsten Tag in der Klinik besuchte, erzählte ich ihm von meinem magischen Mittwoch, wie schön dieser Tag gewesen sei und dass ich mich gerade etwas leichter fühle. Natürlich machte ich mir weiterhin Sorgen, aber der Blick auf andere Dinge kam zurück. Ich erzählte Simon von der Brötchenkruste und vom Schmetterling. Ich zeigte ihm Fotos der Kinder, wir lächelten. Der Raum um uns wurde plötzlich hell und warm. Unsere Kinder hatten uns an das Wesentliche erinnert. Sie lehrten uns, achtsam zu sein und Schritt für Schritt zu denken. Wenn wir mit den Gedanken weiter so rasten wie bisher, dann übersähen wir so vieles.
Wenige Tage später durfte Simon nach Hause kommen. Wir schliefen wieder in einem Bett zusammen. Unser Kühlschrank war voll und das Dach über unserem Kopf heil. Damit hatten wir mehr als viele andere Menschen auf dieser Welt. Zusammen organisierten wir unseren Alltag neu, die Aufgaben wurden anders verteilt. Unser Leben hatte sich verändert, es war anders als noch vor wenigen Monaten. In vielen Dingen war es jedoch nicht schlechter. Im Gegenteil. Achtsamkeit wurde unser neuer Begleiter. In den nächsten zwei Wochen verbrachten wir so viel Familienzeit zusammen, wie es nur irgendwie ging. DVD-Abende, Vorlesetage, wir bauten ein kleines Zelt im Wohnzimmer auf und übernachteten alle darin. Wir suchten einen Schatz und picknickten auf dem Küchenboden. Wir gingen in den Park und nahmen ein kleines Planschbecken mit. Leo trug ich im Tragetuch, im Kinderwagen transportierten wir einige Liter Wasser, um das Becken füllen zu können. Wir verbrachten viele Nachmittage im Park. Emma fühlte sich wie im Urlaub, saß mit einem Glas Limo im Wasser und trank aus einem Strohhalm. Sie meinte, dass es fast wie am Meer sei.
Im Oktober zog unser Held erneut in die Klinik, diesmal zur Hochdosis-Chemotherapie. Wir hatten beide großen Respekt davor, waren gleichzeitig jedoch überzeugt davon, dass alles gut gehen würde.
»In drei Wochen bin ich wieder zu Hause«, sagte Simon zum Abschied zu Emma. »Pass mir so lange bitte gut auf die Mama auf!«
»Mach ich«, erwiderte Emma, während sie ihren Momo umarmte. »Und auf Leo auch. Und die Ritter in deinem Blut, die passen auf dich auf.«
Die Zeit der Isolation schien endlos lang, Simon aber blieb mutig und unendlich tapfer. Eine Infektion, vor der wir uns so sehr gefürchtet hatten, trat nicht ein und insgesamt verlief alles viel besser als erwartet.
Als Simons Immunsystem gegen null heruntergefahren war, bekam unser Held seine eigenen Stammzellen zurück, und die kleinen Helferchen brauchten nicht lang, bis sie ihre Arbeit wiederaufnahmen. Nur einmal wurde es nötig, Simon mit einer Blutkonserve zu unterstützen.
Ich brachte ihm jeden Tag Dinge mit, die ihn an zu Hause erinnern sollten. Ich wollte meinem Helden immer wieder zeigen, dass sich die ganze Prozedur lohnte. Ich bastelte ihm ein Fotobuch und brachte ihm Kleidung der Kinder mit. Wir machten Pläne und beschlossen, so schnell wie möglich umzuziehen, da meine Wohnung schlichtweg zu klein für uns vier war. Noch immer schwirrte in unseren Köpfen der Gedanke herum, dass Simon schon in wenigen Jahren nicht mehr da sein konnte. Und wir wussten, dass er immer wieder für Wochen ins Krankenhaus würde ziehen müssen. Worauf also warten? Die Zukunft kommt sowieso von ganz allein, aber wie sie aussehen wird, das konnten wir zumindest mitbestimmen. Wir hatten angefangen, die Diagnose »Kunibert« zu akzeptieren. Er würde uns für immer begleiten, ob wir wollten oder nicht. Er würde nicht wieder gehen. Die Prognose jedoch, die wollten wir nicht hinnehmen. Simon war jung, er war zuvor nie krank gewesen und abgesehen vom Multiplen Myelom in einer guten Gesamtverfassung. Und er hatte seinen Lebensmut und Optimismus wiedergefunden. Gemeinsam würden wir es schaffen und noch viele Jahre zusammen verbringen!
Das war das, was ich sagte, wenn ich mit Mundschutz an seinem Bett saß und seine Hand hielt. In mir drin sah es etwas anders aus. Die letzten Monate waren steinig und wirklich anstrengend gewesen, und ich wusste nicht, ob ich noch einmal in der Lage sein würde, das alles auszuhalten. Nicht nur einmal dachte ich, dass Simon die Prozedur nicht überleben, dass er sterben würde. Aber dann sah ich meinen Helden, wie das Lächeln in seinem Gesicht zurückkehrte, wie er Pläne für die Zukunft schmiedete. Das gab mir Mut.
Simon hielt Wort und kehrte nach nur drei Wochen nach Hause zurück. Wir bastelten einen Adventskalender für Emma und besorgten eine rote Zipfelmütze für Leo. Wir gingen auf Weihnachtsmärkte und feierten schlussendlich Weihnachten zusammen. Mit zwei Kindern, mit Simons Familie und vor allem mit Simon selbst. Noch vor sechs Monaten hatte ich befürchtet, ohne ihn unter dem Weihnachtsbaum sitzen zu müssen. Aber mein Held war da, wir küssten uns, und ich war so dankbar. Am Abend machten wir einen Spaziergang, blieben vor einem Feld stehen und guckten uns an. In diesem Moment wusste ich, dass ich am liebsten die nächsten Jahre einfach nur hier stehen wollte, mit Simon an meiner Seite.
Alles war glatt und rutschig, und wir taten ein paar vorsichtige Schritte auf das vereiste Feld. Wir schwiegen und atmeten die eiskalte Winterluft ein. Auf einer kleinen Erhöhung blieben wir stehen, ich stolperte, er fing mich auf. Wir standen dort, guckten in den Himmel und plötzlich schrie Simon: »Danke!« Er starrte hinauf und brüllte: »Danke, dass ich noch nicht kommen durfte.«
Ich rief »gut gemacht!« hinterher. Wir lachten, dann weinten wir, um danach wieder zu lachen. Das echte Leben hatte uns zurück, wir hatten keinen Plan B und brauchten ihn auch nicht. Glaubten wir.
Inzwischen hatten wir das Projekt »Zusammenziehen« in Angriff genommen und am Stadtrand eine schnuckelige Doppelhaushälfte zur Miete gefunden, ringsherum viel Grün, saubere Luft, noch mehr Grün und unzählige Felder. Perfekt für die Kinder, perfekt für uns. Der Weg in die Klinik war von dort aus etwas weiter, aber durchaus machbar. Am 27. Dezember 2012 unterschrieben wir den Mietvertrag, am 28. packten wir die wichtigsten Sachen zusammen und am 30. Dezember, Simons 32. Geburtstag, zogen wir mit den ersten Dingen ein.
Die Heldenkinder und ich gingen jeden Tag auf die Felder hinaus. Emma blühte auf, Leo, der ein zappeliger kleiner Junge war, wurde ruhiger. Der viele Platz, keine Hochhäuser, weniger Menschen – wir hatten unser Paradies gefunden. Wir machten Schneeballschlachten, stapften durch Eispfützen, bis unsere Füße kalt und unsere Nasen ganz rot waren. Die Einhornbändigerin wurde selbstbewusster und klingelte an den Türen von Häusern, in deren Gärten sie Spielgeräte gesehen hatte. »Wohnt hier ein Kind?«, fragte sie. »Darf ich mit ihm spielen?«
Wir konnten wieder aufatmen und die Angst der letzten Monate vorerst hinter uns lassen. Simon genoss seine wiedergewonnene Freiheit, er fühlte sich jeden Tag ein wenig besser. Weil er sehr auf seine Bedürfnisse achtete, vergaß er manchmal, nach links oder rechts zu sehen. Auch wenn das mitunter zur Belastungsprobe wurde, gönnte ich ihm diese Zeit von ganzem Herzen. Die erste Runde Kunibert gegen Simon ging an unseren Helden, aber wir wussten, dass es zu jeder Zeit in die nächste Instanz gehen konnte – wer wollte Simon da ein wenig Egoismus verübeln?
Wir vollendeten unseren Umzug, holten die letzten Sachen aus der alten Wohnung und richteten uns endlich ein. Ich kaufte das Waschmittel, nach dem Simons frühere Wohnung immer gerochen hatte. Alles war perfekt. Nach zwei Monaten ging unser Held wieder stundenweise arbeiten, zwei weitere Monate später Vollzeit. Seine Haare waren nachgewachsen und konnten endlich wieder mit Haarwachs versorgt werden. Das Schnarchen neben mir im Bett war zurück, es war vertraut, wurde mit der Zeit allerdings auch wieder anstrengend. Im Sommer kam Leo in die Kita, sodass auch ich zu meiner Arbeit zurückkehrte. Emma wurde eingeschult und war wahnsinnig stolz auf ihren Einhorn-Schulranzen. Zahnpastatuben blieben offen, Schuhe lagen überall verteilt, und wir diskutierten, wer von uns chaotischer sei. Hallo Alltag, wir lieben dich.
Anfangs musste Simon alle vier Wochen zur Blutkontrolle, später alle drei Monate. Die Werte blieben stabil, Kunibert war da, zeigte sich aber kaum. Unser Held hatte keine Symptome. Wir wogen uns in Sicherheit, und Simons Bruder meinte einmal, dass Kunibert vielleicht ja doch nicht zurückkäme. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass unser Held das ebenfalls glaubte. Wir sprachen selten über die Krabbe.
Trotzdem gab es sie immer wieder – Momente der Angst. Als Myelompatient gab es anscheinend die Regel: »Egal, was an deinem Körper krank ist, es muss das Multiple Myelom sein.« 2014 musste sich Simon einer Nasen-OP unterziehen, weil er ständig eine Nebenhöhlenentzündung bekam. Ein Röntgenbild hatte ein Gebilde in der Nase gezeigt, das nach Meinung des HNO-Arztes nur das Myelom sein konnte. Wenig später stellte sich heraus, dass es harmlos war. Nach der Entwarnung lagen wir uns erleichtert in den Armen.
Wir fuhren in den Urlaub an die Ostsee, feierten Geburtstage und Silvester. Leo lernte laufen und Dreirad fahren. Emma lernte lesen und rechnen. Wir fuhren mit den Kindern Schlitten im Winter und zum See im Sommer. Ein Hund zog ein, wenig später der zweite. Im Garten standen ein Vogelhäuschen, eine Rutsche und ein Trampolin. Wir waren zu Spießern geworden, und es fühlte sich grandios an, normal und alltäglich. Kaum einer der Nachbarn wusste von Kunibert, es war Simon nicht anzumerken. Wir waren so normal wie alle anderen.
Das Gefühl der Sicherheit wurde immer stärker. Und dadurch gefährlicher.