Читать книгу Rock den Himmel, mein Held - Ines Gillmeister - Страница 11

Das Erwachen

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Im September 2016 feierte unser Sohn seinen vierten Geburtstag. Kunibert hatte sich nicht blicken lassen. Bis unser Held erneut Rücken- und Beckenschmerzen bekam. Eigentlich wussten wir, was das hieß. Der Orthopäde jedoch meinte, dass es nur Verspannungen seien, und verordnete Simon Physiotherapie. Wir nahmen das dankbar hin, denn an Kunibert wollten wir einfach nicht denken. Die Krabbe hatten wir ganz weit weggeschoben …

Dennoch … In meinem Bauch grummelte es, so sehr wie vor vier Jahren schon einmal. Erneut zogen starke Schmerzmittel in unser Haus ein. Unser Held wurde schwächer und die Schmerzen schlimmer. Noch immer sprachen wir nicht über Kunibert. Ich fürchtete mich und war mir sicher, dass es unserem Helden ähnlich erging. Was würde sein, wenn das Myelom zurückgekommen war?

Die letzten vier Jahre waren an uns vorbeigeflogen und wir hatten Kuniberts Dasein erfolgreich verdrängt. Nur die regelmäßigen Arzttermine erinnerten uns hin und wieder daran. Bislang jedoch war immer alles gut gewesen, die Blutwerte stimmten. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass Kunibert innerhalb weniger Wochen so schnell gewachsen war, dass er nun bereits Symptome verursachte. Das konnte einfach nicht sein.

Der kleine Leo übte derweil fleißig Fahrrad fahren, er wollte es unbedingt schaffen. Aber ohne seine Stützräder traute er sich nicht. Er wollte es zusammen mit Simon üben. Der jedoch konnte durch die erneuten Schmerzen nicht so handeln, wie er es gern getan hätte.

»Papa soll aber!«, beharrte Leo. »Ich warte, bis er wieder stark ist.«

Die Tage wurden kälter, die Blätter fielen von den Bäumen. An manchen Morgen war der Wind so kalt, dass ich mir mein Halstuch bis ins Gesicht zog. Simon konnte inzwischen nicht mehr arbeiten. Eines Tages wollten wir im Supermarkt einkaufen. Simon parkte den Wagen, ich öffnete die Tür und stieg aus. Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, dass unser Held Probleme beim Aussteigen hatte, er schien nicht von seinem Sitz hochzukommen. Schließlich gelang es ihm, aber als er stand, musste er sich am Auto abstützen. Sein ganzer Körper zuckte. Ich dachte sofort an 2012, den Tag, an dem seine Wirbel wie durch einen Blitzeinschlag einfach gebrochen waren.

Simon zuckte erneut und ging in die Knie, wortlos, dafür laut stöhnend. Verdammt. Mein Herz blieb kurz stehen, ich lief ums Auto, um ihm aufzuhelfen. Simon kniff seine Augen zusammen, biss sich auf die Lippe und meinte: »Geht schon.«

Gar nichts ging, rein gar nichts. Dieser Anblick, diese verkniffenen Augen zeigten uns ganz genau, was gerade passierte. Wir brauchten keinen Arzt, der uns sagte, was das eben gewesen war. Wir sahen uns in die Augen, umarmten uns und wussten, dass Kunibert zurück war. Da hockten wir nun, auf dem Parkplatz vom Supermarkt, an das Auto gelehnt und heulten. Die Menschen um uns herum warfen uns merkwürdige Blicke zu. Aber das war egal, es war alles egal. Kunibert war zurück, und wir ahnten, was in den nächsten Monaten auf uns zukommen würde. Noch bevor wir die Bestätigung durch die Ärzte hatten, überlegten wir, was, wie und wann wir mit den Kindern reden sollten.

Unserem Sohn Leo mussten in einer Operation die Mandeln entfernt werden. Am Tag nach der OP hatte unser Held dann seinen Termin bei der Onkologin. Und auch wenn wir bereits wussten, dass Kunibert zurück war, traf uns das Ergebnis des Bluttests wie ein Schlag ins Gesicht. Simon rief mich von der Klinik aus an und brach in Tränen aus. Ich stockte, mein Atem stockte. Mit beiden Händen umklammerte ich das Telefon, als wäre es ein Rettungsanker, der mich aus dieser elendigen Situation befreien konnte. Unser Held weinte bitterliche Tränen und meinte, dass sich der entsprechende Blutwert in den letzten vier Wochen mehr als verfünffacht hatte. Kunibert war tatsächlich zurück und das so viel mächtiger als beim ersten Mal. Die Chemoritter würden nun extra stark sein müssen, es mussten extra viele sein und besonders mutige sowieso.

Abends kam Simon zu Leo und mir ins Krankenhaus, Emma war bei Papa-Eins. Unser Held betrat schweigend das Zimmer und umarmte mich. Er streichelte mir meine Haare aus dem Gesicht und weinte. Wir setzten uns an den Tisch in Leos Krankenzimmer, und ich versuchte zuzuhören und dabei die Fassung zu wahren. Mein Held erzählte von Blutwerten, von Kunibert und davon, dass die erste Chemotherapie noch vor Weihnachten beginnen sollte. Er nahm meine Hände und sagte: »Ich kann damit leben, falls du das nicht noch mal so mitmachst wie beim letzten Mal. Wenn du mich nicht so oft oder gar nicht besuchst. Das ist okay. Aber …« Er senkte den Blick. »Ich … ich verkrafte es nicht, wenn du mich verlässt.«

Dieser Satz, diese Angst erschütterte mich. Ich schlang meine Arme um ihn und flüsterte: »Ich verlasse dich nicht, mein Schatz. Nicht jetzt, nicht morgen und übermorgen auch nicht.«

Vier Jahre zuvor war ich mir sicher gewesen, diesen Weg nicht noch einmal gehen zu können, dass ich es nicht schaffen würde, zwischen Arbeit, Kita und Krankenhaus zu pendeln, den Haushalt zu stemmen, eine gute Mutter zu sein und hilflos mitansehen zu müssen, wie mein Held kämpfte und litt. Nun war es so weit. Und ich wusste, dass ich den Weg erneut mitgehen würde. Es war Simon, der da neben mir saß, ich liebte ihn, und daran änderte auch Kunibert nichts. Wir hatten es schon einmal geschafft, also würde es uns auch ein zweites Mal gelingen.

Ich glaube nicht an Gott, aber ich glaube an das Schicksal und daran, dass es einem nur so viel zumutet, wie man in der Lage ist zu ertragen. Ich bin der Überzeugung, dass jeder Mensch dieser Welt sein Päckchen zu tragen hat. Keines davon ist größer oder kleiner. Alle sind gleich schwer. Für jeden ist sein Päckchen besonders schwer zu tragen. Die Kinder und ich – wir würden Simons Päckchen mittragen, in der Hoffnung, dass es dadurch etwas leichter würde. Nicht, weil ich ein toller Mensch bin, sondern weil Simon einer ist!

Ich hatte Angst, bezweifelte aber nicht, dass wir es erneut schaffen würden, Kunibert den Mittelfinger zu zeigen.

Einige Tage später stand der nächste große Onkologentermin an. Dieses Mal begleitete ich unseren Helden in die Klinik. Dort saßen wir, im selben Arztzimmer auf derselben Station, auf denselben furchtbaren Stühlen. Nur die Ärzte waren andere, aber es waren wieder drei, und einer reichte uns erneut und ungefragt ein Glas Wasser. Ich glaube ja, dass das nicht einer Dehydrierung vorbeugen sollte, sondern eher zum Festhalten diente. Wie ein Rettungsgriff.

Der Behandlungsplan wurde besprochen. Vier Zyklen Chemotherapie und dann eine Tandemtransplantation. Das bedeutete eine Hochdosis-Chemo, Isozimmer und die Rückgabe der eigenen Stammzellen, so wie vor vier Jahren. Etwa drei Monate später sollte eine weitere Hochdosis-Chemo folgen und schließlich eine Transplantation mit fremden Stammzellen, die über eine zentrale Datenbank gefunden werden sollten. In diesem Zusammenhang fragte ich den Arzt, ob er denn wisse, ob es einen potenziellen Spender gebe.

»Das kann ich noch nicht sagen«, meinte der Mediziner. »Zunächst müssen Sie den Spendersuchlauf unterschreiben.« Er nickte Simon zu.

Wir waren guter Dinge. Zwar wussten wir aus den Medien, dass es manchmal schwierig war, einen geeigneten Spender zu finden. In den meisten Fällen jedoch klappte es dann doch. Die Chemozyklen vorher machten uns keine Angst, es sollte das gleiche Medikament sein, das Simon vom letzten Mal schon kannte und das er so gut vertragen hatte.

Die Menschen in Weiß redeten von neuen Therapieansätzen, von der Forschung und sprachen uns Mut zu. Übermorgen sollte eine Beckenkammstanze gemacht werden, eine Probe aus dem Knochenmark entnommen. Ein CT war geplant, weitere Blutuntersuchungen ebenso. Die Ärzte machten uns Hoffnung, dass uns eine fremde Stammzellspende mehr Zeit, lebbare Zeit verschaffen konnte. Sie sagten aber auch, dass ohne diese Spende die Wahrscheinlichkeit recht groß sei, keine weiteren vier Jahre ohne Symptome zu erleben.

Als wir die Klinik verließen, hatten wir Respekt und uns war wieder flau im Bauch. Die Angst fühlte sich jedoch anders an als beim ersten Mal. Wir vertrauten auf die Medizin, auf uns und darauf, dass Simon es erneut »rocken« würde. Trotzdem hörten wir die Uhr im Hintergrund ticken.

Rock den Himmel, mein Held

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