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Chemoritter

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Simon machte sich große Sorgen um seine Haare. Morgens brauchte er immer eine Ewigkeit, bis sie so lagen, wie er wollte, wobei es immer dann am merkwürdigsten aussah, je länger er im Bad gebraucht hatte. Gewisse Geheimratsecken ließen sich schon seit einer ganzen Weile nicht mehr leugnen, und nun hatte er Angst, dass ihm die Haarpracht komplett ausfallen könnte.

Ich versuchte ihn damit zu trösten, dass die Haare wieder nachwachsen würden und ihm eine Glatze bestimmt auch ganz gut stehe. Außerdem bräuchte er sich nicht mehr mit seiner Frisur unter Druck zu setzen und ich könnte ihm endlich auch tagsüber über den Kopf streicheln. Das war nach Fertigstellung seiner Frisur nämlich streng verboten.

»Danke«, sagte er halb traurig, halb lächelnd.

Kurz nach Beginn zeigte die Chemotherapie erste Nebenwirkungen, die jedoch deutlich schwächer ausfielen als befürchtet. Simons Füße kribbelten häufig und sein Geschmackssinn ließ nach. Übel war ihm dafür kaum. Wir redeten viel, unter anderem darüber, dass ich Emma endlich erzählen wollte, was vor sich ging.

Simon sollte vermessen werden, damit er ein angepasstes Boston-Korsett bekam, eine Art Panzer am Oberkörper, der die gebrochenen Wirbel im Rücken stützen sollte. Wenn unser Held wieder nach Hause käme, würde er dieses Teil immer noch tragen, sichtbar über dem T-Shirt.

Wie also erklärt man das einer Vierjährigen, die eine soziale und empathische Ader hat, die Ihresgleichen sucht? Wie? Simon und ich versuchten, einen Weg zu finden, unsere Situation in eine Geschichte zu verpacken. Ich fühlte mich völlig überfordert, weil ich nicht wusste, wie ich unserer Tochter etwas erzählen sollte, das ich selbst noch nicht so recht verstanden hatte.

Wir saßen im Außengelände der Klinik, er im Rollstuhl, ich neben ihm auf der Bank. Wir sprachen über Emma. Dann, völlig unvorbereitet, fragte er mich: »Sag mal, Krebs hab ich aber nicht, oder? Mit ›bösartig‹ hat der Arzt etwas anderes gemeint, nicht?«

Meine Kehle war zugeschnürt, das Baby in meinem Bauch hörte auf zu strampeln und ich hielt die Luft an. Ich überlegte kurz, ihn anzulügen. Mein Mund öffnete sich, um etwas zu sagen, mein Hirn aber schrie mich an, ruhig zu bleiben. Ich wollte etwas sagen, konnte es jedoch nicht. Offensichtlich hatte unser Held noch weniger verstanden, was vor sich ging, als ich. Oder er war besser im Verdrängen.

Ich sah in seine wunderschönen Augen, die noch nie zuvor so müde ausgesehen hatten. Ich küsste seine weichen Lippen, hielt seine Hand und schwieg. So saßen wir dort, eine gefühlte Ewigkeit. Irgendwann versuchte ich, ihm alles noch einmal zu erklären. Dass er ein Multiples Myelom habe und dass dies eine schwere Krebserkrankung sei. Der Krebs sitze dabei im Knochenmark und sei dadurch überall. Er knabbere an den Knochen, darum brauche unser Held dieses Korsett. Es sei nicht heilbar, aber man könne es zurückdrängen. Keiner könne uns sagen, wie lange es möglich sei, das Myelom aufzuhalten. In jedem Fall jedoch gehe es einher mit einer stark eingeschränkten Lebenserwartung. Die Zahlen, die uns im Arztgespräch genannt worden waren, ließ ich weg.

Simon nickte und sagte: »Das ist scheiße.«

Richtig, mein Schatz, das war es.

Am Nachmittag holte ich Emma aus der Kita ab. Wir gingen nicht wie sonst auf den Spielplatz, sondern kuschelten uns zu Hause auf das beigefarbene Kunstledersofa mit dem weggescheuerten Kugelschreiberfleck. Am liebsten hätte ich es erneut angebrüllt. Ich fragte unsere Tochter, ob sie noch wisse, wo Simon gerade sei.

Emma sah mich an. »Momo ist im Krankenhaus, wegen der schlimmen Rückenschmerzen«, antwortete sie. »Die können ihm da besser helfen, oder?«

»Ja«, sagte ich. »Und die Rückenschmerzen, die kommen von einer Krankheit, weißt du? Die heißt Krebs.«

»Das Tier? Das am Meer lebt und Scheren hat?« Wir besaßen ein Wimmelbilderbuch mit einer Strandszene, und dort krabbelten einige Krebse durch den Sand. Einer zwickte einen Mann in Badehose in den großen Zeh.

»Genau«, erwiderte ich. »Aber dieser Krebs zwickt Momo nicht in den Zeh, sondern macht mit seinen Scheren Momos Blut kaputt und zersägt die Knochen. Darum tut Momo der Rücken so doll weh.«

Emma bekam große Augen. »Und im Krankenhaus helfen sie Momo?«

Es war schwer, unserer Tochter in die strahlend blauen Augen zu sehen, als ich antwortete: »Ja. Die Ärzte können die Krabbe zwar nicht vertreiben, weil sie tief in Momos Knochen hockt, aber sie geben ihm Medizin, die die Krabbe müde macht. Weißt du, die Medizin ist wie kleine Ritter, die mit ihren Schwertern in Momos Blut gegen die Krabbe kämpfen. Und weil das alles ganz schön anstrengend ist, kann es sein, dass Momo danach müde ist und nicht so viel toben kann. Und wenn es besonders anstrengend für die Ritter wird, kann es auch sein, dass Momos Haare ausfallen. Das zeigt, dass die Ritter einen guten Job machen.«

Emma sah mich mit ihrem Puppengesicht an, holte ihren Arztkoffer und packte eine kleine Dose aus. Sie schraubte den Deckel ab, fischte aus ihrer Hosentasche ein Röhrchen mit ihrem Geheimvorrat an Glitzer heraus und entkorkte es. Gewissenhaft schüttete sie etwas davon in das Döschen, hielt inne und schütte dann noch mehr. Der Geheimvorrat war nun fast leer. Anschließend verschraubte sie das Döschen und reichte es mir.

»Das ist Zaubermedizin, die musst du mit zu Momo nehmen. Das macht die Ritter stark, dann können sie besser helfen.«

Ich streichelte unserer Tochter durch die Haare und war so unendlich gerührt. Ich sprach noch mal von den Rittern und davon, dass Simon, wenn er nach Hause käme, selbst eine Art Ritterrüstung tragen müsse. Das solle ihm helfen, die Krabbe aus den Knochen zu vertreiben. Emma fand die Idee, dass wir dann unseren eigenen Ritter hätten, ganz großartig und fragte dann, ob die Krabbe einen Namen habe. Wir überlegten zusammen und entschieden uns für Kunibert. So hieß ein gemeiner Drache aus einer ihrer Kindergeschichten, dessen lange Krallen Emma an die Scheren einer Krabbe erinnerten.

»Ich kann Kunibert nicht leiden, Mama«, sagte sie. »Es ist doof, dass er für immer bei uns sein muss. Das will ich gar nicht.«

»Ich will das auch nicht, mein Schatz.«

»Mama?« Emma kuschelte sich an mich. »Muss Momo jetzt sterben und zu Gott ziehen?«

Ich weiß noch ganz genau, wie sehr mich diese Frage schockierte. Ein vierjähriges Mädchen sollte sich darüber keine Gedanken machen. Ich wusste nicht einmal, dass sie das Wort »sterben« überhaupt bewusst kannte.

»Ich hoffe nicht«, gab ich zur Antwort. »Ich hoffe nicht. Momo ist ein starker Mensch, die Ritter in seinem Blut sind es auch. Wir hoffen einfach darauf, dass es ihm bald besser geht, okay?«

Emma war zufrieden damit und widmete sich ihren Einhörnern, die sie bis heute liebt. Manchmal wünschte ich mir, eine Fee zu sein, um in der Fantasiewelt unserer Tochter leben zu können. Dort gibt es nur Zuckerwattewolken, Bäume mit saftig-grünen Kronen, Feen mit Glitzerflügeln und viele Einhörner.

»Ab und zu kommen auch schöne, riesengroße Regenbögen«, erzählte Emma. An deren Ende stehe immer ein großer Topf mit Karamell-Eis. Traumhaft musste es dort sein.

Am Abend lasen wir eine Gute-Nacht-Geschichte, mit Einhörnern versteht sich. Die Einhornbändigerin schlief friedlich ein, und ich tat dann das, was ich die letzten Abende und Nächte bereits getan hatte: Ich informierte mich. Über Kunibert, dessen Auswirkungen und Behandlungsmöglichkeiten. Ich las von Studien, lernte schnell die wichtigsten Fachwörter und Blutbildwerte. Oft suchte ich nach Telefonnummern, um mich weiter beraten zu lassen.

Am nächsten Morgen brachte ich unsere Tochter in den Kindergarten, um danach selbst zum Arzt zu fahren, schwanger war ich ja auch noch. Danach ging es weiter zu Simon.

Rock den Himmel, mein Held

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