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Heimkehr

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Als ich auf dem Klinikgelände ankam, wartete Simon in seinem Rolli bereits unten am Eingang. Als er mich sah, legte er seine Hände auf die Armlehnen und drückte sich in die Höhe. Ich sah die Muskeln von Weitem zucken. Und dann stand er da, er stand; einfach so. Es war ein Sieg für ihn, er stand auf seinen eigenen Beinen und lächelte mich stolz und gleichzeitig so unendlich liebevoll an. Mein Held. Das Fotolächeln war zurück. Zwei Schritte kam er mir entgegen. Ich hatte schon lange nicht mehr so eine Gänsehaut wie in diesem Moment. Es war unglaublich. Es war gigantisch. Es war heldenhaft.

Wir umarmten und begrüßten uns, dann erzählte ich von dem Gespräch mit Emma und überreichte ihm die Glitzerdose. Simons Blick war ähnlich gerührt wie meiner am Vortag. Dann zeigte ich ihm die neuen Ultraschallbilder unseres Sohnes.

»Ich habe auch etwas Tolles für dich«, sagte Simon, nachdem er den kleinen Batman minutenlang angehimmelt hatte. »Die Chemo zeigt Wirkung!«

Der erste Zyklus war inzwischen fast abgeschlossen, und Kunibert wurde tatsächlich etwas müder und die Anzahl der Krebszellen hatte sich verringert. Großartige Nachrichten.

Während der nächsten Tage und Wochen pendelte ich zwischen Klinik, zu Hause, Kita und Spielplatz hin und her. Simon wurde mit der Zeit mobiler, er konnte wieder laufen und die Schmerzen ließen nach. Nach vier Wochen durfte er die Klinik verlassen. Mit Stolz in den Augen und ganz viel Mut im Herzen traten wir den Weg nach Hause an.

Emma hüpfte ihm entgegen, zeigte Simon ihre neusten Tänze, malte Bilder und sang die ganze Zeit. Sie bewunderte seine Rüstung und wollte ebenfalls eine haben. Hinten hängte sie ihm ein Tuch hinein, damit er ein Ritter mit Superheldenumhang war. Ich half ihr dabei, sich einen Gürtel um die Brust zu legen, in den sie ein zweites Tuch steckte. Beide Ritterhelden hielten ihr Holzschwert in die Luft und Emma rief: »Weg mit dir, Kunibert!«

In den nächsten zwei Wochen machte ich mit unserer Tochter viele Ausflüge, weil ich das Gefühl hatte, dass uns zu Hause die Decke auf den Kopf falle. Wir gingen in den Zoo, ins Schwimmbad und das erste Mal ins Kino. Simon schickten wir Fotos, weil er oft nicht mitkommen konnte – die Chemo hatte ihn zu sehr erschöpft.

Noch immer gab es zwei Wohnungen, doch war Simon nach der Zeit im Krankenhaus nur noch bei uns, trotz des Aufstiegs in den dritten Stock eines Altbauhauses. Manchmal fuhr er mit Freunden oder seiner Familie in seine eigene Wohnung, um ein paar wichtige Dinge zu holen. Aus einem Fach in meinem Kleiderschrank wurde eine neue Kommode, später ein neuer Kleiderschrank. In meiner Wohnung lagen plötzlich Star-Wars-Bücher, gesammelte Kassenzettel und Brillenputztücher. Das war schön und genau richtig so. Simons Sachen wurden immer mehr, und als seine Wohnung bereits fast leer sein musste, beschlossen wir, dass wir genauso gut komplett zusammenziehen konnten. Einen Tag später kündigte Simon seine Wohnung und wir wohnten plötzlich zusammen. Jeden Morgen wachten wir nebeneinander auf, jede Nacht schliefen wir im selben Bett. Keiner von uns wusste, warum wir das nicht schon viel früher gemacht hatten.

Morgens war ich oft die Erste, die aufstand. Ich stolperte über Simon, der noch friedlich schlummerte, regelmäßig auch über Emma, die sich an unseren Helden kuschelte, den sie inzwischen immer häufiger Papa nannte. Ich bereitete das Frühstück vor und kam auf dem Weg zur Küche immer an einem Spiegel vorbei. Jeden Morgen erschrak ich über meinen großen Bauch.

Es war inzwischen August, der zweite Chemozyklus war fast abgeschlossen. Wenn unsere Tochter in der Kita war, begleitete ich Simon zu Arztterminen und Therapien. In diesem ganzen Gewusel vergaß ich fast täglich, dass ich schwanger war. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich die Bauchzeit von unserem Sohn so verdrängte.

Im September oder Oktober stand Simon seine Hochdosis-Chemo bevor, und ich fürchtete mich davor. Mir war nicht klar, ob er bei der Geburt dabei sein konnte, ob er seinen Sohn vor dem langem Klinikaufenthalt kennenlernen durfte. Ich wollte nicht schwanger sein, ich freute mich nicht auf das Baby; irgendwie schon, aber irgendwie auch nicht. Bis heute habe ich deshalb ein unheimlich schlechtes Gewissen. Leo konnte doch nichts für die Welt, in die er geboren werden sollte.

Eines Tages musste Simon erneut in die Klinik, weil er Fieber bekommen hatte. Fieber und Chemotherapie vertragen sich nicht. Wir telefonierten oft, ich besuchte ihn, wir vermissten uns, unser altes Leben und ein Leben, wie es hätte sein können. An manchen Morgen wollte ich nicht aufstehen. Dann kam Emma in mein Bett gekrochen, erinnerte mich daran, dass die Sonne trotz allem jeden Tag wieder aufging. Wir kitzelten uns wach, tranken Kakao im Bett und kleckerten selbstverständlich jedes Mal dabei. Wir schmiedeten Pläne, was wir alles tun würden, wenn es endlich Wochenende war. Emma freute sich immer mehr darauf, bald eine große Schwester zu sein und den Kinderwagen schieben zu können. Und plötzlich war das Aufstehen gar nicht mehr so schwer.

Nach einer Woche durfte Simon die Klinik verlassen. Wir machten einen Termin in einem anderen Krankenhaus aus, in dem ich Leo auf die Welt helfen wollte. Wir entschieden uns für einen geplanten Kaiserschnitt, weil wir dann den Geburtstermin so eintakten konnten, dass er in den Chemotherapieplan passte. Das erhöhte die Wahrscheinlichkeit, dass unser Held bei der Geburt dabei sein konnte. Ich wollte unbedingt, dass Simon seinen Sohn vor der geplanten Hochdosistherapie im Isolationszimmer kennenlernen durfte, denn wir konnten nicht abschätzen, wie gut er die Behandlung meistern würde, wie lange er in der Klinik bleiben musste oder ob er sich gar eine Infektion zuzog. Deshalb war es mir so wichtig, dass sich die zwei wichtigsten Männer in meinem Leben vorher kennenlernten. Außerdem sollte Simon etwas im Arm halten, das ihm zeigte, wofür es sich zu kämpfen lohnte. Da war nicht mehr nur ein Kind, sondern zwei. Unser Held sollte fühlen, dass er Unterstützung hatte, bald sogar männliche. Der Arzt konnte unseren Wunsch nachvollziehen und stimmte dem geplanten Kaiserschnitt zu. Der Termin wurde auf den 12. September 2012 gelegt.

Zwei Wochen vor der Geburt musste unser Held erneut in die Klinik: Fieber. Als es ihm besser ging, entnahmen ihm die Ärzte Stammzellen, die er sich nach der Hochdosis-Chemo selbst spenden konnte. Das war nötig, da die Chemo das ganze blutbildende System lahmlegen und das Immunsystem auf fast null setzen würde. Damit Simons Körper nach der Behandlung wieder anfangen konnte, selbstständig Blut zu produzieren, und damit auch das Immunsystem neu aktiviert würde, bedurfte es der Stammzellen.

Fünf Tage vor Leos Geburt wurde Simon aus der Klinik entlassen. Ihm ging es recht gut, sodass wir die Tage genießen konnten und guter Hoffnung waren, dass unser Held tatsächlich bei der Geburt dabei sein würde. Wir stellten die letzten Babymöbel auf, sortierten die Wäsche ein und packten den Kinderwagen aus.

Trotzdem; es war alles so surreal. Simons Haare fingen an auszufallen, zuerst veränderten sie ihre Struktur, und plötzlich lag morgens ein Büschel Haare auf dem Kissen. Unsere Tochter freute sich darüber, da sie ja wusste, dass das ein Zeichen für die gute Arbeit der Ritter im Heldenblut war. Simon beschloss, sich die Haare abzurasieren. Emma schaute ihm fast schon andächtig dabei zu und durfte helfen. Danach streichelte sie immer wieder Simons Kopf und sagte: »Das fühlt sich schön an, Papa.«

Einen Tag vor der Geburt wurde es gruselig in meinem Kopf. Morgen sollte ich das zweite Mal Mama werden; von einem entsprechenden Muttergefühl fühlte ich mich jedoch Lichtjahre entfernt. Dass Simon Krebs hatte, war inzwischen bei mir angekommen. Dass dieser Krebs unheilbar war, auch. Aber die Tatsache, dass ich irgendwann alleinerziehend mit zwei Kindern sein würde, nicht. Das konnte einfach nicht sein. Anstatt mich auf morgen zu freuen, weinte ich. Die ganze Nacht lang.

Am nächsten Morgen fuhren wir mit dem Taxi in die Klinik, diesmal war ich es, die aufgenommen wurde. Familienzimmer sei Dank musste unser Held am Abend aber nicht gehen, sondern konnte bei uns bleiben. Emma hatten wir in der Obhut ihrer Taufpatin gelassen.

Irgendwann kam ich in den Kreißsaal, bekam meine Spinalanästhesie und spürte unterhalb meines Bauchnabels nichts mehr. Ich zitterte. Ich konnte nicht aufhören. Geheult habe ich auch. Simon durfte hinzukommen und sich an das Kopfende meines Bettes setzen. Er war so nervös, fast schon niedlich. Wir schauten uns an und trotz Mundschutz konnte ich erkennen, dass er lächelte. Seine Augen leuchteten dann immer so schön, dass sich das Licht darin zu brechen schien. Das Fotolächeln.

Es dauerte nur wenige Minuten, bis ich »Herzlichen Glückwunsch« hörte. Unser Sohn schrie im ersten Moment nicht, stattdessen pinkelte er, noch nicht einmal abgenabelt, der Ärztin ins Gesicht. Erst dann schrie er, Simon durfte die Nabelschnur durchschneiden und wich ihm fortan nicht mehr von der Seite. In ein dickes Handtuch gemummelt, zeigte er mir unseren Sohn. Leo hatte dichte schwarze Haare, offene Augen und die gleiche Stupsnase wie sein Papa. Und auch wenn er noch knautschig aussah, war er bereits ein optischer Klon von Simon. Unglaublich.

Kurze Zeit später lag Leo in meinem Arm. Und ich fragte mich die ganze Zeit, wo dieses Baby so plötzlich hergekommen war. Mein Hirn wusste natürlich, dass ich bis vor zehn Minuten noch schwanger gewesen war, dass ich das kleine Wesen dort gerade geboren hatte. Mein Bauch jedoch wunderte sich, woher es mit einem Mal aufgetaucht war. Ich guckte unseren Sohn an und konnte mir absolut nicht vorstellen, dass dieses Baby unseres war. Bis heute tut mir es unheimlich leid, dass ich Leo in den ersten Wochen nicht das geben konnte, was er hätte bekommen sollen.

Am Tag nach der Geburt ging es Simon plötzlich schlecht. Schüttelfrost, Übelkeit und Kopfschmerzen. Er musste selbst in die Klinik und hatte ein schrecklich schlechtes Gewissen. Ich redete es ihm aus und verwies darauf, dass ich gut betreut werde und nicht allein sei. Mit hängenden Schultern verließ unser Held das Familienzimmer, um in eine andere Klinik zu fahren.

Leo und ich verließen »unser« Krankenhaus am dritten Tag nach der Geburt. Auf dem Weg nach Hause machten wir einen Zwischenstopp bei Simon. Unter meiner Jacke schmuggelte ich unseren Sohn auf die onkologische Station. Wegen der Infektionsgefahr sind Kinder im Isolierbereich, in dem Simon lag, eigentlich nicht erlaubt, aber eine liebenswerte Krankenschwester drückte beide Augen zu und gestatte uns fünf Minuten. Danke dir, du gute Seele!

Simon hielt seinen Sohn auf dem Arm. Und da war es wieder: Die müden Augen wurden größer und leuchteten so schön. Damit mein Held auch weiterhin sein Papaglück genießen konnte, schickte ich ihm unzählige Fotos auf sein Handy und rief ihn an, wenn Leo brüllte. So hörte Simon sowohl das Babyschreien als auch die Geräusche, die unser Sohn im Anschluss beim Trinken machte. Mehr Nähe im Wochenbett ging nicht, aber es war besser als nichts und gab Simon positive Energie.

Wir anderen verbrachten die ersten drei Wochen zu Hause. Die Einhornbändigerin war eine stolze, große Schwester, die überall mit ihrem Bruder angab. Beide Kinder schliefen in meinem Bett, ich meistens auf der Kante. Wenn ich Simon besuchen wollte, kam jedes Mal irgendjemand mit, der Leo übers Klinikgelände schob, während ich beim Helden im Zimmer saß. Wenn Leo Hunger bekam, stillte ich ihn. Ich versorgte unseren Sohn, wusch ihn und wiegte ihn in den Schlaf. Manche Nächte verbrachten wir zu zweit auf dem beigefarbenen Ledersofa, weil er Bauchweh hatte und nicht schlafen konnte. Ich kümmerte mich, zu mehr aber fühlte ich mich nicht in der Lage.

Eines Morgens wachte ich auf. Rechts neben mir sah ich einen Fuß mit der Schuhgröße 28. Links neben mir gluckste ein Baby, welches plötzlich eine Gefühlswelle in mir auslöste, mit der ich so nicht gerechnet hatte. Ich sah Leo an, ganz lange. Irgendwann bewegte sich der Fuß auf der anderen Seite und Emma kroch unter der Decker hervor und kuschelte sich erst an mich, dann an ihren Bruder. Ich beobachtete die beiden Kinder und verspürte mit einem Mal ein Gefühl der absoluten Dankbarkeit. Dankbarkeit für zwei wunderschöne Kinder. Dankbarkeit, weil ich ihre Mama sein durfte. Mir wurde warm, mein Bauch kribbelte. Es war ein angenehmes Kribbeln, ein verliebtes. Die Sonne schien in unser Schlafzimmer, und mir wurde bewusst, dass ich mich soeben in unseren Sohn verliebt hatte. Endlich.

Rückblickend weiß ich, dass ich vermutlich gemeine Wochenbettdepressionen hatte, es jedoch nicht ernst genommen habe. Ich bin so dankbar, dass es diesen magischen Morgen gegeben hat. Ein Morgen, an dem ich plötzlich wieder ich selbst war.

Rock den Himmel, mein Held

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