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Genau drei Monate vor meinem dreißigsten Geburtstag rief mich Constanze, meine beste Freundin, an.

»Hihi, in einem Vierteljahr hast du Schachtelfest«, kicherte sie durch den Hörer.

Constanze kommt aus Sachsen und verfügt deshalb nicht nur über die Fähigkeit, Kaffee in atemberaubenden Mengen zu trinken, sondern außerdem noch über einen unglaublichen Fundus an sächsischen Sprichwörtern und Bräuchen.

»Was ist ein Schachtelfest?«, fragte ich ergeben.

»In Sochsn, wo die hibbschen Määdschn offn Boim wochsn, nennt man den dreißigsten Geburtstag einer Frau liebevoll Schachtelfest. Denn dann darf sie sich stolz zu den alten Schachteln zählen.«

»Mein Gott, was seid ihr doch für ein grausamer Menschenschlag! Wo bleibt denn da die sächsische Gemütlichkeit?«

»Wart’s ab, die kommt natürlich noch. Eine ältere Freundin muss dir nämlich an diesem Tag dreißig Schachteln mit all den netten Dingen schenken, die man im Alter so braucht: Haarnetze, Augenfaltencreme, Cellulitegel, Dörrobst, Hämorridensalbe, Stützstrümpfe ... «

»Schon gut, hör auf«, fiel ich Constanze deprimiert ins Wort. »Zum Glück habe ich ja keine ältere Freundin aus Sachsen.«

»Doch, mich!«, triumphierte Constanze.

»Nein! Nicht mehr! Du hast dich vor genau zwei Minuten mit der Erwähnung des Schachtelfestes selbst von meiner besten Freundin zu meiner Lieblingsfeindin befördert. Also spar dir die Nummer mit den Stützstrümpfen!«

»Wie uneinsichtig! Ihr hessischen Mädels habt wohl außer dem festen Glauben, dass ihr alle angepasste Individualistinnen seid, auch die ewige Jugend und Schönheit gepachtet? Als einzig wahre Freundin möchte ich dir nur mitteilen, dass auch deine Oberarme schon mal straffere Zeiten gesehen haben! So! Und überhaupt – von wegen grausamer Menschenschlag! Weißt du eigentlich, dass deine liebe hessische Schwiegermutter, die ich neulich bei der Schnäppchenjagd im Kaufhaus getroffen habe, erzählt hat, wie froh sie ist, dass du jetzt endlich ›dein Bergfest‹ feierst? Ab dreißig geht es nämlich bergab, meine Liebe. Und deine Schwiegermutter setzt darauf, dass schließlich auch du zur Vernunft, das heißt, zu Käsekuchen und Kindern, kommst. So etwas nenne ich wahre seelische Grausamkeit. Sieh dich nur vor.«

Constanze schickte ein spöttisches Lachen durch die Leitung und kam dann endlich zum eigentlichen Grund ihres Anrufs, nämlich der Frage, ob sie sich die Haare im Farbton »Schwarze Kirsche« oder besser in der Nuance »Wilde Pflaume« tönen sollte. Wir diskutierten eine Weile über den Zusammenhang zwischen Haarfarben und dreißigsten Geburtstagen, dann legten wir auf.

Bergfest! Das war ja wohl wirklich das Letzte! Ich hatte schon immer geahnt, dass mich meine Schwiegermutter nicht ausstehen konnte.

Trotzdem kam ich langsam ins Grübeln. Der dreißigste Geburtstag war tatsächlich ein wichtiger Einschnitt. Bis zu diesem Datum sollte man wissen, was man wollte, sollte seine Ziele gesteckt haben und mit festen Schritten darauf losgehen. Und ich? Was hatte ich? Einen langweiligen Job, bei dem ich mich unterfordert fühlte, einen Alltag, der den ethischen und moralischen Wertvorstellungen von etwa 70 Millionen Bundesbürgern entsprach, und eine mittelmäßige Ehe ohne besondere Höhen und Tiefen.

Unser Bund fürs Leben war vor zwei Jahren überhaupt nur als Spätfolge einer langjährigen, vorehelichen Beziehung geschlossen worden. All unsere Freunde hatten sich zu dieser Zeit bereits goldene Ringe angesteckt oder steckten mitten in den Vorbereitungen zu ihren Hochzeitsfeierlichkeiten.

Für Stephan und mich blieb als logische Konsequenz nur die Entscheidung zwischen Standesamt oder Auflösung der vorehelichen Gemeinschaft. Da keine stichhaltigen Gründe für eine Trennung vorlagen, heirateten wir schließlich.

Doch mit dem sagenumwobenen glücklichsten Tag im Leben einer Frau ging meine Biografie als Individuum trotz des beibehaltenen Mädchennamens zu Ende. Von jetzt an gab es kein »Ich« mehr, sondern nur noch ein »Wir«. Schluss mit den Träumen, Spinnereien, Fantastereien und Kapriolen. Jetzt begann der Ernst des Lebens.

Werden wir zusammen bleiben, bis dass der Tod uns scheidet? Oder wird es das Familiengericht tun? fragte ich mich, als ich endlich im weißen Kleid der Unschuld vor dem Altar stand und wenig später tapfer lächelnd einen bereits angezahlten Bausparvertrag, das Hochzeitsgeschenk meiner Schwiegereltern, in Empfang nahm. Doch da mir als Alternative zu Bausparvertrag, Schrankwand und Stephans Computerfirma nur noch alternative Wohngemeinschaften mit Spülplan einfielen, schickte ich mich in das, was meine älteren Kolleginnen seufzend »das Schicksal der Frau« nannten.

Ich ging also weiter jeden Morgen zur Arbeit in das Kaufhaus, bei dem ich als Schaufensterdekorateurin angestellt war. Die kreative Herausforderung meines Jobs bestand im Wesentlichen darin, alljährlich Mitte November mehrere Plastikweihnachtsmänner aus dem Lager zu holen und in die Schaufenster zu schieben und sie nach dem Fest wieder im Lager zu verstauen.

Allmählich verblasste der Reiz des neuen Status als verheiratete – und also in den Augen der meisten Freundinnen und Kolleginnen vollständig Frau. Die wohl witzig gemeinten Fragen, ob ich denn schon Appetit auf saure Gurken mit Schlagsahne hätte, nahmen ab. Der Alltag, der sich in nichts von dem vorehelichen unterschied, kam grausam zuverlässig zurück und mit ihm die Frage, ob das nun wirklich schon alles gewesen war. Hatte ich am Anfang noch geglaubt, meine Eheschließung würde irgendetwas an meinem Leben ändern, es aufregender, inhaltsvoller machen, so musste ich heute, nach erst zwei mageren Ehejahren, feststellen, dass ich genau dort gelandet war, wo ich nie hingewollt hatte. Ich war jetzt auch eine von denen, die alles geregelt hatten: geregelte Familienverhältnisse, geregelten Sex, geregelte Altersversorgung, geregelte sechs Wochen Urlaub im Jahr und 52 Wochen Langeweile.

Aber wollte ich das eigentlich? Hatte ich nicht einmal mehr vorgehabt? Wo waren meine Träume geblieben? Hatte ich überhaupt noch welche? Oder sollte mein Leben in den nächsten dreißig Jahren genauso verlaufen wie bisher, unterbrochen nur vom jährlichen Sommerschlussverkauf und dem Erziehungsurlaub für den heiß ersehnten Nachwuchs? Ich wusste, wenn ich Lust dazu hätte, könnte ich mir schon heute beinahe auf den Pfennig genau ausrechnen, wie viel Rente ich später einmal bekommen würde. Das erschreckte mich. Ich wollte es gar nicht wissen, noch nicht einmal daran denken.

Einige Tage nach meinem Telefonat mit Constanze fand im Kaufhaus unsere wöchentliche Abteilungsbesprechung statt. Herr Klein, der Chef, saß mit einer riesigen Liste vor sich am Kopfende unseres langen Arbeitstisches und überblickte unzufrieden sein »kreatives Gestaltungsteam«, wie er uns gern vor den Kunden und der Geschäftsleitung bezeichnete.

Mäßig interessiert schauten wir sechs Schaufensterdekorateurinnen zurück, links und rechts umrahmt von zwei Azubis, und bemühten uns, ein Gähnen zu unterdrücken. Frau Koch, mit 58 Lebens- und 32 Kaufhausjahren die Älteste im Team, packte ihr Strickzeug aus und ließ fröhlich die Nadeln klappern. Irritiert sah Herr Klein auf und stach mit seinem Zeigefinger strafend in Richtung himmelblaue Wolle. »Was soll das denn werden?«, fragte er anklagend.

»Ein Jäckchen für meinen Enkel. Hübsch, nicht? In drei Dienstbesprechungen bin ich fertig, denke ich«, antwortete Frau Koch ungerührt. Herr Klein schluckte tapfer eine Bemerkung hinunter und raschelte drohend mit seinen Listen. Frau Koch grinste. Sie konnte es sich leisten, schließlich hatte sie hier schon gestrickt, als Herr Klein noch im niedlichen Matrosenanzug seine liebe Mama beim Einkauf von praktischen Schürzenkleidern begleitet hatte. Und sie ließ sich keine Gelegenheit entgehen, ihn daran zu erinnern. Auch in gestalterischen Streitgesprächen mit Erika Koch belegte Herr Klein regelmäßig nur den zweiten Platz. »Innovative Werbeleitlinien zur Steigerung der Umsatzzahlen und Imageförderung unter besonderer Berücksichtigung der Corporate Identity, wenn ich das schon höre«, hatte sie einmal gemeckert, als Herr Klein ihre Gestaltungsvorschläge, denen sie seit 32 Jahren konsequent die Treue hielt, als stockkonservativ und spießig zu bezeichnen wagte. »Wenn Sie so aufs Image bedacht sind, dann heiraten Sie doch die Tochter vom Inhaber, das hebt ungemein und erhöht Ihren persönlichen Warenwert. Aber lassen Sie mich mit Ihrem modischen Firlefanz in Ruhe! Sie sind nicht der Erste, der hier mit neuen Schlagworten alte Methoden aufpolieren will. Wir sind einfache Handwerker mit Tradition und das bleiben wir, auch wenn Sie uns noch so oft als kreative Konsumdesigner verkaufen wollen. Basta!«

Seitdem herrschte zwischen der Dienstältesten und dem Chef der Gestaltertruppe ein geheimes Waffenstillstandsabkommen. Frau Koch tat weiter, was sie seit 32 Jahren für richtig hielt, und Herr Klein ließ sie gewähren, damit sie nur ja ihre Klappe hielt, der er absolut nicht gewachsen war und die ihn womöglich noch bei den richtigen Leuten in einem völlig falschen Licht zeigte.

»Hm, hm«, räusperte er sich nun vernehmlich. »Meine Damen, wir haben ein ernsthaftes Problem. In vier Wochen, also Anfang Mai, beginnen wir mit der Dekoration der neuen Sommerkollektion. Allerdings sind die Farben der kommenden Saison ganz neu, sodass wir nicht auf unsere Vorjahresentwürfe zurückgreifen können. Die Konkurrenz, habe ich läuten hören, plant eine aggressive Werbelinie, ähnlich der in den Frauenzeitschriften. Unserer Stammkundschaft, die sich ja vorwiegend aus reiferen Kundinnen der mittleren bis gehobenen Einkommensschicht rekrutiert, können wir selbstverständlich nicht die gängige Müllkultur im Aussteigerlook präsentieren. Das sind wir dem guten Ruf des Hauses schuldig. Was wir brauchen, sind ganz neue Ideen, die das Traditionelle mit dem Zeitgemäßen geschickt verbinden und dadurch klassische Synergieeffekte erzeugen.«

Herr Klein ließ das Blatt sinken, von dem er seine kleine Rede abgelesen hatte, und sah prüfend in die Runde. »Können Sie mir folgen?«, fragte er.

»Klar!«, antwortete Erika Koch, ohne die Stricknadeln aus den Augen zu lassen. »Wir sollen die grässlichen suizidgrauen und wasserleichenlila Fummel so in die Schaufenster hängen, dass die Kundinnen denken, sie seien diamantensilbern und morgendämmerungsviolett, klassischelegant und topmodisch zugleich.«

»Äh ja, so ähnlich«, stimmte Herr Klein der populärwissenschaftlichen Auslegung seines Fachreferates zu. »Ich schlage vor, dass sich Ute mal um die Entwürfe für die Präsentation der Damen- und Herrenoberbekleidung kümmert, Frau Krause-Schmalspur übernimmt die gesamte Wäsche einschließlich Tischdecken und Dessous, die Azubis machen die Kinder – was gibt’s denn da zu kichern, meine Damen? –, Frau Koch widmet sich in bewährter Weise den Kochtöpfen und die anderen befassen sich mit dem Rest. Hat noch jemand Fragen zu dem neuen Konzept?«

Stumm schüttelten wir die Köpfe.

»Also dann, gutes Gelingen«, motivierte Herr Klein »sein kreatives Gestaltungsteam« und verschwand in Richtung Geschäftsleitung.

Ich schickte einen heimlichen Stoßseufzer zum Himmel. Immer dasselbe! Viermal im Jahr, pünktlich zum Wechsel der Jahreszeiten, erfolgte die »Erarbeitung einer neuen Gestaltungsrichtlinie«, die sich nur im Detail von ihrer Vorgängerin unterschied, dann alle zwei Wochen die Neugestaltung der Schaufenster mit Dekorationsartikeln, die in Kürze ihr 100-jähriges Firmenjubiläum feierten, und täglich Präsentation und Dekoration der neuen Ware nach altbewährtem Muster in den einzelnen Verkaufsabteilungen. Kreativ waren eigentlich nur die Bezeichnungen, die sich Herr Klein immer wieder neu für unsere Abteilung ausdachte. Der derzeitige Titelfavorit für uns Dekorateure lautete »Art-Crew«, wobei Frau Koch unterstellte, dass das »Art« für artig stand.

Du lieber Himmel, wenn ich daran dachte, was ich noch während der Lehrzeit für Vorstellungen von meinem Job hatte! Die Ideen schwirrten damals wie Ameisen in meinem Kopf umher und ich brannte darauf, sie sobald wie möglich in die Praxis umzusetzen. Und jetzt? Jetzt unterschied sich meine Tätigkeit in ihrem Kreativitätsgehalt nur unwesentlich von der einer Fließbandarbeiterin.

Aber eigentlich war ich doch selbst schuld. Der Mensch wächst mit seinen Aufgaben. Und wenn einem niemand die richtigen Aufgaben stellt, dann muss man sie sich halt selbst suchen. So! Ich ging in die Abteilung »Sei schlau – Lektüre für die Frau«, lieh mir auf der Suche nach einer genialen Idee einen Stapel Frauenzeitschriften aus und setzte mich an den langen Arbeitstisch im Deko-Atelier. Stundenlang blätterte ich die Hochglanzillustrierten durch, mit dem Ergebnis, dass ich immer deprimierter wurde. Die geniale Idee fand ich selbstredend nicht, dafür unzählige Tipps zur Bekämpfung von Urlaubspfunden, für das aufregendste Abend-Make-up der Saison und die kreativsten Nudelsalate. Ich ließ meine Gedanken schweifen, kämpfte mich durch diverse Psychotests und erfuhr, dass ich fantasielos, neidisch und viel zu wenig selbstbewusst war. Am schlimmsten aber trafen mich die Reportagen und Dossiers zum Thema »Lebenshilfe – leicht gemacht«. Bei meiner derzeitigen Unzufriedenheit lechzte meine gebeutelte Psyche geradezu nach Beiträgen unter der Headline »Wie gestalte ich mein Leben erfüllt und zufrieden« und »Selbstbewusst und zielgerichtet zum Erfolg«. Ich vergaß, dass ich mir diese Zeitschriften eigentlich ausgeliehen hatte, um meinem Job als Schaufensterdekorateurin nachzugehen, und verschlang Zeile um Zeile in der Hoffnung, hier und jetzt endlich zu erfahren, woran es mir mangelte. Als Antwort erhielt ich lediglich die banale Mitteilung: Denken Sie positiv und erhöhen Sie Ihre persönliche Ausstrahlung, dann reißen sich auch die Männer um Sie und Sie landen endlich dort, wo Sie sowieso hingehören – nämlich in verführerischen Dessous und mit fitnessgestähltem Körper nach einem anstrengenden und erfolgreichen Karrierealltag in Ihre kreative Versuchsküche im Landhausstil. Wütend knallte ich die so genannte Frauenpresse auf den Tisch. Es war nicht zu fassen! Da nannten sich Illustrierte »Magazin für die Frau« und das Einzige, was sie taten, war, den Frauen dusselige Ratschläge zu erteilen, die allein den Männern Vorteile boten. Ja, was sagte denn Alice Schwarzer dazu? Und die Frauenbeauftragte der Bundesregierung? Wo blieben Katja Riemann und Gaby Köster? Und all die anderen, die noch mehr vom Leben wollten als eine Einbauküche, Karriere und ein Baby? Kein Wunder, dass die Stadt voll war von Frauen mit verkniffenen Mundwinkeln und Selbstmordabsichten, wenn alle Medien sich einig waren, dass eine engagierte Lehrerin zwar löblich, aber mit der falschen Rocklänge und 300 Gramm Übergewicht absolut »out« war. Kein Wunder, dass eine Akademikerin mit 32 Jahren unter Minderwertigkeitskomplexen litt, weil sie zwar in der Lage war, mit Anwaltsrobe und Aktenkoffer auch die schwersten Jungs an die Kandare zu nehmen, aber ihr Celluliteproblem noch immer nicht im Griff hatte. Ich hasste sie alle, diese so genannten Frauenzeitschriften, die in Wirklichkeit die größten Feindinnen und schlimmsten Ratgeberinnen waren. Die uns im Glauben ließen, auch wir könnten perfekt sein, wenn wir nur die richtigen Klamotten bei den richtigen Anlässen tragen würden, wenn wir statt Goethes »Faust« die Kalorientabelle noch im Schlaf fehlerlos runterleiern könnten und bei passender Gelegenheit auch mal einen One-Night-Stand riskierten. Ich war wütend, und wenn ich wütend war, kamen mir oft die besten Ideen.

Doch zunächst einmal begriff ich, dass ich bisher mit meinen Dekorationen in der Abteilung Damenoberbekleidung genau das getan hatte, was ich eben in den Frauenzeitschriften als so frauen-unsolidarisch empfunden hatte. Na klar, ich war nicht besser als die Weibergazetten! Auch ich hatte mit meinen Gestaltungen alles dafür getan, der armen Durchschnittsfrau von heute einzureden, sie sei nur begehrenswert, attraktiv, jung, dynamisch und sozial kompetent, wenn sie die neuesten Farben der Saison trug und ihre bewegungsfeindliche Rocklänge auf den Millimeter genau den Pariser Vorschriften entsprach. Wieso war mir das nicht schon früher aufgefallen? Das musste sich ändern! Und zwar ab heute!

Und plötzlich hatte ich die Überschrift für unsere Kollektion vor Augen. »Mit großen Schritten in den Sommer!«, lautete die Devise und war als Kampfansage gemeint. Meine empörten Hände flogen wie von selbst über das Papier. Ein Entwurf nach dem anderen entstand. Ich zeichnete Frauen, die kurzerhand mit der Schere einen Riesenschnitt in ihre engen grauen Kleider schnitten, damit sie wieder richtig ausschreiten konnten. Ein Mädchen in Violett ließ ich mit ihrem Blusenärmel Farbe auf eine Leinwand schmieren, selbstverständlich Ton in Ton, und eine Dritte war gerade dabei, mit dem Absatz ihrer High-heels eine Flasche Bier aufzuhebeln. Ich malte und zeichnete wie besessen und zwei Tage später war ich kurz vor Feierabend fertig. Ich legte die Entwürfe in meine Präsentationsmappe und ging zu Herrn Klein.

Dieser saß in Strümpfen da und war damit beschäftigt, seine Schuhe vom Morgenschlamm zu säubern. »Was gibt es denn, Ute?«, fragte er unwillig und kickte seine Kalbsledernen unauffällig unter den Tisch.

»Ich bringe Ihnen die Entwürfe für die Sommerkollektion«, erwiderte ich und legte ihm selbstbewusst die Mappe hin. Unlustig blätterte Herr Klein darin herum.

»Aber Ute!«, sagte er in einem Ton, als sei ich ein störrisches Kleinkind. »So geht es ja nun wirklich nicht. Wir wollen doch nicht für die Zerstörung unserer Verkaufsprodukte werben, sondern deren Eleganz und Tragekomfort anpreisen! Was haben Sie sich denn dabei gedacht?«

In kurzen Sätzen schilderte ich ihm meinen Ärger über das in allen Medien propagierte Frauenbild, das die alten Rollenklischees ganz subtil wieder aufleben ließ und die Frauen in ihrer Selbstständigkeit und Souveränität einschränkte.

Herr Klein schüttelte mitleidig den Kopf. »Haben Sie Eheprobleme, Frau Stern?«, fragte er verständnisvoll.

»Was hat denn das damit zu tun?«, wollte ich wissen.

Herr Klein seufzte tief. Jetzt war ich in seinen Augen wahrscheinlich nicht nur störrisch, sondern obendrein noch sexuell unbefriedigt oder frigide.

»Ich habe da so meine Erfahrungen«, ließ er mich wissen. »Wenn Frauen im häuslichen Bereich unzufrieden sind, wirkt sich das immer auch auf die Arbeit aus. Und Ihnen fehlt schon seit einiger Zeit der rechte Schwung.«

»Ach? Und deshalb soll ich mich jetzt wohl scheiden lassen?«

»Das habe ich nicht gesagt, liebe Ute. Aber Ihr logischer Menschenverstand wird zurzeit durch Ihre aggressive Emotionalität in Mitleidenschaft gezogen. Das hat man übrigens häufig bei Frauen in Ihrem Alter. Das legt sich mit dem ersten Kind.« Herr Koch grinste selbstgefällig. Wahrscheinlich hatte er sich mit seinem pseudopsychologischen Referat eben einmal wieder selbst beeindruckt. Ich seufzte unhörbar, dann fragte ich im Ton der Untergebenen – natürlich nur, um meine aggressive Emotionalität zu verstecken –, was ich denn jetzt tun solle.

»Ich denke, Sie sollten mit Frau Koch tauschen. Traditionelle Entwürfe mit 6oer Jahre-Touch haben wieder Hochkonjunktur. Ihre Kreativität können Sie ja bei den Kochtöpfen ausleben. Ich bin sicher, diese Entscheidung ist auch im Sinne der Geschäftsleitung«, beschied Herr Klein und wedelte ungeduldig mit der Hand, als wolle er eine Fliege verscheuchen. Damit war ich aus seinem Büro und in den Feierabend entlassen.

Die Spiegeltänzerin

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