Читать книгу Die Spiegeltänzerin - Ines Thorn - Страница 6

2.

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Ich trottete in die Freizeit und versuchte krampfhaft, die Tränen zurückzuhalten. Klein hatte mich als aggressiv bezeichnet. Er hatte Recht damit, aber auch nur damit. Ich hatte selbst schon bemerkt, dass ich in letzter Zeit bei der kleinsten Gelegenheit ausrastete oder zumindest in Tränen ausbrach. Warum? Was war nur los mit mir? Ich war noch nie depressiv gewesen. Und doch ödete mich alles an. Die Arbeit machte mir keinen Spaß mehr. Stephan ging mir auf die Nerven, meine Freundin Constanze verstand mich nicht und ich selbst konnte mich auch nicht leiden. Es gab nichts, was mir im Moment Freude machte, wozu ich Lust und Laune hatte. Und in wenigen Wochen sollten mit meinem dreißigsten Geburtstag die schönsten Jahre der Frau beginnen. Na toll! Mehr und mehr hatte ich das Gefühl, als erwarteten all meine Lieben irgendetwas von mir, das ich nicht erfüllen konnte. Doch schlimmer noch als die Erwartungen, die ich den anderen unterstellte, waren diejenigen, die ich selbst an mich stellte und denen ich in keiner Weise gerecht wurde.

Aus lauter Frust hatte ich begonnen, jeden Tag eine Tafel Krokantschokolade, meine Lieblingssorte, in mich hineinzustopfen. Wenn ich so weiter machte, war ich an meinem Geburtstag nicht nur auf einen Schlag ein Jahrzehnt älter, sondern obendrein noch zehn Kilo schwerer.

Dazu kam meine plötzliche Sentimentalität. Wie so oft in letzter Zeit saß ich auch heute zu Hause im Sessel, hörte mir die Hits meiner Jugend an und versank in Erinnerungen. Ach, wie war damals, mit 19 Jahren, die Welt noch bunt und weit! Ich wollte Präsidentin der Vereinigten Staaten werden, Rosa Luxemburg oder wenigstens die Begründerin einer neuen Kunstrichtung. Alles schien möglich und erreichbar zu sein. Das Problem bestand lediglich darin, sich für irgendetwas zu entscheiden. Dieses eine Leben, das damals noch spiegelblank vor uns lag, bot einfach zu viele Abwechslungen, Versuchungen und Möglichkeiten! Gemeinsam mit meinen Freunden träumte ich von einer Wohnkommune in Südfrankreich. Wir wollten alles ganz anders machen als unsere Eltern, wollten selbstbestimmt unsere Träume leben und niemals mit Kartoffelchips und Dosenbier auf der Wohnzimmercouch versauern. Ich sah mich schon im schwarzen Existentialistinnenlook meine überdimensionalen und bahnbrechenden Malereien auf der Kasseler documenta präsentieren. Doch noch nicht einmal die Bewerbung an der Kunstakademie hatte ich gegen den Willen meiner Eltern durchgesetzt.

»Kind, lerne lieber ein Handwerk. Das hat goldenen Boden«, hatte mein Vater gesagt. Und meine Mutter hatte ein Stoßgebet zum Himmel geschickt. »Womit haben wir das nur verdient? Eine brotlose Künstlerin, so etwas gab es in unserer Familie noch nie! Wir waren immer anständige Leute. Suche dir lieber einen richtigen Beruf und heirate einen netten Mann. Bankkauffrau wäre doch nicht schlecht. So etwas hat Zukunft.«

Die Lehre als Schauwerbegestalterin, sprich Dekorateurin, war ein Kompromiss, den ich mir nach dem Abitur schwer erkämpft hatte. Doch ganz aufgegeben hatte ich den Traum vom Malen nie. Gut, im Laufe der Zeit war er hin und wieder in Vergessenheit geraten, aber noch immer erweckte jeder Zeitungsartikel, der eine Vernissage in unserer Stadt ankündigte, mein Interesse und meinen Neid auf diejenigen, die mutiger, entschlossener und tatkräftiger waren als ich. Was nicht ist, kann ja noch werden. Für welchen Zeitraum galt dieser Satz eigentlich? Ein Zitat fiel mir ein: »Es ist egal, was man mit zwanzig macht. Wichtig ist, was mit vierzig daraus geworden ist.« Ich hatte leider vergessen, wer das gesagt hatte, aber ich ahnte, dass an dem Spruch was dran war. Und ich hatte nur noch zehn Jahre Zeit, um etwas aus mir zu machen.

Was wohl inzwischen aus den anderen geworden war? Ich erinnerte mich noch gut an Hendrik, den Pfarrerssohn, der gleich nach dem Abitur nach Israel gehen und ein Kibbuznik werden wollte. Wir hatten uns schon lange aus den Augen verloren, doch die Frage, was er inzwischen trieb, ließ mir auch in den nächsten Tagen keine Ruhe. Aber was sollte das eigentlich? Warum war ich plötzlich so scharf darauf, alte Erinnerungen zu beleben? Wollte ich hören, wie erfolgreich die anderen ihre Träume verwirklicht hatten und mich noch schlechter fühlen? Oder wollte ich lediglich die Gewissheit, dass die anderen auch nicht besser, erfolgreicher, selbstbestimmter waren als ich? Und was war, wenn wir uns überhaupt nichts mehr zu sagen hatten? Nutzte es denn irgendetwas, in der Vergangenheit zu stöbern, anstatt sich mit ganzer Kraft auf die Zukunft zu konzentrieren? Aber wo lag meine Zukunft? Vielleicht war es doch richtiger, zuerst einmal den Weg von der Vergangenheit in die Gegenwart zu reflektieren, ehe ich mich meiner Zukunft zuwandte?

Oder war das nur wieder eine Ausrede, um nicht aktiv werden zu müssen? Tagelang überlegte ich hin und her. Wenn Stephan wieder einmal mit Kollegen unterwegs oder auf dem Fußballplatz war, hörte ich die Musik meiner Jugend, blätterte in Fotoalben, trank Jasmintee, zündete Räucherstäbchen an und wurde keine Spur wissender.

Nach einer Woche rief ich schließlich doch die Auskunft an und ließ mir Hendriks Telefonnummer geben. Vielleicht half mir ja ein Gespräch mit ihm über meine Verzweiflung hinweg.

Ein bisschen aufgeregt war ich schon, als ich die Zahlen in das Telefon tippte. Mein Gott, wie lange hatten wir nichts mehr voneinander gehört! Vielleicht wusste Hendrik gar nicht mehr, wer Ute Stern war? War es nicht doch besser, schnell wieder aufzulegen? Zu spät! Eine Männerstimme fragte schon: »Ja bitte?«

Ich räusperte den Frosch, der plötzlich in meinem Hals war, die Kehle hinunter und fragte kleinlaut: »Hendrik? Bist du das? Hier ist Ute. Ute Stern.«

»Mensch, Uti, das ist ja eine Überraschung! Wie geht es dir? Was machst du?«

Vor Erleichterung darüber, dass Hendrik noch ganz genau wusste, wer ich war, kicherte ich albern in den Hörer. In wenigen Sätzen schilderte ich Hendrik dann meine letzten zehn Jahre.

»Und du? Wie ist es dir ergangen?«, fragte ich gespannt.

»Tja, was soll ich dir erzählen? Versicherungsvertreter bin ich, mit eigener Agentur sogar. Und vor drei Monaten haben wir unsere zweite Tochter bekommen. Es klappt dann zwar in diesem Jahr nicht mit dem Zweitwagen für meine Frau, denn wir haben ja auch noch die Raten für das Reihenhaus am Hals, aber im nächsten Frühjahr wird der Bausparvertrag fällig, dann sieht’s finanziell auch wieder besser aus. Man tut halt, was man kann. Und von nichts kommt nichts, sage ich immer.«

»Und Israel? Warst du jemals dort?«

»Wieso denn Israel? Wir waren letztes Jahr in der Türkei. Cluburlaub, wegen der Animation. War schön dort. Wir haben jeden Abend Bingo gespielt. Was soll ich denn in Israel?«

»Du wolltest nach dem Abitur in einem Kibbuz leben und von den Israelis lernen. Du hattest sogar vor, im Odenwald eine ähnliche Kommune aufzuziehen. Erinnerst du dich denn gar nicht mehr?«

»Ach ja, der Kibbuz, das ist lange her. Was waren wir doch damals naiv und dumm! Trotzdem, ‘ne niedliche Spinnerei. Aber wir werden ja schließlich alle mal erwachsen.«

Erwachsen? Hatte Hendrik eben erwachsen gesagt? Hieß erwachsen sein für ihn, dass man seine Träume begrub? War das noch der Hendrik, den ich vor zehn Jahren gekannt hatte? Ich konnte es kaum glauben und fragte nach.

»Hendrik, was ist denn jetzt in deinem Leben wichtig?«

»Dumme Frage, Uti. Ist doch klar: Gesundheit, finanzielle Sicherheit – man will sich ja schließlich auch mal was leisten – und Erfolg natürlich.«

»Erfolg? Auf welchem Gebiet willst du denn erfolgreich sein, wenn du deine Träume alle abgeschrieben hast? Heißt Erfolg denn für dich nicht, deine Träume Realität werden zu lassen?«

»Aber Uti! Erfolg hat doch nichts mit Träumen zu tun. Und überhaupt, Träume! Die bringen einen doch wirklich nicht weiter. Aber Erfolg! Denn wer Erfolg hat, hat Macht und mit Macht ist man ein gemachter Mann!«

Irgendwie hatte ich das Gefühl, als redeten Hendrik und ich die ganze Zeit aneinander vorbei. Mehr noch, ich hatte sogar den Eindruck, als gäbe es zwischen uns überhaupt keine Form der Verständigung mehr. Wir waren uns in den vergangenen Jahren so fremd geworden, als hätten wir uns nie gekannt. Warum und vor allem worüber sollten wir jetzt noch miteinander reden?

»Tja, Hendrik«, versuchte ich kurz darauf, das Gespräch zu beenden. »Es war nett, mal wieder was von dir gehört zu haben. Ich wünsche dir, dass es recht bald klappt mit dem Erfolg und dem Zweitwagen für deine Frau.«

»Ja, Uti, wünsche ich dir auch. So einen Zweitwagen für die Stadt, meine ich. Alles Gute und bis dann mal.«

Ich legte den Hörer auf. Eine niedliche Spinnerei waren unsere Träume heute für ihn und noch nicht mal die Spur von Bedauern hatte in seiner Stimme mitgeklungen. Hendrik hatte alles – und ganz besonders sich selbst – verraten und war sogar noch stolz darauf. Mehr noch, er hatte mir mit seinen Worten unmissverständlich deutlich gemacht, dass Träume lediglich Schäume sind und Träumer wie ich also wohl nur Schaumschläger. Vor Enttäuschung über Hendriks Spießigkeit, die mich so unerwartet und unvorbereitet getroffen hatte, traten mir die Tränen in die Augen. Wer war hier dumm und naiv? Doch wohl er, der da glaubte, mit seiner Versicherungsagentur im Vorstadtreihenhaus das wahre Glück gefunden zu haben! Wenn Erwachsensein bedeutete, dass man alle seine Träume begrub, dann wollte ich nie erwachsen werden! Oder lag es etwa an mir? War ich vielleicht die Naive, die sich einfach nicht mit den Realitäten des täglichen Lebens abfinden konnte? War ich zu nörgelig? Der Prototyp der verbitterten Hausfrau, deren wahre Bestimmung im Leben leider niemals und von niemandem bemerkt wurde? Das unerkannte Genie? Voraussetzung für Genialität war Begabung, Fleiß und Selbstdisziplin. Also, Fleiß und Selbstdisziplin konnte man gewiss durch langes Üben irgendwie erreichen. Aber hatte ich Begabungen? Gut, meine Zeichnungen waren recht ordentlich, zumindest für den Hausgebrauch, doch hätte ich wirklich das Zeug zu einer begnadeten Malerin gehabt? War mir das Malen und Zeichnen tatsächlich ein Bedürfnis gewesen oder lediglich eine Methode, um mich von den so genannten Normalbürgern und ihrem banalen Alltag abzuheben, um interessanter und aufregender zu wirken? Was an mir war nur hohler Schein, was echtes Sein? Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich die leise Ahnung, dass nicht meine Umwelt das Problem war, sondern ich selbst. Wie gut kannte ich mich eigentlich? Ich hütete mich, länger darüber nachzudenken, denn ich ahnte, dass mit diesen Überlegungen meine depressive Verstimmung eine neue Hochkonjunktur erleben würde.

Zum Glück unterbrach Stephan, der in diesem Moment nach Hause kam, meine fruchtlosen Grübeleien und brachte mich auf den Boden der Tatsachen zurück. Doch das Gespräch mit Hendrik und seine Folgen hatten mich so aufgewühlt, dass ich auf der Stelle mit Stephan darüber reden musste. Aber Stephan hatte einstweilen andere Sorgen.

»Was gibt es zum Abendbrot?«, fragte er aufgeräumt. »Hast du was gekocht?«

»Ähm, nö, noch nicht. Ich dachte, wir können mal wieder essen gehen und reden?«

»Was denn, heute? Auf gar keinen Fall. Nachher kommt das Fußballländerspiel Deutschland gegen Holland im Fernsehen. Ich habe natürlich in der Firma gewettet, dass unsere Jungs gewinnen. Haben wir wenigstens noch was für die Mikrowelle im Haus? Wir können ja auch hier beim Essen reden.«

Stephan kramte eine Dose Ravioli aus dem Schrank und erwärmte sie in der Mikrowelle. Dann setzte er sich mit Teller und Zeitung ins Wohnzimmer.

»Gibt’s irgendwas Neues?«, quetschte er zwischen zwei Raviolibröckchen hervor und heftete seinen Blick fest auf die Sportseite. Schon nach fünf Minuten Bundesligatabelle fiel ihm auf, dass ich noch nicht geantwortet hatte. Er sah auf.

»War was im Kaufhaus? Kriegst du vielleicht eine Gehaltserhöhung?«, fragte er endlich.

»Weißt du eigentlich, wann ich das letzte Mal gemalt oder gezeichnet habe?«, fragte ich zurück.

»Nö, wieso?« Forschend sah er sich im Zimmer um. »Hängt hier irgendwas Neues, das ich noch nicht bemerkt habe?«

»Stephan!«, brüllte ich entnervt und riss ihm die Zeitung weg. Vor Schreck bekleckerte er sein Kinn mit Tomatensoße.

»Seit zwei Jahren, seit unserer Hochzeit, habe ich keinen einzigen Strich mehr gemalt!«

»Na und? Stört mich nicht. Mir gefällt unsere Wohnung auch so.«

»Stephan!«, stöhnte ich mit letzter Kraft und überlegte, ob ich ihm den Teller mit den Ravioli über den Kopf stülpen sollte, damit er wenigstens etwas merkte. »Ich bin unglücklich!«

Erstaunt sah er mich an. Er hatte die Augen in völliger Verblüffung weit aufgerissen und sah damit und mit dem roten Soßenfleck am Kinn richtig rührend aus. Ich wusste, er würde mich nicht verstehen. Plötzlich überkam mich das Bedürfnis, ihm weh zu tun, ihn zu quälen. Ich wollte ihn dazu bringen nachzudenken, mir richtig zuzuhören. Er sollte merken, dass es mir tatsächlich nicht gut ging. Vielleicht störte mich in diesem Moment auch nur seine gottverdammte Unbeschwertheit und Fröhlichkeit, die er so selbstverständlich zur Schau trug, während ich doch litt! Und ich hatte das Gefühl, dass drastische Maßnahmen notwendig waren, um ihn aufzurütteln. Vielleicht sollte ich ihm tatsächlich die Ravioli ...

»Du bist unglücklich? Aber wieso denn? Fehlt dir irgendwas? Ich meine, brauchst du irgendwas? Ein neues Kleid oder so?« Er sagte das wirklich in aller Unschuld.

»Nein, das meine ich nicht.«

Resigniert ließ ich mich in den Stuhl zurückfallen. Wie konnte ich annehmen, dass Stephan verstand, was ich selbst nicht verstehen konnte?

»Was meinst du dann?«, fragte er und schaute zur Uhr. In fünf Minuten begann das Länderspiel. Er wirkte jetzt ernsthaft besorgt. Ich bemühte mich, das Gespräch kurz zu machen. Schließlich hatte er ja auf unsere Jungs aus Deutschland gesetzt.

»Ich mache mir einfach Sorgen, dass ich nicht mehr malen kann«, sagte ich und merkte, wie meine Wut beim Anblick von Stephans offensichtlicher Naivität in sich zusammensackte. Er konnte ja wirklich nichts dafür.

»Aber Ute-Schatz, das ist doch kein Problem«, ereiferte er sich auch schon sehr hilfsbereit. »Pass auf: Ich gucke jetzt Fußball und du malst. Ich störe dich garantiert nicht dabei. Das wird schon wieder, wirst sehen.«

Glücklich, dass er die ultimative Lösung für mein Problem gefunden hatte, stand er auf und schaltete mit einem erleichterten Seufzer den Fernseher ein.

Ich strich noch eine Weile in der Wohnung umher, eigentlich fest entschlossen, heute wieder mit dem Malen zu beginnen. Dann sah ich den Abwasch in der Küche und ließ Wasser einlaufen. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Anschließend näherte ich mich vorsichtig meinem Schreibtisch. Ich legte behutsam ein nagelneues weißes Blatt Papier in die Mitte und kramte nach meinen Stiften. Mein Gott, wie die aussahen. Damit konnte ich unmöglich arbeiten. Nach einer halben Stunde war ich mit dem Anspitzen fertig. Nun mussten noch die Radiergummis gereinigt und die Klammern zum Festheften des Blattes gesucht werden. Als ich fünf Minuten lang gedankenverloren vor dem weißen Papier gesessen hatte, bemerkte ich, dass ich hungrig war. Bevor ich mich wirklich in die kreative Arbeit stürzen konnte, musste ich erst einmal etwas essen, völlig klar. Denn nichts war schlimmer, als vom Hunger im Schaffensdrang gebremst zu werden. Ich machte mir den Rest von Stephans Ravioli warm. Kurz vor 22.00 Uhr war ich endlich so weit. Jetzt konnte es losgehen!

»Tor!«, brüllte da Stephan aus dem Nebenzimmer. »Knapp vor dem Schlusspfiff noch ein Tor! Die letzte Spielminute werden wir jetzt auch noch schaffen!« Vor Begeisterung darüber, dass »wir« am Gewinnen waren, lief mein Mann zu ungeahnter Lautstärke auf.

»Ruhe!«, brüllte ich zurück. »Wie soll ich mich denn bei dem Lärm konzentrieren!« In diesem Moment wurde das Spiel abgepfiffen. Na bitte, wieder nichts mit Malen und Zeichnen. Ich räumte Papier und Stifte zurück in die Schublade und ging ins Wohnzimmer.

»Na?«, fragte Stephan. »Hast du was geschafft?«

»Nicht direkt«, murmelte ich ausweichend. »Aber ein Anfang ist gemacht.«

Dann gingen wir ins Bett.

In der Nacht schlief ich schlecht. Immer wieder wachte ich auf und wälzte mich unruhig hin und her. Die Gedanken in meinem Kopf drehten sich im Kreis und wollten nicht zur Ruhe kommen. Was fehlte mir? Warum war ich so niedergeschlagen und unzufrieden?

Irgendwann stand ich auf und ging ins Badezimmer. Mir war unglaublich heiß. Ich ließ kaltes Wasser in mein Zahnputzglas laufen und stürzte es gierig hinunter. Dann legte ich meine Hände auf das kalte Porzellan des Waschbeckens und betrachtete mein Spiegelbild im Schein der Straßenlaterne. Ich sah mir in die Augen und hoffte, darin die Antwort zu entdecken. Ganz nah beugte ich mich zu meinem Spiegelbild. Und auf einmal war mir, als brauchte ich nur noch einen klitzekleinen Schritt zu tun, um zu wissen – um endlich zu wissen, wer ich war und wohin ich wollte. Meine Augen lockten, als wollten sie sagen: Hab keine Angst, komm näher, trau dich, sieh dich genau an, schau, wer du bist. Erschrocken wich ich zurück, und als ich mich erneut vorbeugte, sah ich nur noch mein bekanntes Gesicht mit den blau-grauen müden Augen, dem großen, vollen Mund und den Sommersprossen auf dem Nasenrücken.

Die Spiegeltänzerin

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