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5.

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Im November blieb zum ersten Mal meine Periode aus. Der Busen veränderte sich, spannte und die Brustwarzen verloren jede Form. Ich sagte keinem Menschen auch nur ein Wort davon, sondern wartete tapfer noch eine weitere Woche ab. Dann ging ich bangen Herzens und mit gemischten Gefühlen zu meinem Gynäkologen. Der Schwangerschaftstest zeigte, was ich erwartet hatte.

»Herzlichen Glückwunsch, Frau Stern. Sie sind in der vierten Woche schwanger. Freuen Sie sich auf das Baby?« Erwartungsvoll sah Dr. Röger mich an.

»Ja, ja schon«, stotterte ich und war verwirrt, obwohl ich damit gerechnet hatte. Bis jetzt war alles nur ein Spiel gewesen. Die Suche nach dem passenden Namen, das Sofakissen unter dem Kleid, mein plötzlich erwachtes Interesse an Babykleidung und Säuglingsspielzeug. Doch jetzt war aus dem Spiel Ernst geworden. Ich war tatsächlich schwanger. In den ersten Augusttagen des nächsten Jahres sollte das Kind zur Welt kommen. Eigentlich hätte ich mich freuen müssen. Jede Frau freut sich schließlich, wenn sie erfährt, dass sie »guter Hoffnung« ist. Aber ich hatte gehofft, dass die »gute Hoffnung« sich mit mir noch etwas Zeit lassen würde. Nun war ich schwanger und dachte schuldbewusst an die Nacht zurück, in der wir auf das Kondom verzichtet hatten. Krampfhaft bemühte ich mich um das Lächeln, welches Dr. Röger wohl an dieser Stelle von seinen Patientinnen gewohnt war und auf das er auch bei mir nicht verzichten wollte. Stattdessen wurde ich traurig, furchtbar traurig und konnte noch nicht einmal erklären, warum.

»Das kommt alles sehr überraschend«, stotterte ich hilflos und verließ nach einigen belanglosen Floskeln die Praxis.

Zu Hause setzte ich mich in einen Sessel und legte behutsam beide Hände auf meinen Bauch. Da drin war ein winziges Ding, das in acht Monaten mein Kind sein sollte. Ganz leise flüsterte ich: »Hallo?« Dann schwieg ich. Ich wusste nicht, was ich dem Embryo sagen sollte. Vielleicht: »Ich freue mich auf dich?« oder »Willkommen in meinem Bauch?« In mir kämpften verschiedene Emotionen. Einerseits konnten mir bei dem Gedanken an ein kleines Kind, das mir ein bonbonfeuchtes Küsschen auf die Wange klebte, vor Rührung die Tränen kommen. Andererseits musste ich an Miriam denken, die zwei Stunden an einem Glastisch herumschrubbte, um die Kreativitätsspuren ihrer lieben Kleinen zu beseitigen, und anschließend gesunde Möhren fürs Abendbrot raspelte. Ich weiß nicht, wie lange ich gedankenversunken im Sessel saß. Plötzlich hörte ich Stephans Schritte im Treppenhaus und gleich darauf den Schlüssel im Türschloss. Ich hatte ihm nichts vom Ausbleiben meiner Periode gesagt und wollte ihm auch heute noch nichts vom Ergebnis der gynäkologischen Untersuchung erzählen. Ich war einfach noch zu verwirrt. Zuerst musste ich mich an den Gedanken gewöhnen, schwanger zu sein, ehe ich darüber reden wollte. Außerdem erwartete man ja heutzutage von einer verheirateten Frau in meinem Alter und diesem Zustand sofort überschäumende Freude und eine gewisse Mütterlichkeit im Blick. Zu beidem war ich im Moment noch nicht fähig.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, fühlte ich mich erbärmlich. Mein Magen krampfte sich zusammen, als hätte ich mindestens fünf Kilo Sauerkraut gegessen. Mir war schlecht, so schlecht! Doch der erste Gedanke galt dem Baby. Ging es ihm gut in meinem Bauch? War ihm auch so übel? Als ich mir im Bad endlich über der Kloschüssel Erleichterung verschafft hatte, fiel mir ein, dass dieses morgendliche Erbrechen ja angeblich zu einer Schwangerschaft gehörte. Erleichtert atmete ich auf. Für einige Minuten hatte ich tatsächlich Angst um mein Baby gehabt. Doch nun war alles gut. Zufrieden ging ich in die Küche, in der es bereits nach Toast und Kaffee roch. Noch ehe ich Stephan einen guten Morgen wünschen konnte, würgte es mich wieder. Mit Mühe und Not schaffte ich den Weg zurück ins Bad. Besorgt kam Stephan mir nach.

»Was hast du?«, fragte er. »Hast du wieder zu viel Schokolade in dich hineingestopft?«

»Wenn hier einer was in mich hineingestopft hast, dann warst du das!«, brachte ich zwischen zwei Würganfällen hervor und beugte mich erneut über die Kloschüssel. In einem großen Schwall erbrach ich mich wieder.

»Iiii, wie eklig!«, stellte Stephan feinfühlig fest.

»Daran gewöhne dich besser gleich. Ich bin nämlich schwanger.«

»Schwanger? So schnell?«, fragte er völlig verwirrt.

»Schnell, schnell!«, äffte ich ihn nach. »Soweit ich mich erinnere, hast du dazu noch nicht mal fünf Minuten gebraucht.« Das war wirklich gemein von mir. Aber kann man von einer Frau, die innerhalb von zehn Minuten ihren gesamten Mageninhalt auf so unappetitliche Art und Weise von sich gibt, Rücksichtnahme und taktvolle Höflichkeit erwarten? Zum Glück hatte sich Stephan noch nicht ganz von seiner Überraschung erholt und meine boshafte Bemerkung überhört. Er war jetzt völlig aufgeregt.

»Setz dich hin!«, rief er. »Oder leg dich besser hin. Soll ich einen Arzt anrufen? Oder meine Mutter? Brauchst du ein Glas Wasser?«

»Nein. Es geht schon wieder. Im Übrigen ist das völlig normal. Alle schwangeren Frauen leiden in den ersten drei Monaten unter Übelkeit. Und lass bitte deine Mutter dort, wo sie gerade ist«, beruhigte ich ihn. Beim Anblick seiner Aufregung fühlte ich plötzlich so etwas wie Stolz in mir. Ich bekam ein Baby! Ich! Das war doch wirklich etwas ganz, ganz Eigenes, oder nicht? Und zum ersten Mal, seit ich wusste, dass ich schwanger war, durchströmte mich ein Glücksgefühl. Ich strahlte Stephan an. »Hey, du!«, flüsterte ich. »Wir bekommen ein Baby!«

Stephan bekam vor Rührung keinen Ton raus, sondern nickte nur und verschwand flugs in Richtung Küche, wahrscheinlich, weil ich seine Tränen nicht sehen sollte.

Ich putzte mir die Zähne und packte vorsichtshalber die Zahnbürste in meine große Basttasche, die ich immer mit zur Arbeit nahm. Dann ging auch ich in die Küche. Stephan umsorgte mich, als wäre ich schwer krank. Er schmierte mir eine Scheibe Toast und kochte Kamillentee. Nach dem Frühstück bot er sogar an, mich zur Arbeit zu fahren. Dankbar nahm ich an.

Als ich am Abend völlig erschöpft nach Hause kam, hatte ich noch zwölf weitere Anfälle von Übelkeit tapfer hinter mich gebracht. Allein der Geruch von irgendwelchen Speisen ließ mich krampfhaft nach der nächsten Toilette Ausschau halten. Nichts von all den Dingen, die ich zwischendurch gegessen hatte, war in meinem Magen geblieben. Wenn das so weiter ging, musste ich in drei Wochen künstlich ernährt werden.

Stephan empfing mich an der Wohnungstür mit einem riesigen Rosenstrauß. Er sah immer noch sehr gerührt aus.

»Du«, flüsterte er mir ungewohnt zärtlich ins Ohr. »Ich freue mich so. Es wird bestimmt ein Sohn.«

In diesem Moment klingelte das Telefon. »Herzlichen, herzlichen Glückwunsch, meine Liebe«, tönte die Stimme meiner Schwiegermutter durch den Hörer. »Wie wunderbar, dass es nun endlich geklappt hat! Die Babyausstattung werden wir in den nächsten Tagen natürlich zusammen einkaufen gehen. Hach, ich weiß noch genau, wie das bei mir war! Als ich mit Heike schwanger war, hatte ich immerzu Appetit auf Pflaumenmus, und bei Stephan wollte ich nur diese kleinen Tomaten essen. Ich erinnere mich auch noch ganz genau an Stephans ersten Strampler. Mein Gott, was war der niedlich, natürlich blau mit einem klitzekleinen Kapitän vorn auf dem Lätzchen. Wenn ihr am Sonntag zum Essen kommt, muss ich dir unbedingt die Fotos zeigen. Ich habe auch schon die Babysachen von meinen Kindern rausgelegt. Du wirst sie jetzt bestimmt gut gebrauchen können ...«

»Ich muss jetzt auflegen«, unterbrach ich meine Schwiegermutter unhöflich mitten im Satz. »Es hat gerade geklingelt.«

»Das wird sicher deine Oma Margarete sein«, flötete Stephans Mutter. »Grüß die zukünftige Urgroßmutter herzlich von uns, hahaha.« Ich knallte einfach den Hörer auf.

»STEPHAN!«, brüllte ich dann. »Hattest du tatsächlich nichts Besseres zu tun, als die Neuigkeit gleich an die große Glocke zu hängen und deine Mutter anzurufen? Ich fasse es nicht!«

»Wieso?«, tat mein Mann ganz unschuldig. »Ist doch kein Geheimnis. Außerdem wünscht sich meine Mutter doch schon so lange ein Enkelkind.«

»Genau! Und sie wird mir jeden einzelnen Tag meiner Schwangerschaft mit guten Ratschlägen versüßen. Sie will mir sogar eure alten Babyklamotten schenken! O mein Gott! Ich halte das nicht aus!« Verzweifelt brach ich in Tränen aus.

Stephan nahm mich tröstend in die Arme. »Sie meint es ja nur gut. Sie will doch nur unser Bestes.«

»Aber das kriegt sie nicht«, schluchzte ich. »Ach Stephan, ich will nicht acht Monate lang eure Babyfotos angucken und Malzbier trinken müssen, nur weil deine Mutter das früher so gemacht hat. Ich weiß schon genau, was passieren wird. Jedes Mal wenn ich sage: ›Mein Gott, mir ist heute so schlechte, wird sie antworten: ›Schlecht ist dir? Was meinst du, wie schlecht es mir immer ging, als ich schwanger war! Mir ging es ja überhaupt am allerschlechtesten. Und Hermann hat immer gesagt: Mein Gott, Hertha, wie geht es dir aber auch schlecht. Aber das ist nun mal das Los einer Frau.‹«

Stephan musste lachen. »Ich weiß, sie kann manchmal ganz schön nervig sein. Und wenn du nicht willst, müssen wir ja am Sonntag auch nicht zum Mittagessen hingehen.«

»Nein, nein, ist schon okay. Aber bitte, wir bleiben nicht lange. Zum Kaffeetrinken gehen wir zu Oma Margarete. Dann bleiben uns nach den Fotoalben wenigstens die Dias erspart.«

Ich war regelrecht erleichtert, als wir am Sonntagnachmittag endlich das gemütliche Heim meiner Schwiegereltern verlassen konnten. Der Tag war genauso verlaufen, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Vom Schweinebraten legte Hertha mir das größte Stück auf den Teller. »Kind, du musst jetzt für zwei essen!« Und anschließend guckten wir stundenlang Fotos. Aber endlich waren wir fertig und durften gehen.

Ich freute mich auf meine Oma Margarete. Sie hatte mich großgezogen, weil meine Eltern nach meiner Geburt zu sehr mit der Errichtung ihres persönlichen Wirtschaftswunders beschäftigt gewesen waren. Sie hatte meine Sandkastenförmchen sauber gemacht, später meine Schulbrote geschmiert und den ersten Liebeskummer getröstet. Von ihr hatte ich erfahren, wie es war, wenn man sich verliebte. Sie hatte mir den ersten Lippenstift und die ersten Tampons gekauft, mich zum Gynäkologen begleitet und mir einen zinslosen Hausfrauenkredit für mein erstes Auto bewilligt, auf dessen Rückzahlung sie dann großmütig verzichtete. Dafür hatte ich ihr stets all meine großen und kleinen Geheimnisse anvertraut und ihr jeden neuen Freund vorgestellt. Ich wusste sehr wohl, dass meine Oma Margarete eine außergewöhnlich moderne Oma war. Und noch immer war sie eine meiner engsten Vertrauten. Ich war also sehr gespannt auf ihre Reaktion zu meiner bevorstehenden Mutterschaft. »Ich freue mich«, sagte sie schließlich ganz einfach, nahm uns beide in die Arme und lachte. »Ich freue mich darauf, mein Urenkelchen im Park spazieren zu fahren, natürlich nur, wenn ihr mich lasst. Wann ist es denn soweit?«

»Schon im August«, entfuhr es mir und Oma reagierte erwartungsgemäß sofort. »Wieso schon? Den meisten geht die Zeit bis zur Geburt viel zu langsam herum. Sind dir neun Monate zu wenig?«

»Quatsch!«, widersprach ich. »Ich habe mich wahrscheinlich nur noch nicht an den Gedanken gewöhnt, Mutter zu werden. Schließlich ändert sich damit ja das ganze Leben.«

»Allerdings«, bestätigte Oma und sah forschend zwischen uns beiden hin und her. »Sagt mal, freut ihr euch überhaupt?«

»Na klar!«, trompetete Stephan laut und ich nickte kräftig.

Beim Kaffeetrinken erzählten wir Oma ganz genau, wie wir uns unser zukünftiges Leben mit Baby vorstellten. Oma Margarete hörte zu und bot an, sich hin und wieder als Babysitter zu betätigen.

»Na, das klingt ja alles ganz toll!«, kommentierte sie unsere Ausführungen, doch ich wurde das Gefühl nicht los, dass wir – und ganz besonders ich – sie nicht restlos von unserer Elternvorfreude überzeugen konnten.

Beim Abschied nahm sie mich noch einmal in den Arm und fragte: »Freust du dich wirklich, Mädelchen?«

»Natürlich, Oma! Du hast ja gehört, dass wir uns alles ganz genau überlegt haben«, bestätigte ich und bemühte mich, dem kleinen Stich in meinem Herzen keine Aufmerksamkeit zu schenken.

Die Spiegeltänzerin

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