Читать книгу Die Lavendelgang - Inge Helm - Страница 11
Kapitel 6
ОглавлениеSie fuhren über Metz, Nancy, Dijon und Lyon die autoroute du solei Richtung Avignon. Es war fünf Uhr früh, der Rücksitz von Maries kleinem grünem Flitzer – „Eine Occasion aus dritter Hand, hoffentlich lässt er uns auf der langen Reise nicht im Stich!“ – war vollgepackt. Cécile saß auf dem Beifahrersitz und hielt die Straßenkarte auf ihren Knien. Über ein modernes Navigationsgerät verfügte der kleine Wagen nicht, trotz dringendem Appell ihrer Kinder: „Du fährst doch so schusselig und verwechselst ständig rechts und links“, mahnten diese.
Doch Cécile sagte zuversichtlich: „Das schaffen wir auch so“, starrte angestrengt auf ihren Schoß und kniff die Augen zusammen. „Mon dieu, ich glaube, ich brauche eine Brille!“
„Aber nicht doch. Wenn du die Karte umdrehen würdest, dann könntest du uns auch den Weg ohne Augengläser weisen“, amüsierte sich Marie.
Eigentlich hatten sie vorgehabt, bis ins Elsass zu fahren und sich dort ein hübsches Hotel für die Nacht zu suchen. Doch die Autobahnen waren wie leer gefegt.
„Da kann nur irgendwo ein wichtiges Fußballspiel stattfinden“, bemerkte Marie süffisant.
„Umso besser für uns“, pflichtete ihr Cécile bei. Und so hatten sie früher als gedacht das Rheinland durchquert, im Moseltal eine Pause eingelegt und gegen Mittag die Grenze nach Luxemburg passiert. Hinter Metz betankten sie den Wagen und Cécile übernahm das Steuer. Marie drehte das Radio voll auf, und sie sangen mit Daliah Lavi lauthals um die Wette: „C’est la vie …“
„Ich fühle mich so wohl wie schon lange nicht mehr.“ Marie lehnte sich auf dem Beifahrersitz zurück und schloss glücklich die Augen.
Als sie diese wieder öffnete, waren sie bereits kurz vor Lyon.
„Schau mal, Cécile, in fünf Kilometern gibt es eine Raststätte. Lass uns dort rausfahren. Wir trinken in Ruhe einen Kaffee, und danach übernehme ich wieder das Steuer. Aber vorher muss ich erst einmal ganz dringend zum Tö, also gib Gas.“
Kurz darauf bogen sie von der Autobahn auf den Rastplatz ab und Cécile ließ den Wagen in einer Parktasche direkt vor dem Eingang der Gaststätte ausrollen. „Ich flitze mal schnell“, sagte Marie und riss die Beifahrertüre auf, kaum dass sie hielten, „sonst gibt es ein Malheur!“ Sie sprang heraus, rannte los und war Sekunden später im Eingang verschwunden. Cécile nahm gelassen ihre beiden Handtaschen, stieg ruhig aus, reckte sich ordentlich und folgte der Freundin in den Gastraum.
Marie war inzwischen bei den Toiletten im Untergeschoss angekommen, merkte, dass sie ihre Handtasche vergessen hatte, kramte nervös in Jacken- und Hosentaschen nach einem Fünfzig-Cent-Stück, fand keines und versuchte hektisch das Drehkreuz ohne den Obolus zu öffnen. Sie zog und schob und kam ins Schwitzen, bis sie hinter sich ein ungeduldiges und, wie sie fand, chauvinistisches Räuspern hörte, das nur von einem Mann sein konnte. Sie drehte sich entnervt zu dem Kerl um und sagte: „Vielleicht hätten Sie die Güte, mir zu helfen, anstatt überheblich zu grinsen.“
Er zog spöttisch die Augenbrauen in die Höhe, griff an ihr vorbei, steckte die erforderliche Münze in den Schlitz und schob das Drehkreuz nach vorne. „Bitte sehr, Madame.“
„Danke“, sagte Marie kurz angebunden, dachte: „Was für ein arroganter Typ“ und sauste an ihm vorbei, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen. Danach kehrte sie erleichtert zu Cécile zurück, die an der Segafredo-Bar saß und einen Cappuccino trank.
„Bitte auch so einen“, sagte Marie zu der Bedienung hinter der Theke, schwang sich auf einen Barhocker neben die Freundin, zeigte auf deren Tasse und sagte zu Cécile: „Und außerdem würde ich auch gerne eine Kleinigkeit essen.“
„Dann nehmen wir unseren Kaffee, suchen uns etwas vom Büfett aus und setzen uns an den Tisch dort drüben am Fenster.“ Cécile rutschte vom Hocker herunter und Marie folgte ihr.
Nachdem sie sich gestärkt hatten, erklärte Cécile: „Jetzt muss ich mal wohin. Könntest du in der Zwischenzeit die Tabletts mit unserem schmutzigen Geschirr entsorgen?“ Sie stellte Tassen, Teller und Bestecke ineinander, hängte Marie beide Handtaschen über die Schulter und drückte ihr die wackelige Angelegenheit in die Hände. Dann eilte sie zur Treppe ins Erdgeschoss.
Marie balancierte den Geschirrturm vorsichtig zum Rollschrank und versuchte die ineinandergestellten Tabletts samt Teller und Tassen hineinzuschieben, wobei das Ganze bedrohlich anfing zu schwanken und sich zur Seite neigte.
„Darf isch Ihnen das abnehmen?“, sagte eine dunkle Stimme direkt vor ihr und fing die Katastrophe schnell und geschickt auf. Marie sah hoch und stöhnte. Es war der arrogante Typ aus dem sanitären Bereich im Untergeschoss. Er war groß und schlank und hatte einen gepflegten grauen Bart, volle graue Haare und war ungefähr in Maries Alter. Jetzt sah er gönnerhaft auf sie herab: „Ist wohl nischt ihr Tag ’eute, n’est-ce-pas, Madame?“ Er hatte einen entzückenden französischen Akzent.
Marie stieg die Röte ins Gesicht, und sie kam sich deshalb furchtbar blöd vor. Aber egal, sie marschierte hocherhobenen Hauptes an ihm vorbei nach draußen und spürte sein amüsiertes Grinsen im Rücken.
Cécile wartete bereits am Auto „Na, alles in Ordnung?“
„Warum denn nicht?“
„Du siehst aus, als hätte dir da drinnen jemand gehörig auf die Zehen getreten.“
„Vergiss es! Da war bloß so ein blöder französischer Heini, total arrogant und viel zu gut aussehend.“
„Aha.“ Cécile lächelte nachsichtig und kletterte auf den Beifahrersitz. Marie klemmte sich hinter das Steuer. Der kleine Wagen vibrierte, als sie den Motor anwarf. Dann brausten sie davon und erreichten am frühen Abend wohlbehalten Avignon.