Читать книгу ...und am Ende war nur noch ohnmächtige Wut ! 1. Teil - Ingeborg Schob - Страница 7
Kapitel 05 Die Progromnacht
ОглавлениеEines Morgens wurde ich durch grässliches Geschrei und Geklirre, das von der Straße heraufschallte, aus dem Schlaf gerissen. Es roch abscheulich nach Feuer und Rauch.
Da kam auch schon Anna ins Schlafzimmer gestürzt und beruhigte mich, weil ich vor Angst zu weinen begonnen hatte und am ganzen Leib zitterte. Auf meine Fragen bekam ich nur die ausweichende Antwort:
„Ich weiß auch nicht, was da draußen los ist und warum das passiert."
Niemand hat jemals versucht, mir dazu etwas zu erklären. Man hüllte sich einfach in Schweigen.
Erst sehr viel später nach dem Krieg wurde mir klar, dass es sich um den Morgen der Reichskristallnacht, den 9. November 1938, gehandelt hatte. An dem Tag waren viele unschuldige Menschen jüdischen Glaubens ums Leben gekommen.
Als ich einen Tag darauf mit Anna ausgehen durfte um etwas zu besorgen, sah ich, dass sich die Stadt in einem fürchterlichen Zustand befand. Fenster waren kaputt geschlagen, Häuser und Geschäfte ausgebrannt und teilweise ganz zerstört. Ich sah das Kaufhaus Merkur an der Ecke der Georgstraße und Grashoffstraße in Trümmern liegen. Überall lagen Glassplitter herum. An der Ecke Georgstraße und An der Mühle war das kleine weißgekalkte, mit Stroh gedeckte Bauernhaus, das direkt an der Straße lag, völlig ausgebrannt. Die Leute erzählten, dass man den alten Besitzer totgeschlagen hatte.
Die Menschen hatten bereits 1938 schon Angst um ihr eigenes Leben und das ihrer Familien. Die Zeit war unsicher und niemand wagte, irgendetwas über die Vorfälle des 9. November zu sagen. Die NSDAP ging rigoros gegen jeden vor, der darüber sprach, weil es als Volksverhetzung galt. So wurde es bezeichnet und durch Schweigen schützte man sich vor unangenehmen Überraschungen. Das war richtig und wichtig für die Menschen, sich so zu verhalten, denn nicht jeder war mit dem Regime einverstanden. Niemand konnte vor böswilligen Denunziationen sicher sein, die Partei hatte überall Ohren.
Mit der Zeit endlich wurden meine Ruhestunden gelockert, ich ging nach unten zu Tante Gertrud und meinen Großkusinen Gisela und Kathrin in die Wohnung. Dort durfte ich beim Schneidern zusehen und die Stecknadeln aufsuchen, die bei der Arbeit heruntergefallen waren. Allmählich wurde ich auch dazu angehalten, selber etwas zu machen und lernte zunächst das Sticken. Mit viel Geduld zeigte mir Kathrin, wie man mit Nadel und Faden umgeht und auch, wie man richtig Knoten macht. Stolz habe ich meiner Mutter ein selbst besticktes Deckchen schenken können, als ich viel später wieder nach Hause durfte.
Nach einiger Zeit hatte ich mich von meiner Krankheit so weit erholt, dass ich zur weiteren Genesung durch die NSV-Landverschickung nach Duisburg-Beck zu Familie Grimme vermittelt wurde. Sie war Eigentümer einer großen Brauerei. Ich fand bei Familie Grimme ein ganz anderes Zuhause vor, als ich es bisher kannte. Das Leben bei ihnen spielte sich zwischen dem eleganten Wohnsitz mit riesigen Kronleuchtern aus böhmischem Glas, mit großen Gesellschaften im Haus, an denen ich allerdings nicht teilnehmen durfte, und Forellenfischen in der Eifel ab. Es gab in dem Haus eine Köchin und zwei Zimmermädchen, die sich um den Haushalt kümmerten.
Auch hatte Herr Grimme mich sehr gerne dabei, wenn er zum Gestüt hinausfuhr. Hier wurden seine edlen und sehr kostbaren Reitpferde zugeritten oder an der Leine bewegt, was er gerne selber tat. Ich kann mich noch gut darin erinnern, dass ich eines Tages sehr früh geweckt und hübsch angezogen wurde. Die gnädige Frau nahm mich mit in die katholische Kirche. Das beeindruckte mich sehr, weil ich so etwas nicht kannte. In der Kirche herrschte stimmungsvolles, gedämpftes Licht und die farbenprächtigen gotischen Bogenfenster und die leise Musik gefielen mir sehr. Frau Grimme zündete mir eine Kerze an und sagte freundlich, dass ich diese aufstellen und mir dabei ganz stark etwas Schönes wünschen solle. Damit dieser Wunsch auch in Erfüllung gehe, müsste ich fest daran glauben. Sie hat sich sicherlich viel davon versprochen, und das alles wirkte sehr geheimnisvoll auf mich. Das Ehepaar selbst war kinderlos, aber es hatte mich in der Zeit so lieb gewonnen, dass es mich adoptieren wollte. Das hätte für mich bedeutet, dass mein Lebensweg anders verlaufen wäre.
Meine Mutter spielte aber nicht mit, denn sie wollte keines ihrer Kinder jemals wieder außer Haus geben, wie es früher auf Druck ihrer Angehörigen der Fall gewesen war. Das alles habe ich allerdings erst viel später erfahren, als ich bereits volljährig war.
Als ich nach der Landverschickung wieder zu Hause war, hatte die Familie viel Spaß durch mich, weil ich mir angewöhnt hatte, jeden Satz, den ich sprach, mit 'gelle' zu beenden, wie die Rheinländer es zu tun pflegen. Das Ehepaar Grimme hatte mir zum Abschied einen wunderschönen Kleiderstoff geschenkt, den ich erst sehr viel später nutzen konnte.
Fünfundsechzig Tage hatte ich wegen Krankheit in der Schule gefehlt. Es fiel mir sehr schwer, wieder den Anschluss zu finden. Niemand dachte daran, dass es sinnvoll und für mich besser gewesen wäre, die Klasse zu wiederholen. Das aber war gegen die Familienehre, und so musste ich mich sehr anstrengen um das Klassenziel zu erreichen. Ich arbeitete mich in der ersten Zeit nach meiner Krankheit nur mühsam durch den Lernstoff und es kam mir vor, als ob ich nicht in die Klasse gehörte. Niemand half mir, die großen Lücken, die nach meinem über zweimonatigen Fehlen entstanden waren, zu schließen. Im Gegenteil, auch schon jetzt bestand meine Mutter darauf, ihr zu helfen. Es gab in unserem großen Haushalt immer etwas Wichtiges für mich zu tun, egal ob ich für die Schule nachzuholen hatte oder nicht.