Читать книгу ...und am Ende war nur noch ohnmächtige Wut ! 1. Teil - Ingeborg Schob - Страница 9
Kapitel 07 Verhasste Situationen
ОглавлениеEs war besonders schön, wenn sich die Familie gemeinsam um den Tisch versammelte. Die Lebensmittelknappheit machte uns aber bereits zu schaffen. Oft gab es nicht besonders viel zu essen. Eines Mittags teilte unsere Mutter heiße Würstchen aus. Jeder von uns bekam eines davon auf seinen Teller gelegt, und alle warteten geduldig mit dem Essen, bis sich Mutter auch an den Tisch gesetzt hatte. Nur Angela hatte solch einen großen Hunger, dass sie sofort ihr Würstchen in die Hand nahm und es ganz schnell verputzte. Als Mutter endlich saß und alle anfingen zu essen, war ihr Teller bereits leer, und sie fragte ganz empört:
„Gibt es denn heute nichts als gar nichts auf den Tisch?“
„Das hast du nun davon, wenn du nicht warten kannst!“,
sagte unser Vater und alle amüsierten sich über das kleine hungrige Mädchen, dem sonst nie ein Wunsch abgeschlagen wurde. Zum Nachtisch gab es, Gott sei Dank, noch einen von Muttis berühmten Puddingen zu essen, so dass Angela am Ende recht zufrieden war. Nur ich aß nicht gerne Pudding. Oft tauschte ich mit Vater meinen Nachtisch gegen handfestes Essen.
Wir halfen bei der Versorgung der Familie mit Nahrungsmitteln mit. So passten wir zum Beispiel auf, wann das kleine Fischgeschäft bei uns gegenüber am späten Nachmittag frische Waren bekam. Dazu mussten die Jungen oben am Fenster Wache halten, bis dort frischer Granat und Räucherfisch angeliefert wurde. Sie sausten dann wie der Blitz nach unten und kauften für uns genügend davon ein, denn zum Glück brauchte man zu diesem Zeitpunkt dafür außer Geld noch keine Lebensmittelkarten. Wir alle aßen gerne Räucherfisch und Granat und konnten uns wenigstens am Abend satt essen. Trotz immer wieder unvorhergesehenen Fliegeralarms gab es für uns Kinder immer noch genug Abwechslung.
Zu unserer großen Freude bekamen wir alle, wie jedes Jahr zu Weihnachten, von unserem Großvater Jahreskarten für die Tiergrotten und das Marienbad geschenkt. Fast täglich gingen wir schwimmen oder besuchten die Tiergrotten. Immer noch war das Aquarium besonders interessant, weil wir die täglichen Veränderungen in den einzelnen Becken sehr genau studieren konnten. Leider wurde der gesamte Hafenbereich wegen der bedrohlicher werdenden Kriegsereignisse 1943 gesperrt. Das schränkte unsere Bewegungsfreiheit stark ein, und unsere Tiergrotten-Besuche waren damit nicht mehr möglich. Wir bedauerten diese Entwicklung sehr und verfluchten den Krieg, durch den wir so viele Schwierigkeiten und Enttäuschungen hatten.
Es war für uns ältere Kinder lästige Pflicht, bei der Hitlerjugend jeweils mittwochs und samstags zwischen fünfzehn und siebzehn Uhr mitzumachen. Als besonders schlimm empfand ich die Appelle, bei dem der BDM, das Jungvolk und die Jungmädchen der HJ oft stundenlang, auch bei eisiger Kälte, auf dem zugigen Schulhof der Pestalozzi-Schule stramm stehen mussten. Bei einem dieser ungeliebten Appelle, war ein Obersturmbannführer zu Gast, der besonders die hochangesehene und von uns Mädchen stark beneidete BDM-Gruppe 'Glaube und Schönheit' ansprach. Er war sehr sprachgewandt und redete nachdrücklich auf die Mädchen ein. Er verlangte mit folgenden Worten von ihnen Patriotismus gegenüber dem Führer Adolf Hitler:
„Schenkt dem Führer ein Kind!"
Dazu redete und erklärte er sehr viel. Für mich klang das verwirrend, und ich konnte das Ganze nicht verstehen, wusste ich doch von zu Hause, dass nur verheiratete Leute Kinder bekommen können.
Im übrigen wurden wir zu den unterschiedlichsten Zeiten aufgefordert, Dienst zu machen. Oft mussten wir Jungmädchen sonntags schon um acht Uhr auf dem Schulhof der Pesta antreten und marschierten singend durch die Stadt. Ein Mal mussten wir im Schweigemarsch zum Bürgermeister-Smidt-Platz in der Nähe des Stadttheaters marschieren. Dort stellten wir uns auf und mussten Hetzlieder gegen die Juden singen. Die Texte möchte ich nicht zitieren. Ich erinnere mich, dass die Leute, die notgedrungen an uns vorbeigingen, alle den Blick von uns abwandten oder den Kopf senkten.
Irgendwann im Jahr 1943 wurde plötzlich von uns verlangt, dass alle aktiven HJ-Mädchen ihren Ariernachweis schreiben sollten. Ich bekam den Befehl, in die große Holzbaracke des Bann zu kommen, die an der Uferstraße westlich der Geeste lag. Dort befand sich die Führung der Hitler-Jugend für Wesermünde. Mitzubringen waren Schreibpapier, Federhalter und Skriptol, so hieß die besondere Dokumententinte, und natürlich auch die beurkundeten Nachweise unserer Abstammung. Stillschweigend, aber äußerst verärgert, rückte meine Mutter das Geld heraus, damit ich Skriptol kaufen konnte. Jedes Mädchen aus meiner Gruppe musste fein säuberlich seine Herkunft dokumentieren, obwohl das bereits ein oder zwei Jahre vorher durch die NSDAP von meinen Eltern und von allen anderen Einwohnern verlangt worden war.
Damals herrschte große Aufregung. Es begann eine unglaubliche Reisewelle, denn es mussten die Orte aufgesucht werden, in der die Vorfahren der Eltern geboren worden waren. Die Kirchen hatten Hochkonjunktur und gute Einnahmen. Kirchenbücher wurden gewälzt um nach den notwendigen Herkunftsnachweisen zu forschen. Diese wurden von den beauftragten Kirchenleuten an Ort und Stelle beurkundet. Dieser Ariernachweis kostete viel Zeit und Geld und sorgte für erheblichen Unmut in der Bevölkerung.
Auch in anderer Hinsicht veränderte sich einiges. Man gewann den Eindruck, dass die politische Führung die Zügel noch straffer in der Hand hielt als schon zuvor. Der Dienst bei der Hitlerjugend wurde jetzt noch genauer genommen. Oft stand eine Abordnung des Jungvolks bei uns vor der Wohnungstür und verlangte drohend die Teilnahme unserer Jungen am Dienst. Mutter sagte dann nur ganz plietsch, dass das nicht ginge, denn die seien zurzeit im Ernteeinsatz. In Wirklichkeit waren meine Brüder in Langen um dort die Kaninchen zu versorgen. So zeigte unsere Mutter auf ihre Art ihren Unmut gegen das Regime. Eigentlich war es nämlich eine äußerst unangenehme Pflicht für die Jungen, täglich nach Langen fahren zu müssen um die Tiere zu füttern. Die Kaninchen mussten auch immer saubere Ställe haben. Bei etwa fünfzig Tieren brauchte es viel Zeit, sie ordentlich zu versorgen. Als Grünfutter mussten Schweinedistel und Löwenzahn gesucht werden. Das Futter durfte auch nicht feucht sein, damit die Tiere keinen Blähbauch bekamen, das war bei Regen gar nicht so einfach. Im Winter bekamen die Tiere Heu, und darüber hinaus wurden Kartoffelschalen gekocht, damit sie in der Nacht davon fressen konnten. Das Kochen der Kartoffelschalen stank so scheußlich, dass die Jungen oft sagten:
„Wir machen drei Kreuze, wenn das eines Tages vorbei ist."
Die eigentliche Gartenarbeit nahm oft nicht viel Zeit in Anspruch, weil diese jahreszeitlich unterschiedlich stark anfiel. Aber die Jungen wurden gar nicht gefragt, ob sie lieber etwas anderes hätten tun mögen. Diese Arbeit gehörte nun einmal zur Tagesordnung und musste erledigt werden. Da kannte unsere Mutter kein Pardon.
Einmal musste ich einen ganz besonderen HJ-Dienst mitmachen: Es wurde eine Luftschutzübung angeordnet. Dazu mussten wir Jungmädchen uns auf einer großen Straßen-Kreuzung treffen, die in unmittelbarer Nähe des St.Joseph-Hospitals lag. Man hatte verschiedene Feind-Brandbomben aufgebaut. Diese wurden vorgeführt, und es wurde erklärt, wie sie wirkten, auch wie man sie gefahrlos anfassen und wenn nötig schnell aus dem Haus werfen konnte. Wir wurden besonders vor Phosphor-Bomben gewarnt, da man sich gegen diese nicht schützen kann. Diese Aktion war zwar lehrreich, aber hinterließ ein flaues Gefühl in meinem Bauch. Ich machte mir darüber Gedanken, ob in dem Mehrfamilienhaus, das wir bewohnten, die angeordneten Sicherheitsmaßnahmen im Ernstfall ausreichen würden. Auf jeder Etage zwischen den sich gegenüber liegenden Wohnungseingängen befand sich jeweils ein Eimer voll Sand und ein anderer voll Wasser. Daneben standen eine Schaufel und eine Feuerpatsche für Notfälle. So war es von der NSDAP angeordnet worden, und der Luftschutzwart des Hauses war dafür verantwortlich, dass alles komplett war. Man konnte nie wissen, was in der nächsten Stunde passieren würde. Wichtig war es für den Ernstfall, gut ausgerüstet zu sein. Nicht nur wir, sondern alle Menschen in der Stadt, hatten sich mit dieser Situation arrangiert. Wir waren tagtäglich durch eventuelle Angriffe alliierter Bomber bedroht und mussten uns damit abfinden, ja damit leben. Wir trotzten dieser Bedrohung, indem wir direkte Angst nicht zuließen, aber sehr wachsam waren und äußerlich anscheinend unbekümmert den alltäglichen Aufgaben nachgingen
Eines Abends erschien ein Schupo bei uns an der Wohnungstür und beanstandete rüde die ledierten Rollos im Wohnzimmer, weil dadurch Licht auf die Straße fiel. Wir konnten weder neue Rollos kaufen, noch konnten wir Material bekommen um sie bald zu reparieren. Lange Zeit suchten wir vergeblich nach Ersatz. Solange der Schaden nicht behoben war, vermieden wir es, abends Licht einzuschalten um keinen weiteren Ärger zu bekommen.