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Les Menuires: Das Gewitter im Kopf

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Ende April 1974 fuhren Georg und ich mit Freunden zum Skifahren nach Les Menuires. Ich erinnerte mich dabei an unsere erste Sommerfahrt nach Les Menuires. Georg hatte sich damals den Jaguar seines Vaters ausgeborgt. Wir wollten die romantischen Bergstraßen erklimmen. Doch leider, der weinrote Schlitten mit dem aus Holz geschnitzten Lenkrad war zu tief gebaut. Bei jeder Unebenheit der Straße drohte das Auto aufzusitzen. Wir drehten um und rasten die Autobahnen entlang. Schon damals liebten wir Frankreich, die Menschen, die Sprache, den Wein, das gute Essen.

Jetzt im April lagen die herrlich präparierten Skipisten vor uns. Es gab immer wieder einen neuen Lift zu entdecken, das Skigebiet war unendlich weit. Salade Niçoise, Camembert und herrliche Weine hoben die Stimmung von Minute zu Minute. Überall lagen die Menschen in Liegestühlen und erfreuten sich an der Sonne und den schneebedeckten Bergspitzen.

Mit unseren Freunden ließen wir uns auf den Sesseln der Skilifte den Berg hinauftragen und rasten im Tiefschnee dem Tal entgegen. Wir zählten die Hänge, die Schwünge und sahen stolz auf unsere Wedelspuren zurück. Der Durst wurde immer größer. Weinbergschnecken mit Knoblauch und Petersilie waren etwas Besonderes. Die Franzosen konnten mit ihrer Küche punkten, wir Österreicher mit unseren Skiassen.

Die Pisten leerten sich. Niemand blickte auf die Uhr. Als die Sonne hinter den Bergen versank, waren die Lifte bereits geschlossen. Der Pistendienst schon abgefahren. Die Liftsessel baumelten verlassen im Wind hin und her.

Wir mussten, ohne Ortskenntnisse, irgendwie selber ins Tal finden. Freund Helmut hatte kein Problem mit dieser Zwangslage. Als ehemaliger Studentenrennfahrer kannte er keine Gefahr und wollte direkt die Lawinenhänge hinunterfahren. Georg widersprach sofort, wog Vorteile und Nachteile ab, sodass ich schon fürchtete, die Zeit würde nicht mehr reichen, um bei Tageslicht ins Tal zu kommen. Freund Julius fand alles nur komisch. Jörg schwieg. Die Frauen wurden immer stiller. Ich hatte Angst, dachte an die Kinder. Ein Schüttelfrost packte meinen Körper. Die Befehle in meinem Kopf wurden immer schriller und bestimmter. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mich bei einem Lawinenabgang verhalten sollte. Für mich gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder wir kamen durch, oder wir waren tot.

Nein, ich wollte nicht unter die Lawine kommen! Ich hatte doch gerade erst mein zweites Kind geboren!

Der Tod war ganz nah bei mir. Er umarmte mich mit seinen eiskalten Händen.

„Ich will nach Hause“, brüllte meine Freundin Herta.

„Wir fahren jetzt alle los!“, befahl Helmut. Er war der Erste, Jörg der Zweite, dann kamen die Frauen. Georg fuhr zum Schluss. Wie ein Leichenzug begannen wir unseren Weg nach unten.

Bitte, Kinder, verzeiht uns! Es war allein unsere Schuld, wir haben als Eltern versagt. Frei sein wollten wir, wie die Blumenkinder in San Francisco.

Gott sei Dank, die Ski waren schneller als meine Gedanken. Nur nicht fallen. Vor allem nicht nach rückwärts schauen, ob die Lawine kommt. Wenn sie anrollte, das wusste ich jetzt, musste ich ihr davonfahren, musste ich schneller sein als sie.

Wir kamen unversehrt im Tal an. Unser Lachen war unnatürlich laut, und alsbald verschwanden wir in unsere Zimmer. Ich warf mich erschöpft und glücklich auf mein Bett. Als ob ich tagelang gegen Wind und Wetter gekämpft hätte und nun am Gipfel des Himalaya angekommen wäre, so fühlte ich mich. Tränen rollten mir über das Gesicht. Ich ließ sie fließen. Erst die Erinnerung an das Lachen der Kinder brachte mich in die Realität zurück.

Als ich am nächsten Morgen meine Augen öffnete, starrten erschrockene, blasse, fragende Gesichter mit großen, aufgerissenen Mündern auf mich herunter. Ich lag auf dem Boden im Frühstückszimmer. Wir waren auf Skiurlaub, ja, das wusste ich genau. Ganz deutlich hörte ich die Heizung klopfen, den Wind durch die Fensterritzen pfeifen. Die erste Hand, die mir entgegenkam, war die von Georg. Während ich mich etwas benommen aufrichtete, um zu fragen, was denn hier los sei, begann Jörg, der Arzt in der Runde, zu sprechen: „Wie geht es dir, Inge?“

„Etwas benommen und müde. Bin ich gestürzt?“ Ich erinnere mich daran, wie ich meine Hand auf Jörgs Schulter legte und ihm ins Ohr flüsterte: „Jörg, es geht mir nicht gut.“ Jörg beschrieb in seiner ruhigen Fachsprache den Vorfall als eine Art Ohnmacht und empfahl mir und Georg, den Skiurlaub abzubrechen und gemeinsam in die Klinik nach Salzburg zu fahren. Die Klinik, so meinte er, sei immer noch der sicherste Ort, um Klarheit zu schaffen, was diesen Anfall ausgelöst hatte und was genau er bedeuten könnte. Mir wurde in Sekunden schmerzhaft bewusst, wie rasch ein Mensch plötzlich in einen anderen Menschen, in eine andere Identität schlüpfen konnte.

Die Suche nach des Rätsels Lösung begann.

Ich kam ins Schleudern. Was ist in meinem Gehirn passiert? Ich muss meinen Kopf untersuchen lassen, in die Psychiatrie, Neurologie fahren? Hatten die Polizisten damals recht gehabt?

Ich sah mich, die anderen, die Welt aus einem neuen Blickwinkel. Nun gehörte ich nicht mehr zu den „Normalen“. Ich hatte meine Unschuld verloren.

Ich werde für längere Zeit von der übrigen Gesellschaft abgeschnitten sein. In der „Klappsmühle“ ein reglementiertes Leben führen.

Nein, noch war alles offen. Die Diagnose nicht gestellt. Ich träumte von den Kindern, der Sonne, dem Meer, Korsika, Griechenland, Kitzbühel. Meine Augen füllten sich mit Tränen.

Nur nicht aufgeben, Inge, du hast Kinder, eine Familie. Die Kunst der Ärzte wird dich heilen.

Ich starrte aus dem Fenster der kleinen Maschine. Der Lärm der rotierenden Propeller quälte meine Ohren. Ich sah weiße Wolken, graue Bergspitzen. Mein Kopf war leer. Ich weigerte mich zu denken. Vielleicht war mein Kopf auch zum Bersten voll mit Bildern, Gedanken, Erinnerungen, Zukunftsvisionen. Die Fülle fühlte sich wie Leere oder die Leere wie Fülle an.

Lawinen von Gedanken und Wellen von Emotionen überrollten mich. Mein Erinnerungsvermögen schwand, die vielen Informationen verwirrten mich. Wenn die Emotionen aufhörten zu leben, war meine Seele tot.

Ich erinnerte mich an einen Vortrag, den ich vor einiger Zeit über das Landeskrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie in Gugging gehört hatte. Vor meinem inneren Auge tauchte das Bild eines Patienten auf. Seine Emotionen waren für ihn nicht mehr existent. Die Psychose trat an ihre Stelle. Der Patient wurde von inneren Stimmen geführt. Sie halfen ihm, Handlungen zu setzen, um Halt zu bekommen. Er hatte täglich Hunderte gleiche Zahlen, Zeichen, Farbflecken perfekt nebeneinandergesetzt. Unendliche Linien, Schriftzeichen täglich aufs Neue geschrieben, gepinselt. Die Kunst trieb ihn täglich an, weiterzuleben. In ihr erkannte er einen Sinnzusammenhang. – Inge, das musst du dir merken!!!

Gott sei Dank, meine Emotionen waren noch vorhanden.

„Geht’s dir gut?“, fragte Georg besorgt.

„Ja, danke.“

„Alles in Ordnung?“

„Ja, danke.“

„Möchtest du etwas zu trinken?“

„Nein, danke.“

So ging es weiter, bis der Flieger seine letzten Zuckungen und Bremsbewegungen vollendet hatte. Die fürsorglichen Worte von Georg hatten etwas mit Liebe zu tun, mit Sicherheit und Hoffnung und Geborgenheit, wie damals im Bauch meiner Mutter. Es klang wie eine Symphonie von harmonischen Melodien.

Es war mehr als ein körperliches Gefühl. Es war eine Art Weisheit, die ich den „Balancierer“ nannte. Ein gefühltes Verständnis, das ich von meinen Problemen im Körper hatte. Ich spürte und erlebte den Balancierer als ruhige, nicht intellektuelle Mitte des Seins.

Während der Taxifahrt in die Klinik war es totenstill im Auto. Ich wollte lieber nach Hause und erst am nächsten Tag ins Krankenhaus fahren. Gleichzeitig wusste ich, dass Georg mich in Sicherheit bringen wollte. Sich oder mich – oder beide? Ich sagte kein Wort, wollte ihn auf keinen Fall noch mehr belasten.

So ließ ich alles über mich ergehen und versuchte einfach, nicht zu existieren. Nickte mit dem Kopf, ohne zu wissen, wie die Frage gelautet hatte.

Alles lief reibungslos. Ich war ein Notfall. Die Schranke ging auf, der Taxifahrer parkte vor der Neurologie. Die Schwester nahm meine Daten auf, mir wurde ein Bett zugewiesen. Ich bedankte mich ununterbrochen, in der Hoffnung, dadurch gesünder zu wirken, als ich war. Man schob mich auf einem Wagen ins Untersuchungszimmer. Rechts und links Plastikvorhänge. Der Arzt im weißen Mantel kam, klopfte alle möglichen Körperstellen ab. Er murmelte vor sich hin, stellte einige Fragen und ich antwortete sehr artig, wie ich es als Schulmädchen gelernt hatte. Innerlich hatte ich aufgegeben, ich wollte nur mehr eines: schlafen und von nichts mehr wissen.

Einen besseren Tod als den Verlust der Bewusstheit ohne Schmerzen gibt es nicht. Vielleicht hatte ich Glück und der Dämon würde mich heute Nacht überraschen, dann wäre alles vorbei. Ich wollte keine Untersuchungen, ich wollte die Diagnose nicht hören. Lasst mich in Ruhe!

„Möchten Sie vielleicht noch einen Kräuter- oder Pfefferminztee?“, fragte die Nachtschwester.

„Ja, bitte.“

Vielleicht musste ich doch noch die Nacht bei vollem Bewusstsein in diesem kahlen Zimmer ausharren. Ich hasste Einsamkeit, ein warmer Tee wäre da schon ein angenehmer Zimmergenosse. Da stand sie nun, die Teetasse, neben mir auf dem weißen Tischchen. Die Schwester redete mir gut zu, die Augen zu schließen und die Glocke zu läuten, falls ich die Nachtschwester bräuchte. Alle waren sehr freundlich zu mir, von der Nachtschwester bis zur Putzfrau.



Es war sieben Uhr am Morgen. Die Türe öffnete sich, der Herr Professor in Weiß mit seinem ganzen Schwarm von Untertanen betrat den Raum.

„Wie geht es Ihnen heute Morgen, Frau Doktor? Sie sehen gut aus!“

„Oh, das kann ich mir gar nicht vorstellen. Was geschieht mit mir?“

„Wir haben alles im Griff.“

Ich wusste nur nicht, was „alles“ war. Meinte der Herr Professor, dass er meinen Körper, meine Seele, meinen Geist unter Kontrolle hatte? Gab es da noch anderes zu beachten? Worte können alles lösen und alles vernichten. Wie ein Blitz, der in die Erde einfährt, in Sekunden Leichtigkeit schaffen, Todesängste heraufbeschwören, Panik auslösen, Schweißausbrüche, Atemnot, Erstickungsanfälle, sämtliche inneren Bilder, Töne, Drehungen, Wendungen ausschalten kann. Ich weiß, wovon ich spreche.

„Frau Doktor, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass die Untersuchungen ergaben, dass Sie Epileptikerin sind.“

„Nein, das bin ich nicht, das will ich nicht sein!“ Ich hatte keine Ahnung, was diese Diagnose bedeutete. Ich hasste sein mitleidsvolles Lächeln und hatte eine betäubende Angst, meine Freiheit zu verlieren. „Verzicht“ war das Wort, das wie ein Kanonenschuss in mein Ohr einschlug. Ich war zu einer Frau geworden, die keine Kontrolle mehr über sich hatte.

Der Kopf war leer, der Körper gefühllos, die Freiheit der Wahl war mir entglitten. Ich verwandelte mich in eine Entleerte, eine Frau, die sich selbst verloren hatte. Im Unterschied zu den Ärzten hatte ich nichts mehr im Griff.

Wie bin ich so weit gekommen? Warum bin ich so weit gekommen? Wie werde ich sein?

Warum werde ich sein? Jetzt sein, nicht ewig sein.

Wie kann ich verstanden werden?

Wo ist der Mensch, der mich versteht?!

Den weißen Mantel kenne ich: sauber, steril. Der Mantel hat keine Arme, die mich auffangen, wenn meine Knie versagen; keine Schulter, auf die ich meinen Kopf legen kann, während die Tränen fließen.

Ein Analphabet, der Herr in Weiß.

Beten muss ich lernen, wie damals, als Vaters Bett leer war.

„Möchten Sie Kaffee, eine frische Semmel mit Butter und Marmelade?“

Ja, das war es, was ich jetzt brauchte. Während ich die frische Buttersemmel zerkaute, kam ich wieder zurück auf die Erde. Die Geschmacksnerven gaben mir ein wenig Hoffnung, dass das Leben normal weitergehen könnte.

Während der Nacht hatte ich einen Albtraum. Ich fuhr singend mit meinem Auto auf der Autobahn, dann kam der Knall. Ich wachte im Operationssaal auf, erlangte mein volles Bewusstsein wieder – und hatte eine ganze Familie ausgerottet. Ich lebte, die Familie war tot. Mein Körper verharrte in einer Starre.

„Hilfe!“

Ich läutete nach der Schwester. Sie kam und streichelte mir über den Kopf. „Es ist alles gut, Sie haben nur geträumt. In ein paar Tagen können Sie sicher nach Hause gehen.“ Sie hatte recht. Nach einigen Tagen durfte ich mit einem genauen Therapieplan das Spital verlassen. Den Oberarzt habe ich nie mehr gesehen.

Der Balancierer – Mein Leben mit Epilepsie

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