Читать книгу Der Balancierer – Mein Leben mit Epilepsie - Ingeborg Wressnig - Страница 13

Bergstraße 19: Wer ist dieser Mann?

Оглавление

Es war am 10. Oktober 1975, als ich aus dem Zugfenster schaute, um den Bahnhof von Siegdorf zu erspähen. Der Bahnhof war kaum zu sehen, so klein war das Bahnwärterhäuschen. Die einzige Person, die aus dem Regionalzug ausstieg, war ich. Die Stille erschreckte mich. Eine so lange Reise! Eine Nacht und einen halben Tag war ich von Salzburg nach Siegdorf zu einem Psychiater und Psychotherapeuten gefahren.

„Berühmt kann der wohl nicht sein“, schoss es mir durch den Kopf, „sonst würde er in New York leben.“ Ich schleppte mich die Dorfstraße hinauf.

Ob Dr. Rossmann überhaupt in der Bergstraße wohnte? Vielleicht gab es gar keine Bergstraße, geschweige denn einen Dr. Rossmann? Ich konnte niemanden fragen, denn es gab weit und breit keine Menschenseele.

Nur nicht die Kontrolle verlieren, schön einen Fuß vor den anderen setzen. Du musst mit dir und der Erde verbunden bleiben. Da, ein Hinweisschild: „Praxis Dr. Bernd Rossmann“.

Meine Hand zitterte, als ich auf die Glocke drückte. Eine Frau öffnete.

„Ah, da sind Sie ja! Herzlich willkommen! Ich bin Bernds Frau Marion. Wie war die Reise? Ich habe gehört, dass Sie aus Österreich kommen. Ein schönes Land. Kennen Sie Seggauberg? Da waren Bernd und ich vor Kurzem auf Urlaub.“

„Ja, ich kenne es gut. Ich bin in Graz aufgewachsen. Waren Sie auch auf der Weinstraße, an der Grenze zu Slowenien?“

„Diese herrlichen Weinhänge, das Klappern der Klapotetz und die gute Bretteljause, wir haben alles durchprobiert.“

Marion zeigte mir mein Zimmer.

„Kann ich sonst noch etwas für Sie tun? Die Gruppe, aber das wissen Sie ja, fängt um 10 Uhr an.“

„Danke.“

Ich legte mein Gepäck ins Zimmer und ging in den Gruppenraum. Mein Herz und meine Gedanken spielten verrückt.

Warum bin ich hierhergekommen? Wer ist dieser Mann? Was macht der mit mir? Wird er sich über mich lustig machen, meine Gedanken erraten, mein Geheimnis offenlegen?

Ganz langsam schritt ich die Treppe in das Untergeschoss hinunter. Nadelstiche durchbohrten meinen Rücken. Mit einer schnellen Handbewegung öffnete ich die Türe. Warme Luft strömte mir entgegen. Der Gruppenraum war voll mit Menschen verschiedenster Altersstufen. Lustige, traurige, ängstliche Gesichter starrten mich an. Ich wusste nicht mehr, ob ich normal, verrückt oder krank war.

Dr. Rossmann betrat den Raum. Er strahlte, er war ein Mann mit Charisma. Seine Seele meldete, im Unterschied zu meiner Seele, keine Störung. Seine Bewegungen waren natürlich. Sein gut geschnittenes Gesicht, ganz zu schweigen von seinem muskulösen Körper, verwandelte meine innere Sicherheit in eine wackelige, puddingartige Konsistenz.

„Guten Morgen, ihr Lieben.“

Dr. Rossmann stellte sich kurz vor und ging zum „Wetterbericht“ über.

„Wie geht es uns heute Morgen?“

Gerda war die Erste, die sich vorstellte. „Bei mir scheint heute die Sonne, ich habe es endlich geschafft, die Scheidung einzureichen.“

Michael saß neben mir. Er erzählte von seinen Fortschritten im Kampf gegen seinen Lungenkrebs.

Ich war an der Reihe.

„Schöne Frau, welche Wetterlage bringst du mit?“

Wieso ist der mit mir per DU? Warum sagt der „schöne Frau“ zu mir? Warum haben meine Eltern, Lehrer, mein Mann noch nie zu mir „schöne Frau“ gesagt? Oder ist es sein Trick, der Trick der Natur, Verliebtheit zu steuern, damit Fortpflanzung garantiert wird?

„Danke der Nachfrage, bei mir ist es eher stürmisch, Blitz und Donner. Noch kein Regen, könnte aber folgen.“

Ich drückte gerade die ersten Tränen hinunter. Nein, nicht hier, nicht jetzt, keine Hilflosigkeit zeigen! Waren es vielleicht Freudentränen?

Vielleicht ist er ein Mensch, der mich einfach mag, mich vielleicht liebt, so wie ich bin, mit meiner Verrücktheit, meiner Hilflosigkeit und Sehnsucht, geheilt zu werden. Mein Puddingkörper erstarrte. Aber was ist denn schon Liebe?

„Spielarten und Spielregeln der Liebe“ von Eric Berne habe ich im Zug gelesen. Die Psychologie beschäftigt sich mit den zahlreichen Spielarten der Liebe und des Liebesentzuges. Das Buch lehrt uns, Liebe und Sexualität als substanzielles Spiel des Menschen zu begreifen, in dem der Einzelne bewusst seine Isolierung überwindet und sich im anderen erkennt.

Nach Auffassung der Evolutionspsychologen, lese ich heute im Internet, werden Frauen und Männer bei der Partnerwahl von Vorlieben regiert, die sich über Millionen von Jahren von unseren Vorfahren auf uns weitervererbt haben. Diese „Steinzeit-Psyche“ soll Frauen auf starke oder statushohe Beschützer-Typen reagieren lassen; Männer dagegen auf junge, hübsche Frauen. Schönheit gelte bei beiden Geschlechtern offenbar als Indiz für „gesunde Gene“, wie auch Humanethologen bestätigen. In diesem Zusammenhang wurde auch vielfach untersucht, was „Schönheit“ bedeutet, welche körperlichen Merkmale für beide Geschlechter als attraktiv gelten. Männer beurteilen demnach unbewusst die Fortpflanzungstauglichkeit. Das Verhältnis von Taille zu Hüfte ist optimalerweise 7:10. Im Vordergrund steht nicht so sehr die Schönheit der Form des Körpers oder das Gewicht, sondern ob es aufgrund des Körperbaus Schwierigkeiten bei der Geburt geben könnte. Männer lieben schöne Haut, Backenknochen, weniger Make-up, die Farbe Rot und ein Lächeln, gesunde junge Körper, die sich gut bewegen, einen guten Duft verströmen, eine höhere Stimme und sie achten auf die Länge und Struktur der Haare.

(Vgl. dazu: http://www.huffingtonpost.de/2014/10/30/was-maenner-attraktiv-finden_n_6073460.html)

Ob Dr. Rossmann eine Antwort auf die Frage, was Liebe zwischen Mann und Frau bedeutet, hat? Wie er wohl Treue definiert? Wie passen freie Liebe und Treue zusammen?

Der Gedanke an meine Krankheit verdrängte die Liebe. Ich hasste meine Krankheit. Niemanden und nichts habe ich in meinem Leben so gehasst wie die Epilepsie. Ich verabscheute sie, weil sie Tod und Verzicht bedeutete. Mein Blick war auf Dr. Rossmann fixiert. Würde er mir helfen können? Oder würde ich mit zwei Leiden nach Hause kommen: Der Epilepsie und dem Zustand der Verliebtheit? Fallsucht mal zwei?

Dr. Rossmann setzte sich neben mich. Ich genoss seine Nähe, wie er roch, seine Höflichkeit, seine Stimmlage. Ich fühlte mich wie eine Prinzessin.

„Ich bin krank.“ Die Tränen rollten über meine Wangen. „Ich bin Epileptikerin.“ Mein Schluchzen erschütterte den Raum. Alle im Raum hörten mir zu, niemand unterbrach mich. Gerda reichte mir ein Taschentuch.

„Und wer bist du noch? Welche Wünsche, Bedürfnisse, Sehnsüchte hast du? Was erwartest du dir vom Leben?“

„Das weiß ich nicht.“

„Das weißt du noch nicht.“

Ein Lächeln huschte über mein Gesicht.

An der Eingangstüre hing ein Plakat mit einem Gedicht von Rainer Maria Rilke:

Man muss den Dingen die eigene, stille, ungestörte Entwicklung lassen,

die tief von innen kommt und durch nichts gedrängt oder beschleunigt werden kann;

alles ist austragen – und dann gebären … Reifen wie ein Baum,

der seine Säfte nicht drängt

und getrost in den Stürmen des Frühlings steht,

ohne Angst, dass dahinter kein Sommer kommen könnte.

Er kommt doch!

Aber er kommt nur zu den Geduldigen,

die da sind, als ob die Ewigkeit vor ihnen läge,

so sorglos, still und weit.

Man muss Geduld haben

gegen das Ungelöste im Herzen

und versuchen,

die Fragen selber lieb zu haben,

wie verschlossene Stuben und

wie Bücher,

die in einer sehr fremden Sprache

geschrieben sind.

Es geht darum,

alles zu leben.

Wenn man die Fragen lebt,

lebt man vielleicht allmählich,

ohne es zu merken,

eines fremden Tages,

in die Antwort hinein.

Alle warteten, bis ich das Gedicht fertig gelesen hatte. Mein Herzschlag pendelte sich ein. Das Gefühl, verstanden zu werden, erwachte für Sekunden in mir. Der Balancierer spielte seine Symphonie.

Wer bestimmte in meinem Innenreich? Ich, die Unternehmerin, oder meine Mitarbeiter, die vielen Persönlichkeitsanteile in mir? Wenn ich eine Zählung machte, wie viele Mitarbeiter stimmten für mich? Eine Stimme, die sich ständig hervortat, kannte ich sehr gut. Es war der Zweifel: Du musst unsichtbar werden, dich übermalen, ausradieren, hier droht Gefahr!

Die Gruppe machte Pause. Ich stürzte mich mit einigen anderen in das Alltagsleben, auf die Straße, ins nächste Kaffeehaus. Der Kaffee schmeckte. Ich genoss die Distanz zu mir selbst, meinen Ansprüchen, meinen Illusionen. Ich fühlte mich zugehörig zu den Menschen, die Kaffee tranken und Kuchen in sich hineinschlangen. Wir hatten alle etwas Gemeinsames, das uns zusammenführte. Große oder kleine Probleme.

„Wann ist eine Lüge hilfreich?“, wollte Gerda von Michael wissen.

Wie so ein Lungenkrebs wohl ausschaut?

„Wenn eine Lüge Wirklichkeiten erzeugen kann, die uns helfen, aus der Dunkelheit zum Licht zu gelangen, ist sie okay. Eine Lüge, die in die Irre führt und Leid bringt, diese Form der Lüge ist abzulehnen.“

Michael musste ein Philosoph sein, dachte ich.

Ob Gerda Kinder hatte? Wie würden meine Kinder auf eine Scheidung reagieren?

Irgendetwas Trauriges, Verhärmtes sprach aus ihren Augen.

Ich konzentrierte mich auf meinen Zwetschkenkuchen. Köstlich, er war besser als zu Hause.

Dr. Rossmann war freundlich, lachte gerne, so wie ich. Er war schlau wie ein Fuchs, durchschaute Retter- („Du Arme“), Opfer- („Gib mir eins drauf “) und Verfolgerspiele („Du Schweinehund“). Er war Transaktionsanalytiker, sein Lehrmeister Eric Berne. Menschen mit ganz normalen Lebensproblemen scharten sich um ihn. Statt Freuds ÜBER-ICH, ES und ICH schwärmte er vom ELTERN-ICH, KIND-ICH und ERWACHSENEN-ICH. Die Idee, dass ich mein eigenes Kind noch immer in mir trug, beglückte mich. Ich wollte dieses KIND wiederentdecken und meiner Sehnsucht, geheilt zu werden, folgen.

Dr. Rossmann mochte mich. Während er mir zuhörte, fiel ihm, wie er mir später berichtete, das Märchen vom Froschkönig ein. Für ihn war ich eine Prinzessin, um die sich alles drehte, die noch nicht aus ihrem eigenen Lebensgefühl heraus strahlte. Ich war zu brav, zu tapfer. Manchmal zeigte ich mich verführerisch und hilflos. Dann bekam ich viel Beachtung und wurde mit Anerkennung belohnt. Aggressiv wurde ich selten.

In der Nacht blätterte ich damals in Erich Fromms Aggressionstheorie.

Heute schalte ich meinen Computer ein und gebe „Erich Fromm“ in die Internetsuchmaschine ein. Unter https://de.wikipedia.org/wiki/Aggression finde ich u. a. Folgendes: „Als Anlage-Faktor geht er in seiner Charaktertheorie von menschlichen Grundbedürfnissen (Sicherheit, Stimulation, Erfolg, Freiheit) aus, die bei der Sozialisation eines Menschen mehr oder minder gut erfüllt werden, wodurch sein individueller Charakter geprägt wird. Dieser individuelle Charakter muss sich mit der ihn umgebenden Gesellschaft (dem sozialen Charakter) auseinandersetzen. Ist der individuelle Charakter genügend stark ausgeprägt, kann er Frustrationen besser verkraften oder in positive Aktionen umsetzen.

Im Grunde war ich überfordert mit der Krankheit, der Familie und der realen Welt. Mit meiner Bedürftigkeit, die ich teilweise noch gar nicht kannte, meinen dunklen Seiten, der Wut, der Trauer, den Sehnsüchten blieb ich allein. Eine tiefe Angst drang durch meinen Panzer.

Thanatos, der nach Freud benannte Todestrieb, fiel mir ein. Seine Aufgabe war es, Einheiten zu zerstören, wohingegen Eros, oder der Liebestrieb, Einheiten schaffen möchte. Diese beiden Triebe laufen immer gleichzeitig, las ich, sodass wir beispielsweise essend eine Sache zerstören, um andererseits uns aufzubauen. So haben die Triebe die Aufgabe, sich gegenseitig zu bremsen, nicht aber zu beschneiden, um negative Folgen eines einseitigen Prozesses zu vermeiden. Der Todestrieb, die Aggression, stellt sozusagen ein psychisches Energiepotenzial dar, das eingesetzt werden kann, um zu verändern. Ja, verändern will ich mich, vor allem meine Krankheit.

Ich bewunderte Menschen, die ein gesundes Aggressionspotenzial abrufbar hatten. Sie konnten sich in schwierigen Situationen behaupten, ohne ihr Gesicht zu verlieren.

In meiner Familie hingegen war Aggression tabu. Lieber bescheiden bleiben, weniger verletzen und weniger verletzt werden, war das Motto, unter dem ich aufgewachsen war. Die Menschen um mich herum hatten es satt, Krieg zu führen. Ich musste erst Krieg führen lernen, den Krieg gegen meine Anpassung, den Krieg gegen meine ausgeflippten Nervenzellen.

Ich konnte nie sicher sein, welchen Tanz zwischen Leben und Tod meine Nervenzellen inszenierten. Früher bewegten sie sich zwischen Auf- und Entladung so lange hin und her, bis sie eine gute Balance gefunden hatten. Auf diese Weise konnte ich mein Bewusstsein aufrechthalten. Heute konnten sie jede Sekunde zu feuern beginnen, ohne die Balance wiederzufinden.

Ich beneidete Menschen mit narzisstischem, manischem Verhalten. Für mich waren damals Zeichen einer Manie Menschen mit übermäßiger Energie, überschäumender Aktivität, einer geschärften Wahrnehmung, einem gesteigerten neugierigen Verhalten, einer großen Risikobereitschaft. Mut statt Wut.

Ich bewunderte Menschen, die eine positive Einstellung zu sich selbst hatten, und glaubte, dass diese Menschen ein stabiles Selbstwertgefühl hätten, das auch erhalten blieb, wenn es Rückschläge gab. Narzisstische Menschen, so dachte ich damals, ruhen in sich selbst, strahlen Wärme aus. Ihr Glaube an ihre eigene Besonderheit schmerzte mich. Die zweite Seite der Medaille von Manie und Narzissmus war mir damals nicht bekannt.

Nur, was halfen mir all die Bücher, die „objektiv messbaren Fakten“ der Medizin? Was half mir die präzise Diagnose, wenn die Angst mich würgte? Wie skeptisch musste ich den Fachverbänden, der Pharmaindustrie gegenüberstehen?

Ralf fiel mir ein, mit seinem verstümmelten rechten Arm. Ärzte hatten seiner Mutter, als sie schwanger war, gezielt das Beruhigungs- und Schlafmittel Contergan verschrieben. Es dauerte vier Jahre, bis das Medikament vom Markt genommen wurde.

Wem konnte ich vertrauen?

Was verstand die Wissenschaft unter Vertrauen?

In welchem Buch musste ich nachlesen?

Der Balancierer – Mein Leben mit Epilepsie

Подняться наверх