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Der Märchenprinz

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Es war das Jahr 1967. Wie im Märchen stand er eines Tages vor mir, Prinz Georg. Er forderte mich zum Tanz auf, erklärte und zeigte mir die Welt. Mit mir wollte er sein Leben teilen und Kinder haben. Ein Prinz, der mich liebte, verehrte und mich zum Traualtar führen wollte, war der Richtige. Er konnte sehr gut tanzen, ganz zu schweigen von seinen furchtlosen Bewegungen im Tiefschnee. Was er sagte, hatte Hand und Fuß und klang nach Abenteuer, nach fremden Welten.

1967 heirateten wir in der Kapelle des Schlosses Eggenberg.

Das Renaissanceschloss der Fürsten Eggenberg ist umgeben von einem herrlichen Park. Ich schlenderte wie eine Prinzessin durch den Park, bevor ich den Bund fürs Leben schloss.

1972 kam unsere erste Tochter Lisa zur Welt. Um 18 Uhr ging ich ins Sanatorium, um 7 Uhr in der Früh war sie dann da. Die Nacht war lang, umso größer die Freude, als sie dann in meinen Armen lag.

Im Februar 1974 folgte unsere zweite Tochter Nora. Es war eine einfache Geburt. Wir beide ließen uns im Sanatorium von den Schwestern und Ärzten verwöhnen. Als wir nach Hause kamen, war für die kleine Familie alles liebevoll vorbereitet. Ende 1974 zog die junge Familie in ihr Traumhaus nach Salzburg. Hier blickte ich gerne die Bibliothekswände entlang hinaus in den Garten. Im Esszimmer hing ein Portrait meiner Mutter, das sie als Siebzehnjährige zeigte: Die Haare zu einem Bubikopf geschnitten, schöne braune, mandelförmige Augen, leicht wulstige Lippen, ein gespitzter Mund, markante Wangenknochen, eine gleichmäßige Nase, ein lächelnder und gleichzeitig ernster Blick. Kein Wunder, dass mein Vater sich in dieses Mädchen verliebt hatte.

Mein Blick wanderte von dem Bild meiner Mutter zur Löwin aus Ton, die im Wohnzimmer auf einem geschwungenen Eisengestell thronte. Sie saß majestätisch wie eine Königin auf ihren muskulösen Hinterbeinen. Ihre Pranken konnten Angst einflößen. Sie waren zudem fantasievoll verziert. Ihre Vorderbeine stützten den graziösen Körper und anmutigen Kopf. Sie war eine natürliche Schönheit. Ich liebte ihre wachsamen Augen und Ohren, ihre feinfühlige Nase. Sie roch jede Gefahr zur rechten Zeit, um die Familie zu schützen. Darum wollte ich so sein wie sie, eine liebende Partnerin und Mutter. Die Familie, so dachte ich, ist das kleinste soziale Netz der Gesellschaft. Wenn sich Familien gesund entwickeln, wird sich die Welt zum Besseren ändern.

Ich war keine Frau, die auf den Feldern arbeiten musste. Ich war eine Frau mit normalen Händen, nicht zu breiten und auch nicht zu schmalen Fingern. Die Adern meiner Hände waren gut sichtbar und fühlbar. Lebensadern, die keine Narben erkennen ließen. Die Haut, die meine Hände umhüllte, war nicht sehr geschmeidig, aber auch nicht schrumpelig. Meine Fingernägel waren kurz und ohne Lack. Ob meine Hände und Füße attraktiv waren, danach hatte ich mich damals, als junge Frau und Mutter, nicht gefragt. So wie ich auch auf anderen Ebenen nicht viele Fragen stellte. Wie schön oder hässlich ich war, wie ich auf andere Menschen wirkte, welcher Körper mich durch die Gassen trug, wie ich meine Arme, Beine, Hüften schwang, wenn sich Menschen näherten. Ich sprach, ging, saß und bewegte mich „normal“. Für mich bedeutete normal damals, dass ich keine andere sein wollte als die, die ich war.

Die Familie war mein Lebensinhalt. Mutterschaft war für mich eine hegende Beziehung im gegenseitigen Vertrauen, in Liebe und Spiel, Selbstrespekt und Respekt vor dem anderen. Wenn Lisa zu weinen begann, nahm ich sie in meine Arme und zeigte ihr Haus und Garten. Gerne erzählte ich ihr Geschichten und sang sie in den Schlaf. Und ich liebte die verzweifelten Minifältchen auf Lisas Gesicht, wenn sie zu weinen anfing und noch nicht wusste, ob sie sich freuen sollte, dass der Schlaf vorbei war und das Leben mit all den Abenteuern wieder begann, oder ob sie sich ärgern sollte, weil sie aus ihrer Traumwelt gerissen worden war. Bald würde Lisa scharfe Messer, offene Türen und Fenster entdecken, Sand, Cremen, saure Saucen, Putzmittel kosten wollen. Ihre winzige Hand berührte meine Fingerspitzen. Ihr kleiner nackter Fuß meinen Oberschenkel. Einmal stupste ich Lisa, dann Lisa mich. Ich wollte, dass Lisa mir zeigte, wie viel Nähe oder Distanz sie brauchte. Ich wartete geduldig auf Lisas Reaktionen, um zu entscheiden, wie es weiterging.

Jeder Tag war für alle neu und aufregend, das Leben wunderschön.

Der Balancierer – Mein Leben mit Epilepsie

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