Читать книгу Karo - Die Reise - Ingo Boltshauser - Страница 12
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ОглавлениеIn den folgenden Tagen blieb das Wetter nasskalt und es gab für Alle wenig zu tun. So blieb Karo viel freie Zeit, die er zum grössten Teil bei Walda verbrachte. Noch immer traf er den Fremden oft in Trauer versunken an, doch sobald Karo in der Hütte auftauchte, setzte er eine gezwungen heitere Miene auf und liess sich bereitwillig in ein Gespräch verwickeln. Täglich wurden seine Sprachkenntnisse besser, lediglich seinen schweren Akzent konnte er nicht ganz ablegen. Auch Matu besuchte sie, wann immer er im Unterdorf abkömmlich war.
Ihr Eindruck, dass Nala es begrüssen würde, wenn sie sich zur Reise in den Süden entschlössen, verdichtete sich immer mehr zur Gewissheit. Immer wenn ihr Gespräch eine Wendung in diese Richtung nahm, stand sie auf, verschwand im Nebenraum und klapperte auffällig laut mit irgendwelchen Töpfen. Sie äusserte sich zwar nie zum Thema, aber wie sie das machte, war schon sehr auffällig.
Endgültige Sicherheit erhielt Karo, als ihn die Heilerin eines Abends am Südtor abfing und ihm einen grossen Lederbeutel in die Hand drückte. „Hier“, sagte sie.
Neugierig öffnete er den Beutel. Darin befanden sich etwa ein halbes Dutzend verschlossene Tontöpfchen und ebenso viele kleine Stoffsäckchen, die leicht knisterten, als er in den Beutel griff. „Medizin“, beantwortete Nala seinen fragenden Blick. „Grosse Jungs wie du entfernen sich ja gern einmal von ihrem Dorf, und dann bist du unter Umständen froh darüber.“ Anschliessend setzten sie sich an die Aussenmauer der Dorfumfriedung unter einen Vorsprung, der sie vor dem Nieselregen schützte, und Nala erklärte ihm in aller Ruhe die Anwendung der verschiedenen Arzneien. Auch wenn sie dabei kein Wort über den Süden verlor, so war Karo doch, als hätten sie in diesem Moment einen Pakt geschlossen.
Am nächsten Tag waren Karo und Matu zum Ziegenhüten eingeteilt. Sie trieben die Tiere auf der Nachtkoppel zusammen und führten die kleine Herde dann gemächlich auf einen nahen, noch nicht abgeweideten Hügel. Noch immer war es kalt, doch immerhin regnete es nicht mehr.
Während sie am Waldrand sassen und den Tieren beim Grasen zusahen, plapperte Matu wie üblich munter drauflos. Er erzählte davon, dass das Unterdorf sich entschieden habe, nach der Aussaat ins Hauptdorf umzuziehen, dass seine grosse Schwester dann mit Lomo, dem Enkel von Boro zusammenziehen wolle und dass ihm selber Vira, die Schwester von Karo, sehr gefalle. „Ich glaube, ich gefalle ihr auch. Auf jeden Fall lächelt sie immer und wird rot, wenn wir uns begegnen.“
„Mmh“, antwortete Karo nur.
„Hör mal“, entrüstete sich Matu. „Ich gestehe dir gerade, dass ich mich in deine Schwester verliebt habe, und alles, was du dazu sagst, ist ‚Mmh’?“
Karo ging nicht darauf ein, sondern sagte stattdessen: „Wir müssen endlich ernsthaft über die Reise reden.“
„Welche Reise?“, fragte Matu dümmlich zurück.
„Du weisst, was ich meine.“
„Ach so, DIE Reise.“ Dann, nach einem Moment des Schweigens, fuhr er fort: „Du willst also wirklich gehen?“
Von Wollen konnte keine Rede sein. Doch je intensiver er in den vergangenen Tagen darüber nachgedacht hatte, desto wichtiger schien es ihm, das Abenteuer zu wagen. Die Begegnung mit Nala am Vorabend hatte schliesslich den Ausschlag gegeben: Er würde gehen, notfalls auch allein.
All das erzählte er Matu und wartete anschliessend gespannt auf dessen Antwort. Lange sagte sein Freund kein Wort. Er starrte nur Löcher in die Wolken und kaute geistesabwesend auf dem Grashalm herum, den er sich zwischen die Lippen gesteckt hatte. Endlich wandte er sich zu Karo um, schaute ihm offen in die Augen und sagte: „In Ordnung, ich bin dabei.“
Karo war unendlich erleichtert. Die Vorstellung, alleine auf Wanderschaft gehen zu müssen, hatte ihm mehr Angst gemacht als er zugegeben hätte. „Übrigens“, sagte er, „Vira findet dich auch ganz toll, weiss der Geier warum. Aber das muss wohl warten, bis wir aus dem Süden zurück sind.“
Sie beschlossen, direkt nach der Aussaat aufzubrechen. Einerseits, weil sie ihr Volk während der anstrengendsten Zeit des Jahres nicht im Stich lassen wollten, andererseits, weil ihnen so noch einige Zeit blieb, die nötigen Vorbereitungen zu treffen. Ausserdem hofften sie, dass ihr Verschwinden für eine Weile unbemerkt bleiben würde, wenn sie aufbrachen, während alle damit beschäftigt waren, den Unterdörflern beim Umzug ins Hauptdorf zu helfen. In dieser Zeit würde niemand so genau wissen, wer gerade wo war, und das sollte ihnen einen Tag Vorsprung geben. Jedenfalls rechneten sie sich das so aus.
"Noch etwas", sagte Karo, während er aufstand, um einer Ziege zu Hilfe zu eilen, die sich im dichten Brombeerbuschwerk am Waldrand verheddert hatte. "Das muss unter uns bleiben. Walda und Nala ahnen zwar etwas, aber dabei sollten wir es belassen." Mit diesen Worten liess er Matu allein und befreite das Tier aus seiner misslichen Lage.
Am nächsten Tag drückte die Sonne durch und vertrieb die Wolken. Zwei Tage später waren die Böden soweit abgetrocknet, dass die Feldarbeit beginnen konnte. Boro rief beide Dörfer für den nächsten Morgen bei Sonnenaufgang auf dem grossen Innenhof zusammen, um die Arbeiten einzuteilen.
Karo staunte nicht schlecht, als er Walda aus Nalas Hütte treten sah. Die Heilerin wollte ihn zwar zurück bugsieren, doch er liess sich nicht abschieben. "Ich auch helfen wollen" raunte er ihr so laut zu, dass es alle auf dem Platz verstanden.
Er hätte wohl besser auf Nala gehört, denn schon nach kurzer Zeit auf dem Weizenfeld, wo sie Steine auflasen, die der Winterfrost nach oben gearbeitet hatte, stand ihm der Schweiss auf der Stirn. Mit fast jedem Schritt schien es, als falle es ihm schwerer, das verletzte Bein zu beugen. Doch selbst jetzt noch wies er störrisch sämtliche Angebote, er solle sich ein wenig ausruhen, zurück. Erst als es darum ging, den mittlerweile vollen Korb mit den Steinen am Feldrand auszuleeren, liess er sich von Karo helfen.
Doch mit jedem Tag wurde Walda kräftiger, und bis alle Felder bestellt waren, stand er den anderen Dorfbewohnern in nichts mehr nach. Nur manchmal, wenn er sich unbeobachtet fühlte, verzog er das Gesicht in stillem Schmerz. Abends, wenn sie sich müde von den Äckern heimschleppten, sah man auch, wie er immer noch leicht hinkte.
Karo nutzte die Zeit auf dem Feld, um möglichst viele Informationen zu sammeln. Einmal liess er sich in Arus Gruppe einteilen, weil der alte Jäger gern damit angab, schon weit herumgekommen zu sein. Während sie die grossen Erdklumpen, die nach dem Pflügen übrig geblieben waren, mit Spitzhacken zerkleinerten, fragte er ihn so behutsam wie möglich aus, damit dieser keinen Verdacht schöpfte. Doch bald stellte sich heraus, dass der Alte früher zwar weit in den Norden vorgestossen war, um Salz gegen Felle zu handeln, dass er es aber noch nie bis an den Fuss der grossen Berge geschafft hatte, geschweige denn darüber hinaus. Immerhin lieferte er Karo eine ganz brauchbare Beschreibung der ersten Wegstrecke, gespickt mit wilden Jägergeschichten, von denen Karo nicht einmal die Hälfte glaubte.
Die meiste Zeit aber schaute Karo, dass er an der Seite von Walda arbeiten konnte. Zum einen verstand er sich mit dem traurigen Fremdling bestens, zum andern musste er in Gesprächen mit ihm nicht derart aufpassen, sich zu verplappern, denn Walda hatte schnell einmal gemerkt, dass es Karo und Matu ernst war mit ihrem Plan. Ausserdem war Walda fast ein Jahr auf Wanderschaft gewesen. Niemand wusste besser, welche Ausrüstung für solch ein Unternehmen nötig war.
Mit Matu hatte er in diesen Tagen wenig zu tun, denn dieser liess keine Gelegenheit verstreichen, neben Vira zu arbeiten. Die ganze Zeit steckten die beiden die Köpfe zusammen, flüsterten und kicherten. Die anderen Jungen im Dorf machten schon dumme Sprüche, aber das schien die beiden nicht zu stören. Zwischendurch versuchte Karo immer wieder, die Konzentration seines Freundes auf die bevorstehende Aufgabe zu lenken, und meistens hielt das dann auch eine oder zwei Handbreit lang an, doch sobald Vira in der Nähe auftauchte, waren die guten Vorsätze wieder vergessen.
So war es weitgehend Karo allein, der die Reise vorbereitete. Abends, wenn die andern todmüde am grossen Feuer auf dem Dorfplatz beisammen sassen, schlich er jeweils davon und stahl im Lagerhaus die Ausrüstung zusammen, die er für nötig hielt. Das meiste davon konnte das Dorf problemlos entbehren: überzählige Felle gegen die Nachtkälte, Töpfe, die nicht mehr gebraucht wurden, seit die Zahl der Dorfbewohner ständig schrumpfte, eine Axt, eine alte Säge, Zunder, Kienspäne, Feuersteine und ein Feuerbrett, Kerzen und so weiter. All das versteckte er in einer kleinen Höhle nahe der Nachtkoppel und tarnte es sorgfältig mit Zweigen. Am meisten Skrupel hatte er, als er sich an den Lebensmitteln vergriff. Doch er beruhigte sein Gewissen mit dem Gedanken, dass sie auch essen mussten, wenn sie hier blieben. Trotzdem hielt er sich zurück. Sie würden halt unterwegs ein paar Mal Halt machen müssen, um zu jagen.
Als nach zehn Tagen alle Äcker bestellt waren, besprach sich Karo mit seinen Eltern und ging danach in den Wald. Sein Weg führte ihn auf die lang gezogene Hügelkette, die sich vom Dorf in Richtung Osten erhob. Im Halbschatten des Waldes war es angenehm kühl. Vögel zwitscherten, und Karo blieb lange stehen, um ein Eichelhäherpaar beim Nestbau zu beobachten. Durch die weit stehenden Bäume sah er hoch am Himmel einen Bussard träge seine Runden drehen. Dann hatte er den Grat erreicht und folgte ihm, bis er immer schroffer und felsiger wurde.
Hier fand er, was er gesucht hatte. An einer Stelle, die von einem Sturm vor Jahren leergefegt worden war, standen viele junge Eschen dicht an dicht. Er entschied sich für eine gedrungene, aber gerade gewachsene mit einem Stamm so dick wie sein Handgelenk, grub sie aus und trug sie heim.
Am Nachmittag gingen sie alle in den Ahnenwald. Vor dem Grabhügel von Saro blieben sie stehen. Die anderen Grabhügel des letzten Winters waren noch leer. Karos Vater hob ein Loch aus, und gemeinsam setzten sie die Esche. Dann stellten sie sich im Kreis um den Baum auf. Es fielen keine Worte, aber in diesem Moment waren sie sich so nahe wie nie. Seine Mutter, Vira und Hako weinten, und auch seinem Vater stand das Wasser in den Augen. Nur der kleine Kiri verstand nicht recht, was hier passierte und wurde zappelig. Karo spürte, wie sich in seinem Bauch Hitze breit machte. Wie ein Stück Glut stieg sie in ihm empor und blieb ihm im Hals stecken. Dann überwand sie auch dieses Hindernis, und ihm entfuhr ein lautes Schluchzen. Die Tränen schossen ihm in die Augen, und dann machte er etwas, was er schon lange nicht mehr gemacht hatte. Er warf sich seiner Mutter um den Hals und begann hemmungslos zu weinen.
Lange Zeit standen sie so da, in wortlose Trauer gehüllt. Dann wischte sich sein Vater mit dem Handrücken über die Augen, trat vor und umfasste den Stamm. „Gute Reise“, flüsterte er, dann wandte er sich ab und ging weg. Die ganze Familie tat es ihm gleich, und jeder fand seine eigenen Abschiedsworte. Als seine Mutter vortrat, hielt sie die Fuchsfellmütze, die sie Saro erst vor wenigen Monden genäht hatte, zwischen den Fingern. Sie hatte sich so sehr für seine Genesung eingesetzt, und diese Mütze war für sie das sichtbare Symbol all ihrer Bemühungen um sein Leben. Sie hob an, etwas zu sagen, brach in Schluchzen aus und legte die Mütze wortlos auf das Grab. Dann warf sie sich weinend in die Arme ihres Mannes.
Karo entbot seinem Bruder den Gruss als letzter der Familie: „Gib mir Kraft.“ Dann drehte auch er sich um und ging.
In respektvollem Abstand hatte sich das halbe Dorf im Wald versammelt. Alle, die sich der Familie von Karo nah fühlten, waren gekommen. Jetzt trat einer nach dem anderen vor, legte die Hand an den Stamm, flüsterte ein paar Worte und ging zurück ins Dorf.
Karo war schon fast am Nordtor angelangt, als er hinter sich eilige Schritte vernahm. Es war Walda. Ein Stück gingen sie schweigend nebeneinander her. Dann sagte Walda: „Das sein gutes Dorf. Aber nicht mein Dorf. Ich mitkommen und suchen neues Land.“