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Nach dem Mittagessen wurden alle Dorfbewohner auf den offenen Platz zwischen den Hütten gerufen. Die Sonne schien, und ein lauer Wind strich über die Dächer. Als sich alle in einem weiten Kreis niedergelassen hatten, trat Boro gemessenen Schrittes in die Mitte.

„Es ist nun bereits das dritte Mal, dass wir in dieser Sache debattieren“, hob er an. „Heute müssen wir zu einer Einigung kommen, denkt daran. Hört den anderen zu, wägt die Argumente gut ab. Wenn ihr alle bloss auf euren Meinungen beharrt, dann sitzen wir im Sommer noch hier.“ Langsam drehte er sich im Kreis und schaute die Anwesenden eindringlich an. Von irgendwo erklang ein nervöses Lachen.

Überraschend behände drehte Boro sich um und stiess seinen Zeigefinger in Richtung des Übeltäters, als wolle er ihn aufspiessen. „Du findest das lustig? Du denkst, die Uneinigkeit spiele dir in die Hände, weil du bleiben willst? Ich sage dir: Das Lachen wird dir schneller vergehen als du glaubst. Ihr alle wisst, dass wir Alten der Meinung sind, dass unser Dorf hier keine Zukunft hat. Ihr müsst uns natürlich nicht folgen, ihr könnt auch denken, dass wir hier sicherer sind als da draussen. Aber eines muss euch klar sein: Uneinigkeit ist das grösste Gift für unsere Gemeinschaft. Geht also vorsichtig um mit euren Worten. Versucht zu verstehen.“

Dann wandte er sich an die Jungen: „Ich setze grosse Hoffnungen in Euch. Das ist auch der Grund, warum wir mit einer Tradition gebrochen haben, die so alt ist wie unser Dorf selbst, und euch in den Kreis geladen haben. Aber ich warne Euch“, fuhr er mit gespielter Strenge fort. „Erweist euch dieser Ehre als würdig und argumentiert klug.“ Und mit einem kritischen Rundblick in die Versammlung: „Oder zumindest klüger als eure Eltern.“

Dann ging er zurück zu seinem Platz und setzte sich zu den anderen Alten auf den langen Baumstamm, der dort lag.

Eine Weile herrschte betretenes Schweigen. Schliesslich begab sich Nala in den Kreis. Sie erzählte die ganze Geschichte von Walda, die sie heute Morgen gehört hatten. Sie liess nichts weg und fügte nichts hinzu, und in Karo erwachten die grausigen Bilder zum wiederholten Mal zum Leben. „Die Barbaren werden unser Dorf nicht heute oder morgen überfallen“, schloss sie, „aber sie sind da. Auch die Kälte wird uns nicht heute oder morgen umbringen, aber sie kommt näher. Die Stämme weiter im Norden wurden von ihr schon vertrieben. Lasst uns das eine Lehre sein.“

Karo war überzeugt, dass sich jetzt eine Mehrheit des Dorfes zur Wanderung entschliessen würde, ihm selber war es so ergangen, als er von den grausigen Zuständen im Norden erfahren hatte. Aber das war nicht der Fall. Diejenigen, die bleiben wollten, sahen in der Geschichte vielmehr einen Beleg dafür, dass man bleiben sollte. War Waldas Stamm nicht umgekommen, als er auf Wanderschaft war? Hätten sie sich auf ihrem eigenen Land nicht besser verteidigen können? Und was bedeutete es schon, wenn die Winter im Norden kälter waren? Sie wohnten hier schliesslich näher an der Sonne.

Und so ging es den ganzen Nachmittag hin und her. Die, die gehen wollten, berichteten von den hohen Bergen im Süden, deren Gipfel heute den ganzen Sommer über bis tief in die Täler hinein ein weisses Kleid trugen und die Vorboten des ewigen Winters seien. Die Gegner beschrieben die Strapazen, die sie bei der Überquerung erwarten würden, in den schauerlichsten Bildern. Die einen malten den langsamen Hungertod aus, der hier auf sie wartete, und die anderen den schnellen, der sie auf der Wanderung ereilen würde. Keine der Parteien gab einen Deut nach, und wenn sich, was selten vorkam, ein Junger zu Wort meldete, so betete er meist nur das nach, was schon seine Eltern vorgetragen hatten.

Besorgt schaute Karo zum Ältestenrat, und was er sah, gefiel ihm nicht. Die sechs Frauen und vier Männer sassen mit hängenden Schultern an ihren Plätzen und schienen der hin- und herbrandenden Diskussion gar nicht mehr zuzuhören. Sie tuschelten miteinander, und dann, als die fruchtlose Auseinandersetzung für einen Moment stockte, erhob sich Boro und schlurfte in die Mitte. „Lasst uns abstimmen“, sagte er, und man merkte ihm an, dass er sich nichts davon versprach. „Wer gehen will, versammle sich vor dem Südtor, und wer bleiben will, vor dem Nordtor. Wer immer noch nicht weiss, was er will, bleibe in der Mitte.“

Karo stand auf und schritt zügig zum Südtor. Demonstrativ vermied er es, sich nach seinen Eltern umzudrehen, aber die Erleichterung war gross, als er merkte, dass seine ganze Familie der gleichen Meinung war wie er. Auch Nala gesellte sich zu ihnen, und zu seiner grossen Freude bemerkte er, dass auch Matu und seine Leute zum Südtor gekommen waren. Er schaute zum Nordtor hinüber: Auch dort stand eine grosse Traube Menschen, soweit er es beurteilen konnte, deutlich mehr als vor dem Südtor.

Er beobachtete, wie sich die Ältesten in zwei Gruppen aufteilten, um sie zu zählen. Als sie wieder zusammentraten, konnte er bereits an ihren Gesichtern erkennen, dass er mit seiner Schätzung richtig gelegen und sich eine Mehrheit zum Hierbleiben entschieden hatte.

Schliesslich schritt Boro wieder in die Mitte des Platzes und rief das Dorf zusammen. Er verkündete das Ergebnis, und man sah ihm an, wie schwer er sich damit tat.

„Ihr wisst, was das heisst“, schloss er. „Wir müssen die Felder bestellen, wenn wir den kommenden Winter hier überleben wollen. Geht jetzt heim. Ab morgen wartet viel Arbeit auf uns.“

Damit schlurfte er davon und verschwand, ohne sich noch einmal umzudrehen, in seiner Hütte.

Karo - Die Reise

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