Читать книгу Karo - Die Reise - Ingo Boltshauser - Страница 6
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ОглавлениеDer Fremde starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an und tastete mit der rechten Hand hektisch nach seinem Wurfspeer, der aber ausserhalb seiner Reichweite lag. Karo merkte, dass er den Bogen noch im Anschlag hielt und liess ihn langsam sinken. Allerdings hielt er die Sehne nach wie vor unter leichter Spannung.
Er besah sich den Mann, der sich nun erschöpft zurücksinken liess, etwas genauer: Irgendwie hatte er sich immer vorgestellt, dass Fremde auch fremdartig aussahen, doch das traf nicht zu. Mit seinem langen, braunen Haar und der hellbraunen, wettergegerbten Haut wäre er in ihrem Dorf nicht aufgefallen. Auch seine Kleidung aus Leder und grober Wolle unterschied sich nicht von der ihren. Allerdings musste der Mann eine schwere Zeit hinter sich haben. Seine Gesichtshaut spannte über die Wangenknochen, und die geöffnete Jacke gab den Blick auf einen dreckigen und ausgemergelten Oberkörper frei. Am linken Oberschenkel war seine Hose zerrissen, und Karo sah eine tiefe, schlecht verschorfte Wunde. Was er dann bemerkte, liess ihm den Atem stocken: In der Wunde steckte noch der abgebrochene Schaft eines Pfeils.
Karo kannte die Geschichten von verfeindeten Stämmen, die mit Waffen aufeinander losgingen. Aber seit er sich erinnern konnte, war noch nie ein Mensch im Tal durch die Hand eines anderen gestorben oder auch nur schwer verletzt worden. Kämpfe auf Leben und Tod waren für ihn nur Schauergeschichten, die die Alten an langen Winterabenden erzählten.
Bis jetzt.
Der Fremde sah ihn immer noch aus schreckgeweiteten Augen an. Karo traf eine Entscheidung. Er legte den Bogen weg, schnallte seinen Dolch ab und ging, die Handflächen nach aussen gedreht, langsam zum Verletzten hinab. Er kniete sich hin, tippte an seine Brust und sagte: „Ich heisse Karo.“
„Dast“, stöhnte der Fremde, der sich nun merklich beruhigt hatte.
„Du heisst Dast?“, fragte Karo und zeigte auf ihn.
„Dast“, wiederholte dieser, blickte aufs Wasser und wedelte nachdrücklich mit der linken Hand.
Karo folgte dem Blick und verstand. Zwei Schritte neben dem Mann lag sein Bündel, daneben ein leerer Wasserbeutel. Er füllte ihn am nahen Fluss und reichte ihn dem Fremden, der mit gierigen Schlucken trank.
Karo wühlte in den Taschen seiner Jacke und förderte zwei getrocknete Apfelringe und einen Streifen geräuchertes Ziegenfleisch zutage. Beides bot er dem Fremden an. Zum ersten Mal zeigte dieser den Anflug eines Lächelns, als er das Essen annahm.
„Dank.“
„Bitte.“
Ermutigt durch diesen Erfolg versuchte Karo erneut, mit dem Fremden zu reden. Dabei erfuhr er, dass dieser Walda hiess, aber das war es dann auch. Zu gerne hätte er erfahren, ob er allein war, ob er Freunde in der Nähe hatte oder - davor fürchtete sich Karo am meisten - ob seine Feinde noch auf ihn lauerten. Doch weder seine Worte noch seine Gesten wurden von diesem verstanden.
Schliesslich versuchte er, ihm mit Worten und Handzeichen klar zu machen, dass er das Kanu holen und ihn in sein Dorf bringen wollte, doch auch das verstand der Fremde nicht. Also begnügte er sich damit, ihm beruhigend auf die Schulter zu klopfen. Dann ergriff er seine Waffen und ging zu seinem Kanu.
Der Weg flussaufwärts war eine mühselige Plackerei. Paddelnd kam er gegen die Strömung nicht an, deshalb hangelte er sich durch das Unterholz am Ufer und zog das Kanu hinter sich her. Einmal brach ein Ast, und er fiel in den Fluss und trieb fast den gesamten Weg zurück, den er sich schon erkämpft hatte.
Doch schliesslich hatte er es geschafft. Wenige Schritte oberhalb des Verletzten fand er eine junge Weide, an der er sein Boot anbinden konnte. Er gab gerade so viel Leine, dass es direkt neben diesem zu liegen kam.
Er kletterte die Böschung hoch. Der Fremde lag noch am gleichen Ort. Er hatte die Augen geschlossen. Sein Atem ging flach und rasselnd, und er reagierte auch nicht auf Karos Rütteln. Also warf Karo sein Bündel ins Boot. Dann zog er den Fremden an den Schultern ans Wasser. Jedesmal, wenn sich sein Bein bewegte, entrang sich seiner Kehle ein Stöhnen, doch er kam nicht mehr zu Bewusstsein. Als es Karo endlich gelungen war, den Fremden ins Kanu zu hieven, waren seine Beine taub wegen der Kälte des Wassers. Am Oberkörper hingegen triefte ihm der Schweiss aus allen Poren. Er machte die Leine los und paddelte so schnell er konnte zurück zu seinen Freunden.