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1 - Clairchens Träume

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Das Städtchen Kattern hatte den ganzen Tag träg in der Sonne gelegen. Am Abend rollte ein Personenzug in den Bahnhof. Niemand stieg aus. Dann fuhr der Zug weiter, nach Breslau. Auf der Hauptstraße blieb es ruhig, wie gewöhnlich

Im Kloster Zum Guten Hirten waren leichtverwundete Soldaten untergebracht, die über kurz oder lang mit ihrer Entlassung zu rechnen hatten. Die meisten würden zurück an die Front geschickt werden.

Trotz seiner Handverletzung hatte Helmut genügend Ausgang. Heute, am ersten August 1944, war er in Breslau im Kino gewesen. Im Capitol gab es den Farbfilm Immensee mit Christina Söderbaum. Großartig! Wie schön man doch so der Gegenwart entfliehen konnte.

Das Leben ging weiter, trotz allem. Und neues begann ganz unbefangen und unschuldig. Am siebenundzwanzigsten Juli war er Onkel geworden. Die Schwester, Liesel, hatte genau an Vaters Geburtstag zuhause einen Jungen zur Welt gebracht. Sein Schwager hatte gerade noch rechtzeitig mit dem Fahrrad die Hebamme holen können. Diese Freude rundherum! Gott sei Dank, dass alles gut abgelaufen war.

Mit Clairchen war er im Capitol gewesen. Danach tranken sie Kaffee und machten einen beschaulichen Spaziergang durch den Scheitninger Park.

Da Helmut um acht Uhr Kameradschaftsabend hatte, fuhr Clairchen mit der Bahn frühzeitig allein nach Kattern zurück. Als er dann später, gegen zehn, nachkam, holte sie ihn vom Bahnhof ab, um noch bis zum Lazarett mitzugehen. Ausgang gab es nur bis um elf Uhr.

Es war eine wunderschöne Mondnacht. Ihr gebräuntes Gesicht wurde von einem weißen Halstuch in himmelblauem Mantelkragen gesäumt. Sie lächelte immerzu.

In seinem Kopf ging es hin und her. Clairchen war ein liebes, ein süßes Geschöpf. Man durfte sie nicht ausnutzen und dann vielleicht auch noch enttäuschen. Sie trug einen Verlobungsring und er musste an sein blondes Mädel denken. Aber er mochte Clairchen sehr und nahm sich vor, ihre Freundschaft zu gewinnen. Keinesfalls mehr.

Am nächsten Tag gab es aufregende Gerüchte und Parolen unter den Studenten. Helmut war tief betroffen. Man wollte von der bevorstehenden Schließung der Universitäten wissen. Seine Hoffnung auf ein weiteres Semester in Breslau würde er dann aufgeben müssen.

Am Donnerstag war Damenabend der Kameradschaft Hohenfriedeberg mit Tanz. Kamerad Rolf Stange berichtete, dass er wohl noch mit acht Wochen Urlaub, dann aber mit seiner Entlassung zum „C-Haufen“ hinter der Front zu rechnen habe. Ob Helmut seinen anstehenden „Nervenurlaub“ wegen der durchschossenen rechten Hand noch würde genießen können, war nun durchaus fraglich geworden. Die bedrohliche Kriegslage barg Überraschungen aller Art. Einmal würde eben der paradiesische Klosterfrieden in Kattern auch für ihn ein Ende haben.

Auf dem neuen Spielplan der Breslauer Bühnen standen ab dem dritten September Wallenstein und Die Zauberflöte. Er fragte sich, ob er diese Aufführungen wohl noch würde miterleben können.

Am Freitag wurde bekannt, dass die Türkei also doch aufgegeben hatte. Die Kameraden im Kloster versuchten, sich eine Meinung darüber zu bilden. Es ging für das Reich um das Erdöl auf dem Balkan. Jetzt war Deutschland ähnlich eng eingeschlossen wie seinerzeit im ersten Weltkrieg. Würde eine voraussichtliche Invasion der Amerikaner diesmal die gleiche Wirkung haben wie im letzten Krieg? Freie Durchfahrt durch die Dardanellen bedeuteten Stärkung der russischen Schlagkraft sowie Bedrohung der Schwarzmeerküste des von den deutschen Truppen noch beherrschten Raumes, vor allem Bulgariens und Rumäniens.

Was den jungen Studenten aber besonders bedrückte, war eben die Tatsache, dass die russische Armee ganz offensichtlich nicht geschlagen werden konnte. Die Heimat war am Herzen bedroht, grübelte er. Auch nach der Meinung vieler Lazarettkameraden war die Abwehr dieser Gefahr zur Lebensfrage geworden.

Helmuts lazarett-politische Lage, die Dauer seines Genesungsaufenthaltes hier, war ebenfalls äußerst ungewiss. Man musste sich wohl auf allerlei vorbereiten, sicherlich nicht gerade auf Angenehmes.

Der folgende Sonnabend war ein herrlicher Augusttag mit strahlend blauem Himmel. Den Vormittag verbrachte er mit Clairchen im Südpark. Sie gondelten auf dem kleinen See. Ihm wurde bewusster denn je: Diesmal hatte er mit einem reifen Mädel im Boot gesessen, das sich möglicherweise irgendwelche Hoffnungen machte.

Am Abend hatten die Studenten Abschiedskneipe im Kameradenheim. Eine tolle und nette Angelegenheit, Helmut war begeistert. Er fand es sehr schade, dass er erst so spät mit diesen Jungen zusammengekommen war.

Der Sonntag wurde ebenso schön, was das Wetter und alles andere anbetraf. An diesem Tag stieg die Geburtstagsfeier für Clairchen, sie wurde 21 Jahre alt. Alles war außerhalb von Kattern im lauschigen Postkrug vorbereitet. Vier Flaschen Wein und ein gutes Abendessen warteten auf zwei Paare. Das waren Clairchen, ihre Freundin Hedwig, Heinz und Helmut.

Mit dem genossenen Wein stieg die Stimmung. Helmut stellte überrascht fest: Konnte er dafür, dass er Clairchen küsste, wo alles so schön und verlockend war? Und wirklich, er hatte viel übrig für dieses reife und frauliche Mädchen.

Nach der kleinen Feier gingen sie über die Felder dem Dorfe zu. Die Nacht war klar und durchflutet von Mondlicht. Clairchen und Helmut redeten auch von Edith, seinem blondem Mädchen in der Ferne, und seine innere Bindung an sie. Er war jetzt rückhaltlos offen trotz allem, was eben passiert war, oder eben gerade deswegen.

Aber Clairchen blieb plötzlich stehen und sagte: Helmut, ich liebe dich! Du bist anders als die anderen Männer, die ich kenne. Auch anders als mein Verlobter. Allerdings sollte ich ihm die Treue halten, solange ich seinen Ring trage.

Natürlich respektierte er diese Haltung, machte sie ihm vielleicht auch einiges leichter, zum Beispiel Edith die Treue zu halten. Er dachte oft an eine feste Zukunft mit ihr. Über die Angelegenheit mit Clairchen hier wollte er sich möglichst bald klar werden. Damit Konsequenzen gezogen werden könnten, die allen gerecht wurden. Aber ging das so einfach, nach diesem Eingeständnis von Clairchen?

Er hoffte, er glaubte, der anstehende Achtwochenurlaub von Kattern würde ihm am Ende helfen, den entscheidenden Schritt zu schaffen. Oder war es doch Charakterschwäche, sich allein darauf verlassen zu wollen?

Am nächsten Tag sah er Clairchen wieder, in Scheitning. Unweit der Jahrhunderthalle, die zum Anlass des 100. Jahrestages der Schlacht bei Leipzig erbaut worden war, plagten sie die Mücken. Clairchen gab sich wie immer. Sie eröffnete ihm, dass sie zu einem zweitägigen Kursus von Kattern aus nach Breslau kommandiert worden sei.

Über Mittag war Fliegeralarm, den sie aber auf dem Rasen in den Anlagen am Lessingplatz verschliefen.

Dienstag gab es im Gloria Palast den Film Träumerei, die Geschichte um Robert und Clara Schumann. Helmut sah ihn allein. Da Clairchen danach den ganzen Nachmittag Zeit hatte, verbrachten sie die Stunden gemeinsam. Um zwanzig Uhr musste sie dann zum Unterricht gehen.

Am neunten August war Helmut, so unglaublich das für alle Beteiligten war, zuhause bei den Eltern in Bad Ziegenhals. Er hatte tatsächlich acht Wochen Urlaub von Lazarett und Wehrmacht bekommen, was für ein Geschenk! Er wusste nicht so recht, womit er sich das verdient hatte. Offenbar dürfe man bei manchen Geschenken nach dem Warum nicht fragen, sondern müsse sich freuen und allein den Vorteil mit Händen erfassen, sagte er sich vergnügt.

Von seinem Glück hatte Helmut erst um neun Uhr am Abend zuvor erfahren. Noch in der Nacht wurde gepackt. Früh dann die Lauferei und Abmelderei. Dann ging es mit dem schweren Gepäck, er wollte unbedingt alles mitnehmen, auch die Bücher, zum Bahnhof Kattern. Es war wieder ein glühender Augustnachmittag. Und er wollte obendrein vor der Abreise noch einmal nach Breslau, zu Clairchen.

Zwanzig Minuten blieben den beiden zum Abschied. Sie standen am Stadtgraben und schauten den Kähnen nach. In einem ruderte ein Pärchen dahin. Clairchen war voller Wehmut und Trauer, aber sie gab sich sehr gefasst und verständnisvoll. Nur die Plötzlichkeit des Abschieds traf sie hart. Denn sie hatten eigentlich schon Pläne für mehr als eine Wochendauer gemacht und wollten den ausgehenden Sommer in glücklicher Unbefangenheit genießen. Auch ihm tat es jetzt weh, Clairchen so verlassen zu müssen.

Später dann, im Bummelzug, begrüßte er die Entwicklung der Verhältnisse. Die Trennung mochte hoffentlich dazu beitragen, gerade und klare Linien zu ziehen.

Gegen achtzehn Uhr traf er im Stadtbahnhof von Ziegenhals ein. Mit Mühe und ein bisschen Raten erreichte er die nicht sehr weit entfernte Wohnung der Großeltern, wo er auch den schweren Bücherkoffer absetzen konnte.

Über die Erhebung der Teufelskanzel, auf der sie in der Kindheit so gern als Indianer herumgekraxelt waren, gelangte er endlich und auf dem kürzestem Wege nachhause, wo er freudige Überraschung auslöste.

Hier sah Helmut zum ersten Mal seinen kleinen Neffen und die junge glückliche Mutter, seine Schwester: Ein prächtiges Kerlchen hat sie da geboren, dachte er und hoffte dabei auf eine ähnliche Zukunft.

Am nächsten Tag musste er sich bei den örtlichen Militärbehörden anmelden. Anschließend brachte er einen Teil der bei den Großeltern abgestellten Bücher nachhause, später dann den Koffer mit dem Rest.

Er dachte an seinen Kameraden und Stubengenossen Hans O’Brien, wie der ausgerufen hatte, als sie den Urlaubsschein in den Händen hielten: O Herr, was haben wir verbrochen, dass es uns so gut geht!

Wie schön es zuhause war! Hinten, im langgestreckten Garten, neigten sich die Bäume unter der Last des Obstes. Vor dem Haus prangten Blumen in allen Farben. In der Ferne schimmerten die vertrauten Berge im Dunst der Augusthitze. Passte in diese Idylle eigentlich das Wort Krieg? Im Augenblick war hier nichts davon zu spüren.

Der Schwester, Liesel, hatte die beschwerliche erste Geburt nichts von ihrem Charme nehmen können. Das Kind war ein außerordentlich hübscher und lieber Junge. Wie stolz erst die Großeltern waren. Und besonders der junge Vater. Er hatte jetzt endlich eine eigene Familie. Selbst war er seit dem dritten Lebensjahr Waise. Sein Vater war im ersten Weltkrieg geblieben, die Mutter an der Blauen Grippe gestorben. Eine Tante und die Großmutter hatten sich um ihn gekümmert.

Das Häuschen der Eltern in Ziegenhals im Eichwald schien enger geworden zu sein, zumal vorübergehend die junge Familie jetzt ebenfalls hier wohnte und Helmut unverhofft heimgekommen war. Liesel sollte in Ruhe erst einmal das Wochenbett überstehen. Aber Helmut hatte es dennoch recht bequem, weil man ihm sein Zimmer wieder völlig überlassen hatte.

So ging alles bald wieder den alten Trott und Schlendrian, was ihn nach der Regelmäßigkeit und der Peinlichkeit des Lazarettlebens, die in Kattern in allem herrschten, zunächst etwas irritierte. Doch fühlte er, dass es nicht schwer würde, sich umzugewöhnen.

Am zwölften August neunzehnhundertvierundvierzig war offizieller Semesterabschluss. Praktisch aber hatte der Vorlesungsbetrieb schon am sechsten geschlossen, so dass er durch seine frühe Abreise keine Nachteile befürchten musste.

Rückschauend sagte er sich, dass dieses Semester noch um vieles erlebnisreicher gewesen war als das davor. Vielleicht war es die bislang schönste Zeit seines Lebens gewesen. Was im Winter noch Sehnen und Hoffen gewesen war, hatte nun im Sommer unterm Sternenhimmel und dem rauschenden Laubwerk eines Parks Erfüllung gefunden. Leider aber nicht immer zum Vorteil seiner wissenschaftlichen Arbeiten. Die Aufführungen von Hamlet und Turandot mochten Höhepunkte gewesen sein. Sie hatten aber die anderen, starken inneren Erlebnisse nicht übertreffen können.

Wohl hatte er eine Charlotte verloren, aber Edith gewonnen, sein blondes Mädel. Insgeheim war sie seine Sonne und die Zukunft. Er war mit Gisela gegangen, einem äußerlich schillernden und innen schalen Schmetterling. Darauf hatte er unverhofft Clairchen kennen gelernt, dieses reife und warme Mädchen voller Sehnsucht nach Liebe und Verstehen. Sie war für den jungen, trotz allem noch wenig erfahrenen Mann ein herrliches Geschenk. Denn er sehnte sich wohl nach ihrer Zärtlichkeit und fraulichen Wärme.

Dann kam ein Brief von Edith mit der Anfrage, ob ihr Besuch am Sonntag recht sei. Wieder einmal konnte Helmut nur staunend vor der impulsiven Entschlusskraft dieses Mädels stehen, obwohl es natürlich lang besprochene Sache war, dass sie sich im Eichwald sehen wollten. Er ging also gegen Mittag in die Stadt, rief sie zurück und bat sie herzlich zu kommen. Am nächsten Morgen, Sonntag früh um acht Uhr, wollte Edith im Hauptbahnhof Breslau eintreffen. Sie kam von einem strategisch günstig an der Oder gelegenen Gut bei Cosel her, der alten Grenzburg zwischen Polen und Mähren. Helmut freute sich ungeheuer.

Die Eltern würden keine Schwierigkeiten wegen des plötzlichen Besuchs machen. Im Gegenteil, sie taten alles, um dann der ihnen noch unbekannten jungen Frau einen angenehmen Empfang zu bereiten. Er war erleichtert und sehr dankbar.

Erhard, der Schwager, hatte eine neue Dienstpistole bekommen. Man probierte sie hinten am Schuppen im Obstgarten aus. Danach versuchten die zwei Armverletzten, mit einer großen Gartenschere die Ligusterhecke zu schneiden. Jeder fasst mit seinem brauchbaren Arm zu, was auch endlich zu einem mühsamen, aber eben doch brauchbaren Erfolg führte.

Am Sonntag kam früh gegen sieben Uhr der Oberförster vorbei. Edith hatte bei ihm angerufen und ließ ausrichten, dass sie erst mit dem späteren Zug eintreffen werde. Wie sie dann später erfuhren, hatte sie spontan im Telefonbuch jemanden gesucht und gefunden, der auch im Eichwald wohnte, und ihn einfach angerufen.

Um zehn Uhr siebenundzwanzig fuhr dann der Zug im Breslauer Bahnhof ein. Edith erkannte ihn sofort, obwohl er weitab von ihrem Waggon wartete. Sie sah frisch und allerliebst aus. Schnell stieg er ein, um mit ihr weiter bis nach Ziegenhals zu fahren. Von dort aus gingen sie dann durch den Wald und über die Promenaden zum Eichwald 12.

Als Helmut wieder diese kraftvolle und selbstbewusste Erscheinung in ihrer norddeutschen Herbheit neben sich sah, glaubte er zu begreifen, warum Edith es in ihrer Stellung auf dem Kobelwitzer Gut bei Cosel nicht aushalten würde und gekündigt hatte. Die Unterschiede zwischen den Mentalitäten waren wohl zu groß.

Helmut war fasziniert. Eng umspannte der braune Tuchrock Ediths Leib. Die weiße Bluse mit der prachtvollen Stickerei verbarg ihre vollen, festen Formen nicht. Das üppige blonde Haar, zum Knoten gebunden, verlieh Kopf und Nackenbeuge eine natürlich nordisch-frauliche Schönheit, wie sie keine andere Haartracht besser hätte ausdrücken können, empfand er. Mit strahlenden blauen Augen und frischem Mund vollendete sie für ihn ein Bild, das von da an fest in seiner Seele stand. Was wundert es da, wenn er die blühende Umgebung jetzt ganz außer Acht ließ.

Mit schöner Selbstverständlichkeit begrüßten Eltern, Liesel und Erhard den Besuch. Natürlich wurde auch das Neugeborene gebührend bewundert. Nach einem reichlichen Mittagessen gingen Edith und Helmut spazieren. Sie wollten mit sich allein sein.

Er führte sein Mädel über ihm altvertraute Waldpfade. Hochwaldwipfel rauschten über ihnen, man hörte die Ziegenhalser Biele plätschern. Sie gaben sich wie zwei glückliche Kinder, und er wunderte sich über seine neue Unbefangenheit. Dann geschah ein kleines Unglück. Beim Sprung über ein Rinnsal verstauchte sich Edith den linken Knöchel. Aber sie wollte trotzdem noch nicht nachhause. So liefen sie noch stundenlang im Wald umher. Ein schon lange drohendes Unwetter überraschte die beiden dann, und sie flüchteten in den dürftigen Schutz einer Schonung, bis alles wieder abgeklungen war. Als sie später ein wenig zerknittert das Haus erreichten, schien bereits wieder die Sonne. Ediths Knöchel war nun doch deutlich angeschwollen und musste mit essigsaurer Tonerde und einer elastischen Binde behandelt werden.

Abends um neun Uhr zwanzig ging Ediths Zug wieder zurück. Helmut stand am Bahnsteig und sah die Waggons allmählich verschwinden. Nichts hatte Bestand, am wenigsten schöne Stunden, dachte er.

Am Montag ging er mit Liesel und seinem kleinen Neffen im Kinderwagen spazieren. Das Kerlchen war jetzt achtzehn Tage alt. Achtzehn Kriegstage, von denen sie hier in ihrer kleinen geborgenen Welt noch nicht viel zu spüren bekamen.

Der Dienstag begann mit strahlendem Sonnenschein. Unter blauem Himmel überall Schwalben. Von Clairchen trafen unverhofft zwei Briefe ein, der eine war am Sonnabend, der andere am Sonntag geschrieben. Sie habe Sehnsucht nach ihm. Das hatte er irgendwie erwartet. Er freute sich, aber er fühlte sich nicht wohl dabei, wenn er an Edith dachte. Was sollte er tun? Beide Bilder lagen vor ihm. Das eine zeigte Edith, das andere Clairchen.

Nur gut, dass er jene Gisela in letzter Zeit gemieden hatte, dachte er. Er hatte ein gutes Gefühl dabei. Obwohl sie immer wieder versucht hatte, ihn auf dem Umweg über Hans O’Brien zu erreichen. Was zwischen ihr und ihm bestanden hatte, war von Anfang an ein Spiel gewesen, worüber sich beide eigentlich hatten im Klaren sein sollen.

Anders lagen die Dinge von Anfang an bei Edith und ihm. Hier herrschten sofort Zuneigung und Klarheit auf beiden Seiten.

Was aber war nun mit Clairchen? Was ihm ihr Mund noch verschwiegen hatte, die Feder hatte es ausgeplaudert, dachte er, nachdem er ihre Briefe gelesen hatte. Es gab keinen Grund, an ihrer Aufrichtigkeit zu zweifeln. Ihr Verlobter war achtundzwanzig Jahre alt und hatte eine gute Existenz aufgebaut. Warum also sollte sie Helmut etwas vormachen, was sie selbst nicht glaubte? Doch er hatte ihr nicht die geringste Hoffnung gemacht. Es sei denn, man wollte die schlichte Umarmung und ein paar Küsse als solche betrachten. Er hatte immer wieder betont, dass er an keine Bindung denken könne und ihren Ring respektieren wolle. Auch wusste sie um Edith. Musste er nun gewaltsam einen Strich ziehen oder durfte er sich, ohne zu freveln, nehmen, was die glückliche Gelegenheit bot? Wie verwerflich war es, mit der Braut eines Anderen zu flirten, wo sie es doch so wollte? Wie großzügig durfte man in solchen Herzensdingen sein? Er empfand dabei seltsamerweise keinen Verrat an Edith, in der er das jungfrische Leben und sein Mädchenideal liebte. Während es bei Clairchen die frauliche Reife und sehnsüchtige Zärtlichkeit des jungen Weibes war, die ihn anzog. Vielleicht ging es ihr mit ihm und ihrem Verlobten genauso. Wenn ich das ergründen könnte, dachte er.

In den nächsten Tagen rief Edith an Vaters Arbeitsplatz an, wo der gerade eine Fleischbeschau machte. Sie erwarte Helmut am kommenden Sonnabend in Kobelwitz für die Unterkunft sei gesorgt. Der Fuß mache ihr noch ein wenig zu schaffen.

Am sechzehnten August, Mittwoch, musste Helmut wegen dieses geplanten „Urlaubs im Urlaub“ auf die Kommandantur. Der Hauptmann gab sich ablehnend und machte Ausflüchte von wegen des totalen Krieges und so weiter. Mit viel Mühe erhielt er dann doch einen so genannten Zwischenurlaub. Sie würden uns also schon am Wochenende wiedersehen, diesmal bei ihr. Seine Freude war riesengroß.

Indessen waren die Alliierten in Südfrankreich gelandet. Das war für alle ein neues Zeichen für den Beginn des Endkampfes. Die Familie sprach nur kurz darüber, man hatte Angst, die Folgen auszudiskutieren. Man wagte es nicht, an einem guten Ausgang zu zweifeln.

An diesem Abend brach ein fürchterliches ein Gewitter nieder. Eine Getreidepuppe in den nahen Feldern wurde vom Blitz getroffen und ging in Flammen auf. Sie brannte hell wie eine Fackel, trotz des Regens.

Am nächsten Tag würde er bei Edith sein. Alles, was mit ihr zusammenhing, erschien ihm klar und von unumstößlicher Gewissheit. Möge der Himmel uns gewogen sein und bleiben, hoffte er.

Morgennebel lag über Bad Ziegenhals, als Helmut zum Bahnhof ging. Abfahrt war um neun Uhr achtzehn, die Bahn war pünktlich. Ratternde Waggons trugen ihn seiner Sehnsucht entgegen. Gegen Mittag erreichte er das Dominium Kobelwitz.

Auf dem Gutshof stand Herr Albrecht, der Besitzer. Er begrüßte den angekündigten Gast freundlich und führt ihn persönlich zu Edith in die Küche, wo er auch die Gutsfrau kennenlernte.

Edith konnte ihre überschäumende Freude kaum verbergen. Nun sah er sie zum ersten Mal im Arbeitsgewand. Sie trug den roten Friesrock ihrer Heimat. Ihre norddeutsche Erscheinung fiel hier besonders auf.

Am späten Nachmittag gingen sie an die nahe Oder hinunter. Der Fuhrmann überließ ihnen einen Kahn und sie ruderten hinüber zur Liebesinsel. Welches Glück, hier das geliebte Mädel im Arm halten zu können, dachte er. Das Wasser floss ruhig und stetig vorüber, dunkelrot ging die Sonne unter. Als sie verloschen war, ruderten sie zurück. Keiner sagte etwas. Sie waren sich dennoch ganz nah.

Der Regenbogen ohne Himmel

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