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Helmut hatte jetzt täglich vier Kollegstunden. Ein unangenehmer Schnupfen hatte sich eingestellt. Dazu kam ein lähmender Schmerz unterhalb des linken Schulterblattes. Dadurch war die Beweglichkeit des gesamten linken Armes eingeschränkt. Kein Wunder bei dem ständigen Luftzug durch die nur mit Pappe verkleideten Fenster. Eine Erinnerung an den letzten Bombenangriff.

Mit Hans O’Brien und Clairchen ging er am Sonnabend ins Capitol: Ein schöner Tag. Draußen war es nebelig und Regen fiel. Schon um neun am Abend kehrte er ins Kloster-Lazarett zurück, obwohl ihn am folgenden Tag die Luftschutzwache für den ganzen Tag ans Haus binden würde. Es ist manchmal so, manchmal so, dachte er bei sich: Ich kann an Edith denken und Clairchen trotzdem küssen. Aber eben nur manchmal.

Brandwache bedeutete diesmal vor allem Briefposterledigung. Und er wollte einen Tag mal ohne Paragrafen verbringen, da gestern der Kursus geschlossen worden war. Der Sonntag im Kloster mit dem relativ guten Essen und einem abwechslungsreichen Radioprogramm konnte die richtige Alternative werden.

Jetzt hatte auch der juristische Ferienkurs für Kriegsteilnehmer geschlossen. Helmut wollte sich deshalb in der nächsten Zeit intensiv mit dem Verwaltungsrecht befassen. Am ersten November sollte dann formell das Wintersemester beginnen. Wie gewöhnlich würden die eigentlichen Vorlesungen aber erst am sechsten anfangen.

Heinz Wilde, ein alter Freund, war auf Urlaub gekommen. Das junge Ehepaar Heinz und Hedwig lud Clairchen und Helmut zum Verspeisen einer Gans ein. Diese für die augenblickliche Zeit doch denkwürdige Zeremonie fand dann in einem schnell gemieteten Zimmer bei einer Frau Pfingst in Kattern statt, wo die beiden schon ihre erste Urlaubs-Ehenacht verbracht hatten. Hier wurde der Vogel dann auch gebraten. Dazu hatte man Rotkohl und Klöße zubereitet. Eine Flasche Rotwein, ein Riesenpudding und eingeweckte Stachelbeeren vervollständigten das Festmahl. Das total überraschte Clairchen war begeistert; endlich mal wieder ein herzhaftes Essen.

Es war schwer, Vernunft zu bewahren. Clairchen wurde vom Benehmen des jungen Paares angesteckt und sah Helmut unverhohlen mit heißem Verlangen an. Aber er dachte an ihren Verlobungsring und an Edith.

Zum offiziellen Semesterbeginn, am ersten November, traf er zufällig Karl Stange im Breslauer Hauptbahnhof. Auch er würde noch das Wintersemester belegen können. Von zuhause gab es inzwischen eine gute Nachricht: Jorg Kuppen sei unverwundet in englische Gefangenschaft geraten. Vielleicht würde demnächst Genaueres zu erfahren sein.

Die Mutter hatte wieder ein Obstpaket ins Kloster geschickt, darunter viele Weintrauben aus dem eigenen Garten. Eine erfreuliche Ergänzung des Speiseplanes. Edith teilte schriftlich mit, dass sie am elften und zwölften November zu Besuch komme, falls es ihr gelinge, eine Reisebescheinigung zu erhalten. Was für eine schöne Nachricht!

Am dritten November war Helmut dann mit Clairchen im Gloria-Palast. Sie sahen Die schwache Stunde mit Hannelore Schroth. Es knisterte zwischen beiden. Anschließen spazierten sie durch Kattern. Es fiel ihm zunehmend schwerer, die Sinnlichkeit solcher Stunden zu begrenzen. Ein ständiges Auf und Ab der Gefühle, hin- und hergerissen zwischen der keuschen Treue zu Edith und dem Verlangen nach dem warmen, weiblichen Clairchen. Dabei war gar nicht klar, ob Edith seine Enthaltsamkeit ihr gegenüber eigentlich so sehr wünschte.

Noch hatten die Vorlesungen nicht begonnen. Doch Hans O’Brien und Helmut waren täglich auf Bücherfang aus. Die Rückmeldungen im Uni-Sekretariat hatten sie bereits erledigt und dabei ihre Erfahrungen mit der Bürokratie gemacht. Nach wie vor, so schien es den beiden, rieselte im Beamtenstab der Universität der Kalk.

Der Sonntag wurde herrlich, voller Sonne und herbstlicher Klarheit. Er unternahm mit Clairchen einen Spaziergang durch das farbenfrohe Spiel dieser Jahreszeit. Im Dorf sammelte sich der Volkssturm zum Appell. Land in Not! Völlig unberührt davon strahlte der Himmel herab. In Ungarn tobten Panzerkämpfe. Man sprach sehr nachdenklich von Erwin Rommel, den gescheiterten „Wüstenfuchs“.

Als er am Montag durch die Wache am Kloster ging, erfuhr er, dass Sonntag am Nachmittag Edith für angerufen habe. Sie lasse Grüße bestellen. Ärgerlich. Zudem ahnte er, warum sie angerufen hatte. Wahrscheinlich wegen der neuerlichen sonntäglichen Zugeinschränkungen, die eine Anreise am Samstag ziemlich illusorisch erscheinen ließen.

Dann wurde festgelegt, dass das erste Kolleg dieses Semesters am achten November beginnen sollte. Leider mit ungünstiger personeller Besetzung der einzelnen Vorlesungen, meinte Helmut. Das galt besonders für „Ware und Geld“, was der Dekan las, den er wegen seiner eintönigen Art vorzutragen wenig schätzte.

Dann fügte sich ein kleiner Gedenktag ein: Vor einem Jahr, am siebten November neunzehnhundertdreiundvierzig, war er zum ersten Mal seiner Edith begegnet. Und was hatte dieses Jahr ihm doch an gemeinsamen Freuden gebracht, ganz subjektiv betrachtet. Mögen doch noch viele weitere Jahre folgen, hoffte er. An diesem Abend sah er ohne Begleitung im Palast-Theater Eine Frau für drei Tage mit Hannelore Schroth. War das ein Bezug? Worauf, auf wen?

Am achten begannen die Vorlesungen de facto. Helmut hatte einen zermürbenden Stundenplan mit etlichen Nachmittagsveranstaltungen. Das bedeutete viel Zeitverschwendung durch teilweise umständliche Bahnfahrten. Aber er war fest entschlossen, trotz aller Widrigkeiten hart zu arbeiten.

Im Lazarett trat zu allem Überfluss der Abteilungsfeldwebel an Hans O‘Brien und Helmut mit dem Auftrag heran, sie sollten demnächst vor der Belegschaft Schulungsvorträge halten. Aus begreiflichen Gründen konnte keiner nein sagen, wenn es auch weitere Belastungen bedeutete. Sie waren gespannt, welche Art von Vorträgen man erwartete. Bislang hatten derartige Referate Leute vom Generalkommando gehalten. Nun traute man das zwei Studenten zu? Zweifellos eine Aufwertung oder Notlösung wegen der äußeren Umstände.

Wie vorausgesehen, wurde das Studium arbeitsreich und auch körperlich mühselig. Wetter und Unzuverlässigkeit der Bahnverbindungen trugen zunehmend das Ihre zur allgemeinen Verschlechterung der Lage bei. „Strafrecht“, „Ware und Geld“ sowie „Bodenrecht“ erforderten alle Aufmerksamkeit und intensive Nacharbeit. Dagegen betrachtete er „Verfassungsrecht“, „Finanzrecht“ und „Wirtschaftspolitik“ eher als Rahmenvorlesungen. Da reichten aufmerksames Mithören und gelegentliches Nachbereiten.

Zum Vergnügen durfte also in diesem Wintersemester wenig oder gar keine Zeit übrig bleiben. Das war an sich schon ein krasser Gegensatz zum Sommersemester. Aber Helmut akzeptiere diese Entwicklung, wie sie war, im Hinblick auf das Studienziel konnte sie sogar sehr begrüßenswert sein. Ein Problem würde es nur sein, ungestörte Stunden zu haben, um sich konzentrieren zu können. Dass dies in einem Zimmer mit fünf Betten, wo jeder einer anderen Beschäftigung oder gar keiner nachging, schwierig sein würde, war einleuchtend. Allein um das Radio für einige Stunden unschädlich zu machen, bedurfte es oft gewisser Listen. Trotz allem hofften die beiden Studenten auf einen guten Erfolg.

Helmut wartete auf neuerliche Nachrichten von Edith. Würde sie kommen können? Die Aussichten hatten sich leider wesentlich verschlechtert. Am Sonnabendmittag kam dann die ersehnte Post. Sie wollte Sonntagmorgen um elf Uhr siebenunddreißig in Kattern eintreffen. Nach hartem Kampf mit ihrem Bürgermeister hatte sie die Reisegenehmigung endlich erhalten. Was aber nun? Der von Edith genannte Zug verkehrte neuerdings an Sonntagen gar nicht mehr. Er hatte ihr das schriftlich mitgeteilt. Hatten sich die Briefe unglücklich gekreuzt? Führe sie nun wie geplant ab, müsste sie den ganzen Tag erfolglos, vielleicht in Oppeln auf dem Bahnsteig, auf einen Zug nach Breslau warten und wäre dann erst am Spätnachmittag in Kattern. Das war alles sehr ärgerlich, wurde aber von großer Freude auf das Wiedersehen überdeckt, und wenn es auch nur für wenige Stunden sein könnte.

Schönes Wetter am Sonntag. Helmut aber war voller Unrast und wartete Stunde um Stunde. Um zwölf kam endlich ein Anruf von Edith aus Oppeln, wo sie seit drei Stunden festsaß. Es war genau das eingetreten, was zu befürchten gewesen war. Also weiter warten. Aus Verzweiflung spielte er im Lazarett mit den Kameraden Rommé und verlor meist. Als Edith um vier Uhr immer noch nicht eingetroffen war, eilte er zum Bahnhof und wartete unverdrossen. Endlich, endlich traf sie nach dreizehn Stunden um zwanzig nach sieben ein. Deshalb wollte er es auf gar keinen Fall zulassen, dass sie, wie eigentlich geplant, noch am selben Abend wieder zurückfuhr. Gegen acht gelang es den beiden, ein Zimmer für die Nacht aufzutreiben. Dadurch konnten sie jetzt wenigstens noch ein paar Stunden für sich allein haben. Trotz allen Ungemachs war Edith in bester Stimmung, weil sie wieder eng mit ihm zusammen sein konnte. Helmut genoss diese Zweisamkeit, legte sich aber wie gewohnt weitgehende Enthaltsamkeit auf. Sie passte sich an. Spät verließ er sie.

Am nächsten Morgen holte er sie um halb acht ab. Sie war schon munter und ausgangsfertig und hatte entschieden, noch den ganzen Tag hier zu bleiben. Sie wollten die Zeit in der Stadt verbringen und mittags mit Heinz und Hedwig Wilde im Gloria-Palast Der Katzentag ansehen. Viel zu schnell verflogen die Stunden wieder. Und als er mit Edith um vier auf dem Bahnsteig stand, entschloss sie sich noch einmal spontan, weitere drei Stunden später zu fahren, obwohl ihr Urlaub seit dem Morgen eigentlich schon beendet war. So fuhren sie noch auf einige Stunden nach Kattern. Helmut hoffte, dass sie hier nicht auf Clairchen treffen würden. Dann kamen endgültig die letzten Minuten auf dem Bahnhof. Das waren seltsamerweise immer die schönsten und die schwersten zugleich.

Seine Sorge, Edith könnte zufällig etwas von Clairchen erfahren oder gar auf sie treffen, erwies sich als unbegründet. Es wäre natürlich überaus peinlich gewesen und hätte wohl allen sehr wehgetan. Vor allem aber, wie hätte er dagestanden? Wenn er auch entschlossen war, auf jeden Fall zu Edith zu stehen, mochte er sich Clairchens Enttäuschung nicht vorstellen. Er fragte sich nicht zum ersten Mal, ob es charakterlos sei, dass er Edith liebte und trotzdem Clairchens Zärtlichkeit nicht vermissen wollte.

Helmut glaubte, dass ihn die augenblickliche Situation am Ende zwangsläufig zu einer klaren Entscheidung bringen würde. Oder sollte er nicht einfach anerkennen, dass er hier einerseits eitel seinen Trieben folgte, andererseits einem Ideal treu bleiben wollte? Ohne zu ergründen, wie Edith dazu stünde? Vielleicht hatte auch die Schnell- oder Kurzlebigkeit dieser Zeit ihren Anteil an allem. Im Palast-Theater lenkte er sich mit dem Film Zum schwarzen Panther ab. Eine ausländischen Kriminalblüte.

Das Wetter wurde in diesen Tagen zunehmend stürmischer und nass. Ungeheure Krähenschwärme umflogen die Gebäudekomplexe des Klosters, wie Boten aus einer anderen Welt.

Am siebzehnten November beging er seinen einundzwanzigsten Geburtstag. Bis ein Uhr dauerten die Vorlesungen. Im letzten Jahr noch hatte keiner aus seiner Umgebung hier etwas von seinem Geburtstag gewusst, selbst Kamerad Heinz Plachta nicht, der neben ihm im Lazarett sein Bett hatte, das war noch in Saal eins. Diesmal aber hatte eine Frau dafür gesorgt, dass die Kameraden aufmerksam waren. Diese Frau, dieses Mädchen war natürlich Clairchen.

Die Gedanken weilten bei Edith, besonders an diesem Tag, aber kein Zeichen von ihr. Die Gegenwart jedoch wurde ausgefüllt von Clairchen. Und er fühlte sich ein bisschen schuldig, nichts gegen diesen Zustand zu tun. Er wollte es auch gar nicht, noch nicht. Mit Clairchen, Hans O’Brien und dessen Freundin Dorchen ging er am Geburtstag in den Gloria-Palast. Sie sahen Komm zu mir zurück. Wer zu wem? Danach besuchte man das Café Hutmacher, das jetzt zum Teil auch Verwundetenheim war.

Nachts um elf war er „im Bau“ zurück. Von Clairchen hatte er ein schmales Buch mit Widmung bekommen. Post war immer noch nicht eingetroffen, auch nicht von zuhause. Fast hatte er das erwartet und war deshalb darüber auch nicht sehr traurig.

Nun war er also volljährig. An sich nur ein juristischer Begriff, eine formale Angelegenheit. Aber die Reife lässt sich nicht an eine Zahl binden, dachte er, man hat sie oder eben nicht. Wann sie aber eintritt, ist vielleicht eine Lebensfrage. Ein Fazit für das bisheriges Leben zu ziehen, hatte momentan keinen Sinn. Man war vor allem aufs Überleben ausgerichtet. Mehr als fünf Kriegsjahre waren auch an diesem jungen Leben nicht ohne Spuren vorübergegangen. Man hatte ihnen beigebracht, nur für Deutschland leben zu müssen, ohne dass sie jetzt behaupten konnten, es richtig kennengelernt zu haben. Von der Schulbank hatte sie die Front gerufen, wie seinerzeit auch die Väter. Nun waren viele verwundet, ebenfalls wie die Väter. Jetzt mussten beide Generationen das Reich sichern. Was sollte man denn da für ein Fazit ziehen.

Am Tag nach dem Geburtstag erhielt Helmut Post und Pakete von zuhause. Der Vater arbeitete seit dem dreizehnten wieder. Auch die Großeltern gratulierten ihm. Der Inhalt der Pakete war ein rührendes Zeichen der elterlichen Sorge und Liebe. Er fühlte tiefe Dankbarkeit. Dann kam eine Karte von Edith, ein weiterer, aber ganz anderer Liebesbeweis.

Zum Zeitvertreib las er gerade in dem Buch Der Büchsenspanner des Herzogs - Aufzeichnungen des Rittmeisters Otto von Toell von Georg von der Vring, das er von daheim bekommen hatte. Eine entspannende und gleichzeitig reizvolle Lektüre, wie er empfand. Gleichzeitig, weit weg von zuhause, lief die große Westoffensive an. Alle hofften, dass dem Feind der Durchbruch nicht gelingen würde. Nur wenige glaubten noch daran, dass auch die eigenen Kräfte wieder einmal offensiv werden könnten. Und nur wenige im Lazarett waren der Ansicht, dass nach dem Winter noch ein Sieg möglich sei.

Am Montag herrschte überraschend warmes Wetter. Mit vier Vorlesungsstunden am Vormittag und drei nachmittags war Helmut reichlich bedient. Mittags gab es Alarm. Mit Liesels verspäteten Geburtstagsglückwünschen traf auch die Nachricht ein, dass sie nach Neustadt in eine größere Wohnung umziehen werde. Er freute sich für die Schwester und ihre kleine Familie, denn das Dorf Langenbrück hatte ihr nie so recht behagt. Helmut hoffte auf eine ähnliche Zukunft mit eigener Familie.

An diesem Abend machte er wieder einen Spaziergang mit Clairchen durch Kattern. Als er im Lazarett zurück war, fand er ein Paket von Edith vor. Sie hatte einen großen, schönen Napfkuchen geschickt. So sorgte sie sich und dachte an ihn, während er mit einer anderen spazieren ging. War er ein schlechter Kerl? Aber solche Spaziergänge bedeuteten ihm nicht viel mehr als eine Entspannung der schon längst wieder sehr angespannten Nerven. Das glaubte er jedenfalls.

Der Regenbogen ohne Himmel

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