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Nachmittags ging Helmut mit der Mutter ins Kino: Die Liebe der Mitsu. Ein exotisch-interessanter Film, fanden sie.

Am Abend zeigten sich Vaters Fußgelenke geschwollen. Er konnte kaum die Beine heben. Helmut fürchtete um Vaters Herz. Hatte er nur zu gut gewusst, warum er ihm das Geld für das Studium gegeben hatte?

Am Tag darauf kam ein Brief von Edith. Ihr Stiefvater sei wahrscheinlich in russische Kriegsgefangenschaft geraten oder gar gefallen. Schwere Wolken türmten sich auf. Da wird ein großes Unwetter zu überstehen sein, dachte Helmut bei sich.

Am Donnertag, dem achtundzwanzigsten September, kam die Mutter mittags allein aus der Stadt zurück. Sie hatte den Vater im Krankenhaus zurücklassen müssen. Er war durchleuchtet worden, aber ein klarer Befund stand noch aus. Am Freitag besuchte Helmut den Vater und fand ihn im ersten Stock in einem größeren Zimmer mit der Nummer 31. Vater fühlte sich anscheinend wohl und sah auch wieder ganz zuversichtlich drein. Anscheinend fehlte den Organen nichts, was den Sohn doch sehr beruhigte. Der Arzt sprach von rheumatischen Beschwerden. Im Ganzen aber hatte er den Eindruck, dass man noch nicht klar sehe und weiter beobachte. Es blieb gute Hoffnung.

Nachmittags kamen Liesel und Söhnchen kurz zu Besuch. Abends war Helmut dann wieder mit der Mutter im Kino: Der Majoratsherr mit Willy Birgel und Viktoria von Ballasko. Ein typisch gepflegter und ausgeschliffener Gesellschaftsfilm, fand er. Die Mutter pflichtete ihm bei, Hauptsache er war in ihrer Nähe.

Der Sonnabend wurde wunderschön, Sonne und strahlend blauer Himmel. Auf den Äckern schwelten abends die Kartoffelfeuer. Sacht und kaum spürbar kam nun der Herbst. Abends musste Helmut dem Angorakater Peter das Grab schaufeln. Er hatte wohl die Staupe oder etwas Ähnliches gehabt. Er war so ein prächtiges Tier gewesen.

Liesel und Familie hatten den Vater wieder im Krankenhaus besucht. Sein kleiner Enkel hatte den Opa anscheinend sehr aufgemuntert. Dann konnte Helmut Edith anrufen. Sie werde schon am Dienstagnachmittag wieder bei ihm eintreffen, kündigte sie an.

Inzwischen hatte er nochmals vierhundert Reichsmark auf die Sparkasse bringen können, es war seine Reserve. Mithin standen nun zweitausendvierhundert Mark für das Studium zur Verfügung. Draußen regnete es jetzt häufiger.

Dienstag war Helmuts letzter Urlaubstag angebrochen. Wie schnell die schöne Zeit vergangen war. Nun hieß es packen und reisen. Und nicht zuletzt Abschied nehmen. Nachmittags um halb vier traf dann Edith in Bad Ziegenhals ein. Sie ließ es sich nicht nehmen, mit Helmut zusammen den Vater im Krankenhaus zu besuchen. Anschließend ging es gleich zum Ziegenhalser Bahnhof. Im Örtchen Deutsch-Wette mussten sie zwei Stunden Aufenthalt überstehen, dann rollte der Zug weiter bis Neiße. Hier hieß es endgültig Abschied nehmen. Edith drückte Helmut ein silbernes Herzchen als Liebespfand in die Hand. Noch lange darauf spürte er ihre Lippen.

Nach elf Uhr nachts erreichte er Kattern. Wieder im Kloster, im Lazarett und im militärischen Alltag. Clairchen erwartete ihn schon.

Im Zimmer war sein altes Bett von einem neuen Kameraden belegt, sodass er im Saal 9 Quartier nehmen musste. Schon bei der Rückmeldung beim Spieß hatte er gespürt, dass sich während seines Heimaturlaubs manches geändert hatte. Man würde ganz schön umschalten müssen.

Aber es blieb festzustellen: Wenigstens hatten Kamerad Hans O’Brien und er ihr gemeinsames Ziel erreicht. Was sie wollten war: erstens die Erlaubnis, an dem noch laufenden Kriegsteilnehmer-Ferienkurs für Studenten der Rechtswissenschaften teilnehmen zu können, um damit den entsprechenden Urlaubsschein zu erhalten, der sie auch ein wenig vom starren Lazarettleben befreite. Zweitens wollten sie Gewissheit haben, ob sie mit dem Besuch des Wintersemesters vierundvierzig auf fünfundvierzig würden rechnen können. Dazu waren Vorbedingung die Erlaubnis und Bescheinigung des Dekans, die aber nur bei ihm selbst, also in Breslau in der Uni, zu erlangen waren. Deshalb fuhren die zwei am nächsten Morgen erst einmal nach Breslau. Sie waren schon mit einer Urlaubskarte versehen, obwohl sie in Kattern noch nicht einmal wieder warm geworden waren. Mit viel Beredsamkeit und noch mehr Glück drangen sie vor bis zum Dekan, Professor Felgentraeger, und erlangten tatsächlich die besagte Erlaubnis und Bestätigung.

Nachmittags, zurück im Lazarett, konnten sie obendrein noch den Oberarzt sprechen, der ihnen mit sehr freundlichem und verständnisvollem Entgegenkommen erlaubte, an dem Kursus und eventuell auch an dem bevorstehenden Wintersemester teilzunehmen. Denn ihre ärztliche Behandlung werde sich noch hinziehen. Also hatten die zwei unverhofft in nicht einmal achtundvierzig Stunden das Ziel erreicht, um das sie sich vorher viele Sorgen gemacht hatten. Indessen hielt die allgemeine Kriegslage alle in einem ungewissen Schwebezustand und ließ die Hoffnungen zunehmend schwinden.

Abends traf sich Helmut mit Clairchen, die schon mehrmals nach ihm gefragt hatte. Sie gingen spazieren. Durch sein intensives Zusammensein mit Edith war er wohl ein wenig stumpf und vielleicht auch unpersönlich geworden. Es blieb ihr nicht verborgen. Doch war er dann wieder hin- und hergerissen. In Clairchens fraulicher und liebevoller Nähe konnte er es nicht über sich bringen, den Schlussstrich zu ziehen, einen Bruch herbeizuführen. Er wusste nicht einmal, ob er das auch wirklich wollte. Das sind ganz fürchterliche Umstände, dachte er. Doch lagen ihm jetzt auch andere Dinge im Sinn, als dass er sich auf solche wie auch immer geartete Seelenakrobatik einlassen wollte. Also geschah nichts.

Den Freitagvormittag verbrachte er endlich wieder im Hörsaal der alten Uni Leopoldina. Nachmittags dann im Tauentzien-Theater: Meine vier Jungens mit Käthe Haak. Zwischendurch war er auf Bücherjagd gegangen. Mit Erfolg: Er ergattere einen Palandt und einen Grundriss über das deutsche Strafrecht. Die Kommilitonen staunten nicht wenig über die Schnelligkeit, mit der Hans O’Brien und Helmut ihre alten Funktionen und Bewegungsfreiheit wieder erreicht hatten. Es war, als sei man nie von der Uni weg gewesen.

Am Wochenende herrschte klares Oktoberwetter. Er verbrachte Stunden voller Charme und Tändelei mit Clairchen in Breslau. Im Capitol gab es Schrammeln. Dann gingen sie zum Abendbrot in die „Traube“. Als sie später gerade das Lokal verlassen hatten und auf dem nachtdunklen Zwingerplatz standen, wurde Alarm ausgelöst. In unmittelbarer Nähe befand sich ein öffentlicher Luftschutzbunker, wo sie Zuflucht suchten. Die Flak begann zu rattern. Alles ungläubige und verdutzte Gesichter drumherum. Sollte es diesmal wirklich ernst werden? Dann dumpfes, schütterndes Dröhnen. Bomben, kein Zweifel. Es war ernst. Clairchen drängte sich zitternd an seine Seite, nicht nur aus Angst bebte sie. Das Flakfeuer hörte nicht auf. Dazwischen immer wieder dumpfe Detonationen. Bange zwei Stunden später konnten sie den Schutzraum verlassen und eilten zum Bahnhof. Aus Richtung des alten Bahnhofsgeländes Odertor und dem Benderplatz mit der Erlöserkirche glarte roter Feuerschein. Aufgeregte Menschen eilten durch die Straßen. Mit dem erstbesten Zug fuhren sie aus Breslau hinaus und erreichten gegen dreiundzwanzig Uhr Kattern. Der Ort träumte unversehrt im Mondlicht, als sei nichts geschehen. Leichter Bodennebel wehte um die Lindenstämme am Weg zum Kloster. Frieden, Ruhe und Liebe strömte von den Feldern her, so schien es. In großer Milde leuchtete der Mond durch die Nebelschwaden. Nur in der Ferne kündete noch schwaches Rot von dem Schrecken, den die Bomber über Schlesiens alter Hauptstadt verbreitet hatten.

Am Sonntag hatte Helmut Brandwache im Lazarett. Die Zeit vertrieb er sich mit Lesen, Schlafen und Schreiben. Die Sehnsüchte gingen zu Edith. Sorgen machte er sich um den Vater.

Der Wochenanfang begann mit Regen. Am Vormittag Vorlesung. Danach ging er, sich die Verheerungen der Bombenangriffe in der Stadt anzusehen. Viel zerbrochenes Glas und ein aufgerissenes Dach. Auch die Uni hatte etwas abbekommen. Ein, zwei völlig ausgebrannte Häuser. Nicht weit von der Uni noch ein völlig zertrümmertes Gebäude. Von einem ausgesprochenen Terrorangriff konnte aber wohl nicht die Rede sein, war die allgemeine Meinung. Immerhin nannte man die Zahl von fünfzig Toten. Das eigentliche Abwurffeld zu besuchen, etwa bei der Jahrhunderthalle, war wegen des starken Regens nicht möglich. Graues Gewölk und triefende Regenschirme ließen die Bilder der Zerstörung noch trostloser erscheinen. Die Menschen aber schienen trotz allem gefasst zu sein. Viele sahen gleichgültig drein. Man ahnte wohl, dass dies nur der Anfang von noch viel Schlimmerem gewesen sein könnte. Gnade uns Gott.

Tags darauf wurde bekannt, dass es sich um einen bolschewistischen Bomberverband gehandelt habe. Daher auch die über das gesamte Stadtgebiet verstreuten Abwürfe, was von Engländern und Amerikanern so nicht bekannt gewesen war. Über des Vaters Befinden gab es keine neue Nachricht.

Mittwoch kam dann Post von zuhause und von Edith. Vater gehe es besser, er befinde sich aber noch im Krankenhaus. Nachmittags war Helmut wieder mit Clairchen in Breslau, im Ufa-Palast: Reisebekanntschaft mit Hans Moser. Nach ihrem Empfinden ein furchtbarer Blödsinn. Um halb sieben fuhren sie zurück nach Kattern und gingen noch ein wenig durchs Dorf spazieren. Der Himmel war noch bewölkt, aber die Luft fühlte sich ausgesprochen mild an. Welch ein Omen.

Fast jeden Mittag trafen sich nun Helmut seine frischgebackenen Luftwaffenhelferin Clairchen, wenn sie entweder von der Wache des Flugmeldedienstes kam oder dorthin hinaufging. Das blaue Tuch der Uniform steht gut zum Blau ihrer seelenvollen Augen, fand er. Ansonsten versuchte er, sich in das deutsche Strafrecht einzuarbeiten.

Am Freitag, dem Dreizehnten, war er mit Clairchen im Südpark. Es war ein schön ausklingender Oktobertag. Das Dunkel fiel dann ziemlich schnell über das stehende Parkgewässer herein. Clairchen begann leise an seiner Seite zu singen. Es kam ihm vor wie das frühlingswehe Nachklingen einer Seele. Denken aber musste er an eine, die ihm lieber war als jede andere. Die unvergessene Schummerstunde daheim mit Edith in seinem Zimmerchen stieg vor ihm auf. Kann man denn eine andere küssen und innerlich trotzdem treu bleiben? Er glaubte in diesem Moment, ja.

Lange verdrängen konnte man die Realität des Krieges nun nicht mehr. Eine Folge der Angriffe auf Oberschlesien waren zum Beispiel die fortwährenden Zugverspätungen, was sich für die Studenten des Wintersemesters sehr unangenehm auswirkte. Hinzu kam die jetzt quälend lange Laufzeit der Post.

Wieder mit Clairchen war er am Sonntag am Jungfernsee, am linken Oderufer außerhalb von Breslau. Er musste an die tragische Sage denken, durch die der See zu seinem Namen gekommen war, und erzählte ihr davon. Es wurde ein herrlicher, fast fünfstündiger Spaziergang durch die herbstliche Landschaft. Die ruhige Natur tat beiden so wohl in dieser Zeit.

Montag gab es mittags und abends wieder Alarm. Flak-Feuer zwang alle, die gerade draußen waren, in den Splittergraben. Es wurde jetzt immer kühler.

Am folgenden Tag wurde um die Mittagszeit wieder Alarm ausgelöst. Das könne ja nett werden, meinte der Spieß im Lazarett. Abends sah Helmut mit Clairchen im Ufa-Palast den Film Die Zaubergeige mit Will Quadflieg. Herrlich. Clairchen fuhr anschließend für drei Tage nachhause zu ihren Eltern.

Indessen sorgte er sich um Edith. Sie hatte angeblich eine kleine Operation über sich ergehen lassen müssen und es gehe ihr nicht gut. Die Wunde hatte von innen zu eitern begonnen. Der verantwortliche Arzt sei ein ausgemachter Trottel gewesen.

Die Befürchtung der Studenten bezüglich der Unsicherheit und Unzuverlässigkeit der ungarischen innenpolitischen Verhältnisse hatte sich anscheinend bestätigt. Es fiel keinem leicht, noch an einen Endsieg zu glauben. Aber an eine andere Lösung wagte kaum einer zu denken.

Am Donnerstag war in Breslau Volksappell befohlen worden. Hunderttausend marschierten in Waffen aller Art auf. Ein Volksaufgebot. Verwundeter Student, so stand Helmut ein wenig peinlich berührt in der schauenden Menge. Unfassbar, man hatte härteste Notzeiten überstanden, war Sieger über viele Nationen gewesen, Beherrscher des riesigen Ostraumes bis an die Tore Asiens. Und jetzt das.

Der Vater sollte demnächst das Krankenhaus verlassen dürfen. Die Diagnose lautete: Gelenkrheumatismus, kranke Nieren und Kalkarmut. Eine nette, seltsame Versammlung von Übeln auf einem Haufen. Der Sohn hoffte nach wie vor auf eine glückliche Lösung. Vater ist doch mit seinen achtundvierzig Jahren noch kein alter Mann!

Helmut arbeitete jetzt intensiver denn je am Verwaltungsrecht und stellte fest, dass er mehr Schlaf brauchte. Am zweiundzwanzigsten war dann Clairchen von ihren Eltern zurück. Sie besuchten zusammen den Circus Busch. Anschließend Bummel durch die Anlagen am Stadtgraben. Er nutzte endlich die Gelegenheit zu einer ernstlichen Aussprache und stellte heraus, dass er keine festen Absichten hege und vor allem sich nicht klar sei über seine Neigung zu ihr. Er riet ihr schließlich zur Umkehr zu ihrem Verlobten. Über Edith fiel kein Wort. Clairchen fragte nicht nach und mochte nichts hören, sie wollte nur der Gegenwart leben. Doch ihre unendliche Traurigkeit und der innere Kampf blieben ihm nicht verborgen. So hoffte er, dass ein Besuch Ediths in Kattern schnell klare Verhältnisse schaffen würde. Er mochte Clairchen nicht einfach so wegstoßen, sie sollte von allein und ungekränkt gehen.

Die neue Woche begann mit schlechten Neuigkeiten. Brot und Schmiere, also Butter und Margarine, waren knapp geworden. Im Westen war Aachen gefallen. Die Rote Armee stand bereits in Ostpreußen. Die Studenten versuchen dennoch, all ihr Sinnen und Trachten auf das kommende Wintersemester zu richten. Da kam ein Brief an den Kameraden Jorg Kuppen über Umwege zurück. Aufschrift: Vermisst. Er stecke an der Westfront, hieß es. Hoffentlich gefangen, vermisst war ein böses Wort.

Immer häufiger hatte die Bahn jetzt Verspätung, weil die Vor-Züge mit sogenannten Schippen eingesetzt wurden, um die Gleise freizuräumen. Wahrscheinlich würde man deshalb im Wintersemester jeweils erst um neun Uhr fünfzehn im Hörsaal sein müssen.

Von der Mutter war ein Obstpaket eingetroffen. Ein Brief lag bei. Danach war der Vater am Montag aus dem Krankenhaus entlassen worden. Er müsse sich noch schonen und dürfe nicht arbeiten. Die Familie hoffte, dass alles wieder gut werde. Die Sorgen wurden größer. Und was würde der Winter noch bringen? In Ostpreußen tobten schwere Kämpfe. Kaum wagte man es, alle Befürchtungen zu Ende zu denken, und wollte am liebsten den Kopf in den Sand stecken.

Der Regenbogen ohne Himmel

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