Читать книгу Fein gesponnen ist die Lüge - Schweden-Krimi - Ingrid Kampås - Страница 10
ОглавлениеAnton sitzt zehn Meter hinter Mari. Er trägt Ohrenschützer, ist mit einem Holzgewehr ausgerüstet, und jedes Mal, wenn sie schießt, tut er es auch. Mari ist zufrieden, sie hat bisher vier Serien geschafft. Eine hat sie noch. Sie legt vier Schuss ein, entsichert das Gewehr und zielt. Treffer. Erneutes Entsichern, der Elch bewegt sich, und sie schießt. Neuer Treffer. Dann steht der Pappelch in achtzig Metern Entfernung wieder still, sie schießt, er bewegt sich, und dann zum Schluss der letzte Schuss. Rikard, der den Schießstand betreut, kommt mit ihrem Ergebnis her.
»Viermal Gold, einmal Silber. Der Schuss sitzt, wo er soll«, sagt er zu Mari, die das Endstück des Gewehrs abnimmt, um es in das Seitenfach des Rucksacks zu stecken. Mari wirft zufrieden den Kopf in den Nacken und nickt Rikard zum Abschied zu. Sie winkt Anton; es ist Zeit, nach Hause zu fahren. Ein Schießstand ist doch nur ein Schießstand, und es ist etwas völlig anderes, auf eine Attrappe zu schießen als auf einen lebendigen Elch in der freien Natur, aber es ist ein gutes Training. Jetzt weiß sie auch, dass die Waffe funktioniert.
Was für ein Samstag! Die Luft ist frisch, und die Sonne wärmt mit einem beißenden Vorgeschmack auf den bevorstehenden Winter. Der Schießstand liegt weit oben, und als sie über den Wald hinunterblickt, leuchten in einem Buchenwaldstück die braungelben Herbstfarben in ihrer vollen Pracht, vermischt mit den helleren gelben Tönen der Birken und Espen und den satten roten des einen oder anderen Ahornbaums. Ein Waldspaziergang mit Lukas heute nachmittag wäre schön.
Auf halbem Weg zum Parkplatz sieht sie, dass jemand mit einem Gewehr zum Schießstand hinaufgeht. Sie erkennt ihn, als er näher kommt.
»Hallo, Sven-Göran!«
»Tag, Mari! Bist du auf der Flucht vor dem Herd? Ach, entschuldige, das war nur ein Witz.« Er setzt ein Lächeln auf, das er vermutlich für gewinnend hält. Die Sonnenbräune passt gut zu dem lockigen braunen Haar und lässt ihn frisch aussehen, den Naturfreund in grüner Jacke und neuer Fjällräven-Hose. Er hat ohne Zweifel einen gewissen widerlichen Charme, denkt Mari.
»Keine Sorge. Der Herd ist dabei, steht im Auto.«
»OK! OK! War nicht so gemeint. Scheußlich, das mit Bengt.«
»Auch wenn er nicht gerade der netteste Mensch der Welt war, hat er es kaum verdient, umgebracht zu werden«, sagt Mari und wirft zugleich einen Blick auf Anton, der angefangen hat, etwas weiter weg Steine aufeinanderzustapeln. »Wer weiß! Vielleicht nicht. Er war ein Parasit, den die Gesellschaft versorgen musste. Wir Steuerzahler.« »Bezahlst du viel Steuern, Sven-Göran?«
Er antwortet nicht auf die Frage, sondern nimmt den Rucksack ab und setzt sich auf den zusammenklappbaren Stuhl, der an dessen Rückseite befestigt ist. Mari lässt sich auf einem Stein am Wegesrand nieder.
»Wie gehen die Geschäfte?«, fragt sie.
»Ziemlich gut, muss ich sagen. Im Frühling mache ich einen Laden in Göteborg auf.«
Mari erinnert sich an das kleine Kellergeschäft im Haus der Eltern Stenström, wo er einmal angefangen hat. »Waren nicht Bengt und Janne am Anfang mit in der Firma? Als ihr Jugendliche wart?«
»Ja, genau. Aber das ging nicht gut. Sie wollten nur feiern. So läuft das nicht.«
»Haben sie von sich aus aufgehört?«
»Mehr oder weniger. Vater hat mir geholfen, sie auszuzahlen. Lars war eigentlich auch dabei. Mit ihm hätte es klappen können, aber dann ist er ja weg, um Medizin zu studieren.« Sven-Göran klingt entrüstet.
»Ihr wart damals eine Clique«, sagt Mari. »Gun-Marie, die den Hair Shop hat, und Else-Britt waren auch dabei, wenn ich mich richtig erinnere. Ist sie nicht später nach Stockholm gezogen, Else-Britt meine ich?«
»Ja.« Sven-Göran knöpft sich die Jacke auf und zieht sie aus, darunter trägt er einen grauen Pullover aus Schafwolle. Er legt sich die Jacke über das Knie.
»Lief da nicht etwas zwischen Bengt und Else-Britt?«, fragt Mari. »Er war damals noch nicht so heruntergekommen.«
»Daran erinnere ich mich nicht.«
»Mama, ich habe Hunger.« Anton kommt zu ihnen und zerrt Mari am Jackenärmel.
»OK, Anton. Ich komme. Wir müssen jetzt los.«
»Mach’s gut.« Sven-Göran steht auf und schaut Mari prüfend an. »Ich mag selbständige Frauen. Vielleicht können wir uns mal treffen? Du musst doch auch ziemlich ausgehungert sein?«
»Vergiss es, Sven-Göran. So ausgehungert kann ich gar nicht sein. Übrigens hast du Frau und Kinder.«
Er zuckt mit den Achseln und lächelt bedauernd.
Auf der Fahrt nach Hause denkt Mari über das Treffen mit Sven-Göran nach. Als sie sich Hallsered nähern, taucht eine Erinnerung auf. Else-Britt. Sven-Göran hatte ihr den Hof gemacht. Es hatte ihn ganz schön erwischt. War er deshalb so kurz angebunden, als die Sprache auf sie kam? Erstaunlich, wie Enttäuschungen in einem Menschen weiterleben können. Else-Britt war richtig süß. Ganz und gar mädchenhaft, mit langen blonden Haaren. Alle Jungen waren wohl ein bisschen in sie verliebt. Lennart auch, obwohl er es nie zugegeben hat.
»Mama, ich habe doch gesagt, dass ich Hunger habe.« Auf dem Rücksitz hat sich Anton ihren Rucksack gegriffen und wühlt auf der Suche nach etwas Essbarem darin herum.
»Liebling. Da ist nichts zu essen drin. Wir sind jetzt gleich zu Hause.«
Sie gibt ihm ein Butterbrot, bis die Fleischbällchen fertig sind. Sie essen und sind auf dem Weg nach draußen, als Åke klingelt. Er war in Varberg, in der Holma-Bäckerei, und steht mit einer Tüte Kopenhagener-Gebäck in der Hand da.
»Komme ich ungelegen?«
Mari seufzt. »Nein. Aber ich wiege schon fünfundsiebzig Kilo, und jetzt stehst du mit diesen ganzen Kalorien hier. In diesem Fall darfst du uns in den Wald begleiten, dann essen wir sie dort. Ich hole nur schnell noch eine Kaffeetasse.«
Sie gehen zum Hundezwinger und holen Lukas. Anton versucht, ihn an der Leine zu halten, aber der kleine Dackel springt so, dass der Junge sich darin verwickelt.
»Du musst warten, bis er sich beruhigt hat«, sagt Mari. Åke nimmt den Rucksack und sie den Hund. Vom Hof aus gehen sie ein Stück den Weg hinunter und biegen dann in den Waldweg ein, der um den See führt. Anton läuft vor ihnen her und sucht Pilze, die er wahllos in einen Korb legt. Mari lässt Lukas laufen. Sie genießt den Augenblick. Die Bäume am Seeufer spiegeln sich im Wasser. Erlen und Birken. Auf der anderen Seite des Weges stehen Fichten dicht beieinander. Etwas weiter weg wird der Wald von einer Lichtung unterbrochen, auf der Himbeersträucher welken und sterben. Dieses Jahr war kein gutes Himbeerjahr. Zu trocken. Zwei Eistaucher flattern über die sonnenbeschienene Oberfläche des Sees davon, aufgeschreckt durch die Anwesenheit von Menschen.
Åke trägt grüne Gummistiefel. Er kickt in den Teppich aus buntem Laub auf seinem Weg.
»Ich bin heute aus einem bestimmten Grund gekommen.« »Welchem?«, fragt Mari.
»Ich dachte, du solltest es wissen, damit du dir keine Sorgen um Anton machst. Wir haben einen Pädophilenskandal in Sundsby.«
Mari bleibt stehen. »Mein Gott!« Sie denkt daran, was in der Zeitung über Kinderpfleger stand, die sich an Kindern vergriffen hatten. Sie packt Åke am linken Arm. »Im Kindergarten?«
»Nein, aber ich weiß, wie schnell falsche Gerüchte verbreitet werden. Es war nicht im Kindergarten. Es steht sicher am Montag in der Zeitung. Ich wollte nur, dass du es weißt.«
»Aber wo dann? In der Schule?«
»Eine Familie aus dem Ort hat den alten Pfarrer Enarsson angezeigt.«
Anton steht außer Hörweite, fünfzig Meter von ihnen entfernt. Er hat angefangen, Stöcke ins Wasser zu werfen, die Lukas herausholt. Mari setzt sich auf einen großen Stein am Ufer. Sie spricht leise.
»Das klingt verrückt. Ist das wahr?«
Åke windet sich. »Es wird als sexueller Missbrauch bezeichnet. Er hat sie mit Süßigkeiten zu sich gelockt und dann an ihnen herumgefummelt. So etwas kann bis zu sechs Jahren Haft geben.« Er schüttelt den Kopf und schweigt einen Moment, denkt nach, fährt dann fort: »Mit Rücksicht auf sein Alter wird es wohl auf Bewährung sein.«
»Was sind das für Kinder?«, fragt Mari.
»Seine Nachbarskinder. Zwei Geschwister im Alter von drei und fünf. Aus dem Kosovo.«
»Pfui, wie ekelhaft. Er muss doch mindestens fünfundachtzig sein.«
»Weißt du nicht mehr, dass wir ihn immer etwas verdreht fanden?«, wundert sich Åke. »Wie er während des Konfirmationsunterrichts dauernd über Sex sprach.«
»Das stimmt. Er hat Jungen und Mädchen geteilt und getrennten Unterricht veranstaltet. Ich habe mich immer gefragt, was er den Jungs erzählt.«
»Es war meist Unsinn, dass man die Fleischeslust bändigen muss und so etwas. Und wie schädlich Onanie sei. Was hat er zu euch Mädchen gesagt?«
»Ich habe so unangenehme Erinnerungen an den Unterricht. Man hat sich danach immer schmutzig gefühlt. Es ging viel darum, wie sündig Mädchen sind und wie sie die Männer verführen.«
»Ja, mein Gott! Dann ist er jetzt wohl richtig übergeschnappt.« Åke setzt sich auf den Boden und wühlt im Rucksack. »Sollen wir Kaffee trinken?«
»Gut. Aber was passiert nun?«
»Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Das Sozialamt wird wahrscheinlich eingeschaltet. Psychologen und so. Enarsson ist verhaftet worden. Es steht außer Frage, dass er irgendetwas getan hat.«
Mari denkt nach und kaut an ihrem Gebäck. »Åke, hat deine Mutter nicht einmal vor langer Zeit gesagt, sie bereue es, dass du konfirmiert worden bist? Dass du, hätte sie gewusst, dass er Nazi ist, nie hättest zu ihm gehen dürfen?«
»Das stimmt. Das ist sicher zwanzig Jahre her. Eine Journalistin war damals hier und fragte die Leute nach den Kriegsjahren. Unter anderem Mama. Diese Autorin, ich glaube, sie arbeitete gerade an einem Buch, erzählte Mama, dass Enarsson in einer Naziorganisation gewesen war.«
»Ich dachte nur«, sagt Mari, »wenn er so einer war, meinte er vielleicht, dass er es bei Flüchtlingskindern nicht so genau nehmen muss?«
»Er hat zigmal bei uns auf der Wache angerufen und sich über sie beschwert, also über die Flüchtlinge. Dass sie unordentlich sind, Lärm machen und so weiter. Er wollte, dass wir sie nach Hause schicken.«
»Dann haben sie sich vielleicht auch nur an ihm gerächt? Dann stimmt es vielleicht nicht?«
»Leider ist es wahr. Eigentlich darf ich dir das nicht sagen, also darfst du es um Gottes willen nicht weitererzählen. Aber eine Dolmetscherin, die die Familie gut kennt, war da, um mit dem ältesten Kind zu einem Hörtest zu gehen. Sie haben nach den Kindern gesucht, und die Dolmetscherin ging zu Enarsson. Sie überraschte ihn dabei, wie er den Fünfjährigen befingerte.«
Anton kommt zu ihnen, und es wird Zeit, über etwas anderes zu sprechen. Åke nimmt die Mütze ab. Die Geheimratsecken kommen zum Vorschein. Er war vor kurzem beim Friseur, und die dunklen Stoppeln am Scheitel stehen ab. Mari hat Lust, über seine Haare zu streichen.
»Es ist heiß in der Sonne, aber du siehst mit Mütze süß aus.« Mari hat sie vor einigen Jahren gestrickt. Sie ist schwarz mit weißen Streifen.
»Süß ist nicht gerade das richtige Wort für einen großen fetten Kerl. Anton, willst du etwas Saft?«
»Aber dann müssen wir Steine übers Wasser springen lassen.« Anton nimmt das Saftglas und setzt sich damit vorsichtig auf Maris Schoß. Er hat noch immer Schwierigkeiten mit dem R und sagt »splingen«. Im Kindergarten machen sie sich deswegen Sorgen, aber Mari findet, dass es niedlich klingt. Mit der Zeit wird er schon noch lernen, richtig zu sprechen.
»Wenn ich groß bin, werde ich Polizist wie du. Die anderen im Kindergarten sind neidisch, weil ich dich kenne. Du kannst mich beschützen, das ist gut. Kann ich nicht bald noch einmal die Pistole anschauen, weil Markus und Andreas nicht glauben, dass ich sie gesehen habe?«
»Das nächste Mal, wenn ich die Pistole dabeihabe, darfst du sie ansehen. Ich habe sie nicht dabei, wenn ich frei habe.«
»Das finde ich dumm. Wenn ich Polizist bin, werde ich immer eine Pistole haben.« Er springt auf und beginnt, nach flachen Steinen zu suchen. Åke steht auf und hilft ihm.
Mari blickt über den See. Es ist so ein Tag, für den es nur ein Wort gibt, ein altes, abgedroschenes, oft benutztes Adjektiv: schön. Hier sitzen Anton, Åke und sie selbst und genießen die Sonne. In Sicherheit. Dennoch lauert auch hier die Schlechtigkeit und droht, die Idylle zu zerstören. Als ob die Schönheit ein Spiegel der Hässlichkeit wäre. Mari nimmt einen Stein und wirft ihn ins Wasser. Plumps. Die blanke Wasseroberfläche zittert, bevor sich die Ringe ausbreiten.
»So!« Mari klebt ein Pflaster über den Verband. »Sollen wir es jetzt bandagieren?« Sie beugt sich über die Liege, auf der Rut Axelsson mit ihrem kranken Bein liegt. Die ältere Dame trägt ein Blümchenkleid, das über ihrem dicken Bauch spannt.
»Das wäre wohl am besten«, sagt Rut. »Komisch, dass es nicht heilen will.«
»So ist das mit Wunden am Bein, Rut. Die können lange dauern.« Mari nimmt die feste Mullbinde und wickelt sie um das Bein, wobei sie an den Zehen anfängt. »Dann fehlt nur noch die Strumpfhose.« Sie hilft Rut beim Anziehen und stützt sie, als sie aufsteht.
»Weiß man, wie es Vera geht?«
Mari räumt das Verbandmaterial auf, sie antwortet ausweichend.
»Im Moment noch nicht.«
Das Geklapper von Holzpantoffeln nähert sich dem Behandlungszimmer Nummer zwei, und es klopft an der Tür.
»Dann verbleiben wir so, Rut. Ich erwarte Sie am Freitag wieder.« Mari legt ihre Hand auf Ruts linken Arm und lächelt. »Und vergessen Sie den Spaziergang nicht.«
»Das verspreche ich, Schwester. Danke.«
Ulla steht draußen auf dem Flur. Sie trägt ein rotes Band im Haar und darunter ist die Stirn in ängstliche Falten gelegt.
»Liebe Mari! Janne Lundmark ist hier und ist so komisch. Ich glaube nicht, dass er nüchtern ist. Bitte, sei so nett und kümmere du dich um ihn. Ich schaffe das nicht.«
»Ist er in Zimmer eins?«
»Ja. Ich kann das Telefon hüten, wenn du ihn übernimmst.« Ulla geht in Maris Büro, das Wand an Wand mit dem Behandlungszimmer zwei liegt und eine Verbindungstür hat. Im Wartezimmer sind zur Zeit keine Patienten, Ulla setzt sich an den Schreibtisch und loggt sich in den Computer ein. Nur sie und Mari sind heute in der Sprechstunde der Kreiskrankenschwestern. Annika ist bei einem Aufklärungsgespräch, und Eva und Birgitta sind bereits auf Hausbesuch. Meistens ist es umgekehrt, dass Ulla unterwegs ist und Patienten besucht. Sie findet es schön, auch einmal im Haus zu arbeiten. Da ist man nicht so einsam, es ist immer jemand da, mit dem man reden kann. Aber mit Janne kommt sie nicht gut zurecht, er ist schrecklich. Sie haben jetzt mehrere solcher Typen, die kommen und Tabletten holen. Sie bekommen ziemlich hohe Dosen, aber sie nimmt an, dass es besser ist, sie bekommen Medikamente vom Gesundheitsdienst, als dass sie Alkohol trinken und Drogen nehmen. Sie sind so verlebt, und alle riechen nach Rauch, sehen aus wie verschrumpelte, aufgesprungene Zigarettenkippen. Sie liest den letzten Eintrag über Janne. Viel steht nicht drin. Nur dass er an dem und dem Tag da gewesen ist und Tabletten geholt hat. Es gibt eine Anmerkung von vor zwei Wochen, dass er beim Psychiater gewesen ist und man beschlossen hat, Stesolid von hundert Milligramm am Tag auf fünfundsiebzig herabzusetzen. Wie soll das gehen? Ulla glaubt nicht wirklich daran, dass das klappt. Nicht, wenn man ihn heute sieht. Sie geht ans Telefon, als es klingelt, und klickt die Termine der Kindersprechstunde an. Mari geht in Zimmer eins. Janne sitzt auf der Liege am Fenster. Die Jalousien sind wie immer heruntergelassen, damit niemand hereinschauen kann. Die Neonröhre an der Decke lässt das Waschbecken und den rostfreien Tisch noch klinischer aussehen. Sie schielt nach dem Desinfektionsmittel für die Hände. Es ist noch da. Sie muss nachher daran denken, zu kontrollieren, ob es nicht gegen Wasser vertauscht worden ist.
Janne sitzt zusammengesunken da, die Hände unter den Schenkeln, die Schultern gebeugt. Das lange, leberpastetenfarbene Haar ist vor Fett ganz strähnig. Die Jeans ist schmutzig. Er trägt einen schwarzen, gestrickten Pullover unter der Jeansjacke. Die Jacke hat ein großes Loch am rechten Ellenbogen, wo fransige Pulloverfäden an einem klebrigen Stück Erde hängen. Es riecht nach Alkohol und Exkrementen im Raum. Er schaut zu Mari auf. Die Augen sind rot, die Nase läuft.
»Zum Teufel! Ich will nur meine Tabletten. Wo sind sie?« »Beruhige dich erst, Janne. Ich bin es, Mari. Du erkennst mich doch wieder?«
»Natürlich erkenne ich dich wieder. Glaubst du, ich bin dumm in der Birne?« Er schwankt auf der Liege.
»Du weißt, dass wir eine Vereinbarung haben. Du bekommst deine Tabletten am Montag und am Freitag, aber dann musst du nüchtern sein.«
»Ich scheiße auf eure blöden Vereinbarungen. Schau, was mit Bengt passiert ist.«
»Das mit Bengt ist traurig.«
»Trauuurig! Der Mistkerl hat nur bekommen, was er verdient hat. Er hat sich mir gegenüber total mies verhalten, aber ich bin schlauer. Das habe ich diesem Bullen gesagt. Ich sage nichts!, habe ich gesagt. Und daran habe ich mich gehalten.«
»Was hast du nicht gesagt?«
»Versuch es nicht. Ich sage nichts. Zu niemandem.« »Weißt du etwas über den Mord an Bengt?«
»Na ja, wissen. Gebt mir meine Tabletten.«
»Auf dem Anrufbeantworter war eine Nachricht von dir. Dass du kommen wolltest. Warst du dort?«
»Nein! Verdammt, ich habe eine Frau getroffen und wir sind durch Varberg gezogen. Dann sind wir zu mir gefahren und dort geblieben.«
»Weiß die Polizei das?«
»Ich habe es gesagt, aber ich komme verdammt noch mal nicht mehr darauf, wie die Frau hieß. Sie wollten mit den Nachbarn reden.«
»Lieber Janne! Warum machst du das? Kannst du nicht versuchen, mit den Drogen aufzuhören? Soll ich dir einen Platz für den Entzug besorgen?«
»Die! Die wollen mich nicht haben. Dieses verdammte Scheißdorf.«
»Okay. Aber in jedem Fall darf ich dir keine Tabletten geben, wenn du nicht nüchtern bist. Ich muss mit Lars reden, dann kann er entscheiden. Aber ich glaube nicht, dass er bereit sein wird, dir etwas zu geben.«
Janne steht auf und geht mit wackeligen Schritten zur Tür. Er schiebt die rechte Hand vor, ergreift die Türklinke und tritt in den Flur hinaus. Mari folgt ihm zur Anmeldung. Seine Stimme ist laut genug, um in der gesamten Pflegestation gehört zu werden. Ein älterer Patient im Wartezimmer sieht ängstlich aus.
»Lars! Dem Scheißkerl kannst du ausrichten, dass ich nicht vor ihm krieche. Er soll verdammt aufpassen, sonst lasse ich ihn abführen, und dich auch. Du hältst dich für so verdammt fein.« Er verschwindet durch die automatische Eingangstür.
Mari braucht Kaffee. Im Personalzimmer sitzen Lars und Eva-Lena und trinken mit Gunilla und einer Arbeitstherapeutin, die Lena heißt, Kaffee.
Mari belegt sich ein Brot mit dem, was auf der Anrichte steht, und setzt sich zu ihnen an den Tisch.
»Du hast es sicher gehört?«, fragt sie Lars.
»Das war nicht zu vermeiden. Es ist nur zu hoffen, dass er wieder nüchtern wird. Er kommt sicher zurück. Es ist im Moment kaum der Zeitpunkt für ein Attest.«
»Er muss aufpassen. Als er das letzte Mal in so einem Zustand war, vor einem halben Jahr, wäre er fast auf die Straße gesetzt worden.« Eva-Lena sitzt mit Strickzeug da, es sieht aus wie Babysöckchen, aber Mari wagt nicht zu fragen. Das fehlt gerade noch, dass eine Ärztin in den Mutterschutz geht.
Lars wendet sich an Mari. »Hast du viel zu tun heute?« »Wie immer. Warum?«
»Im Gemeindehaus findet ein Krisentreffen wegen dieser Pädophilengeschichte statt. Wir sind vom Sozialamt und der Kirche dazu eingeladen. Um zwei Uhr. Ich wollte dich fragen, ob du hingehst.«
»Nein. Ich verstehe nicht, was ich da soll. Es stand doch heute morgen in der Zeitung, dass es nur diese beiden Kinder waren, und die werden schon von Kinderpsychologen betreut.«
Lars lehnt sich in seinem Stuhl zurück, er schaut Mari nicht an, sondern fingert an der Kaffeetasse herum, die er in der Hand hält, und sagt beinahe entschuldigend: »Es gibt eben immer Unruhe, wenn so etwas passiert. Die Leute müssen sich aussprechen.«
»Ich halte nichts von solchen Krisengruppen. Egal, was passiert, immer glaubt man, wenn es nur eine Krisengruppe gibt, dann wird alles wieder gut. Ich sehe nicht, was ichdazu beitragen kann. Frag Birgitta. Ich kann heute nachmittag ihre Patienten übernehmen, wenn sie gehen will.« Lars sieht enttäuscht aus, aber er geht auf den Vorschlag ein: »OK, ich werde Birgitta fragen.«
Mari ist fertig für heute und auf dem Weg nach Hause, als sie Birgitta am Eingang trifft.
»Wie war es?«
»Eine aufgewühlte Stimmung.« Birgitta ist neulich auf Teneriffa gewesen, die Sonnenbräune ist zusätzlich mit Rouge aufgebessert. Sie sieht glücklicher aus als seit langem, sie pflegt sich mehr und hat eine neue Frisur. Das graublonde Haar ist im Nacken kurz geschnitten und am Scheitel lang. Es heißt, sie habe einen Freund, der mit auf den Kanarischen Inseln war, aber niemand weiß, wer er ist.
»War die Polizei da?« Mari sieht Svensson vor sich.
»Ja. Eine Frau aus Halmstad, die nur mit solchen Fällen arbeitet. Sie wirkte sehr kompetent.«
»Die armen Kinder!«, sagt Mari.
»Es ist zu hoffen, dass sie klein genug sind, um vergessen zu können. Aber es ist wichtig, dass sie professionelle Hilfe bekommen, hat die Polizistin gesagt.«
»Haben sie etwas darüber gesagt, was mit Enarsson passieren soll?«
»Nur, dass er noch in Haft ist. Auch wenn sie ihn freilassen, wird er wohl kaum wieder nach Hause gehen können.«
»Vermutlich nicht. Ich glaube, er hat einen Sohn weiter oben im Norden. Vielleicht zieht er dorthin.«
Birgitta schüttelt das graublonde Haar, sieht aus, als würde sie nachdenken, und wird für einen Moment still. Schließlich seufzt sie: »Das wäre wohl für alle am besten. Ich kann es immer noch nicht fassen. Darüber hat sie auch gesprochen, Kriminalinspektorin Annette Andersson hieß sie, dass es für die Umwelt so schwer zu akzeptieren ist. Man will nicht glauben, dass so etwas passieren kann, deshalb werden nicht alle sexuellen Übergriffe aufgedeckt. Niemand wagt es, an etwas so Schreckliches zu denken.«
Sie trennen sich, und Mari geht zum Auto. Das Wetter hat umgeschlagen. Es ist wärmer, aber bewölkt, und die ersten Regentropfen fallen, als sie sich ans Steuer setzt.
»Mist!« Der Tank ist leer.
An den Zapfsäulen ist eine Schlange, und sie muss warten, bis sie an der Reihe ist, während ein älterer Herr in einem blauen Volvo umständlich tankt. Durch das große Fenster der Tankstelle sieht Mari, wie er ein langes Gespräch mit dem Kassierer führt und dann sein Benzin und einen Kanister Öl bezahlt. Danach wird der Kanister in den Kofferraum gelegt, der Gurt in einer verwickelten Prozedur festgeschnallt, der eine Diskussion mit der Ehefrau auf dem Beifahrersitz vorangeht, bevor der Wagen gestartet wird, vorfährt und wegrollt. Mari will nach Hause. Ungeduldig fährt sie zur Zapfsäule vor und steigt aus dem Wagen.
»Mari!«
Mari tippt ihre Geheimzahl ein, bevor sie sich umdreht und das Gesicht der ungewöhnlich großen Frau vor sich zuwendet. »Marita! Wie geht es dir?«
»Es geht.«
Marita ist nicht schön. Groß. Mager. Der Eindruck eines traurigen Pferdes wird durch das kräftige Kinn und die langen, borstigen Locken verstärkt. »Wie schlimm für Vera«, fährt sie fort.
Mari kennt die meisten, die im häuslichen Pflegedienst arbeiten. Marita ist absolut zuverlässig und genau, macht immer das Richtige zur rechten Zeit, aber ist unglaublich ängstlich. Der Leiter der Haussamariter hatte wenig Verständnis für Maris Hinweis, dass es vielleicht besser wäre, jemanden nicht ganz so sensiblen wie Marita als Kontaktperson für Vera Silén einzusetzen. Das Problem war nicht Vera an sich, sondern Bengt und die fragwürdigen Leute, die dort ein und aus gingen. Mari versuchte, Marita zu unterstützen, Marita durfte sich bei ihr aussprechen, Mari lobte und bekräftigte sie. Mehr war nicht zu machen.
»Es ist schrecklich«, sagt Marita und zieht sich die Kapuze über den Kopf, um sich vor dem Regen zu schützen, der immer heftiger fällt. »Ich war heute mit Vera in der Psychiatrie, und sie hat eine Reihe Medikamente bekommen. Sie wurde eingewiesen. Der Arzt sagt, sie habe eine Psychose. Sie wird vielleicht Elektroschocks bekommen. Es war noch offen.«
»Es ist schwer für sie«, antwortet Mari. »Aber jetzt ist sie jedenfalls in guten Händen. Wir haben getan, was wir konnten. Du wirst sehen, sie wird wieder gesund.«
»Aber sie war so seltsam. Hat so schreckliche Dinge gesagt. Dass es ihre Schuld sei.« Marita hebt die Augenbrauen zu einer verständnislosen Grimasse, sie ist kurz davor zu weinen.
»Das ist der Schock durch Bengts Tod. Und wegen der Art und Weise, wie er starb.« Mari macht einen Schritt auf die Frau zu und legt den Arm um sie. »Es war sehr nett von dir, mit Vera ins Krankenhaus zu gehen. Wenn sie wieder zu Hause ist, wird sie besonders froh darüber sein, deine Unterstützung zu haben. Willst du ein Taschentuch?« Mari sucht in ihrer Hosentasche. »Hier!«
»Die Polizei war bei mir und hat gefragt, ob ich etwas gesehen habe.« Marita schluchzt. »Ich habe Vera an diesem Abend ins Bett gebracht. Aber ich habe doch nichts gesehen. Das habe ich gesagt. Wenn sie nun böse auf mich sind?«
»Liebe Marita! Du weißt, dass ich dir schon millionenmal gesagt habe, dass die Leute nicht böse auf dich sind. Du machst das, was du tust, ausgezeichnet. Du kannst nicht für alles die Verantwortung übernehmen.«
»Nein, ich weiß. Aber es ist so komisch. Weil ich mich später daran erinnert habe, dass ich, nachdem ich Vera ins Bett gebracht hatte, mein Handy vergessen habe. Ich saß schon im Auto, als ich es bemerkte. Also musste ich noch mal hineingehen und es holen. Ich hatte es auf den Tisch in der Diele gelegt. Es war so scheußlich, verstehst du, weil ich das Licht nicht angemacht hatte, um Vera nicht zu beunruhigen. Jedenfalls bekam ich solche Angst, weil da ein Geräusch war. So als wäre jemand in der Diele. Dann dachte ich, es wäre eine Maus. Stell dir vor, wenn es nun der Mörder war?«
»Ich glaube nicht, dass es der Mörder war, aber ich finde trotzdem, dass du Kommissar Svensson anrufen solltest.« Mari hat ihre Jacke im Auto gelassen, jetzt ist sie durchnässt, friert und will das Gespräch beenden. Sie fährt fort:
»Wir können hier nicht im Regen herumstehen. Willst du, dass ich Svensson anrufe?«
Marita nickt. »Wenn du so nett wärst. Entschuldige, aber es ist so schrecklich, jetzt wo Tomas nicht zu Hause ist. Er musste gestern fahren.« Ihr Mann arbeitet in Norwegen. »Ach, da war noch etwas. Vera wollte, dass ich zu ihrer Schwester fahre, aber ich kann nicht. Das musste ich ihr sagen. Ich hoffe, sie ist nicht böse auf mich.«
Geduld liegt Mari im Blut. »Marita! Niemand ist böse auf dich. Ich schaue, was ich tun kann. Fahr jetzt nach Hause und schlaf.«