Читать книгу Fein gesponnen ist die Lüge - Schweden-Krimi - Ingrid Kampås - Страница 6
ОглавлениеDer erste Nachtfrost des Jahres überzieht den Donnerstagmorgen mit einer weißen Puderschicht und bringt eine Vorahnung von Winter. Die Luft in den Lungen fühlt sich kalt an, und der Atem gefriert zu einer Wolke. Die Kälte kommt jedes Jahr überraschend. Keine Handschuhe, der Eiskratzer verschwunden.
Mari benutzt eine Kassette, um die Windschutzscheibe frei zu bekommen, während Anton auf der Rückbank in seinem Kindersitz zittert.
»Mach die Heizung an, Mama!«
»Sie ist voll aufgedreht.« Mit Fingern steif wie Eiszapfen setzt sie sich ans Steuer. Sie braucht eine Viertelstunde, um zuerst zum Kindergarten und dann zur Arbeit zu fahren. Vom Hof Hallsered nach Sundsby.
Kein Arbeitstag ist wie der andere, aber es gibt eine gewisse Routine.
Dazu gehört die Telefonsprechstunde der Kreiskrankenschwester zwischen acht und neun. Heute ist Mari ein paar Minuten zu spät und hört bereits auf dem Flur das Telefon in ihrem Büro klingeln. Sie nimmt den ersten Anruf entgegen, während sie sich gleichzeitig die Jacke auszieht und den Computer einschaltet. Es ist die Zeit der Erkältungen. Mari gibt Ratschläge zu Nasentropfen und Fieber senkenden Mitteln und vereinbart ein paar Termine bei den Ärzten, bevor Vera anruft.
»Hallo, Vera! Wie geht es dir?«
»Ja, wie immer. Die üblichen Schmerzen eben, nichts weiter.« Die Stimme klingt ängstlich. Abwartend.
»Kann ich etwas für dich tun?« Mari klemmt sich den Hörer zwischen Wange und Schulter und öffnet die Tagespost.
»Es geht um Bengt«, sagt Vera. »Könntest du nicht vielleicht vorbeikommen?«
Mari legt eine Einladung zu einer Ethik-Vorlesung beiseite. Sie hört den flehenden Ton am anderen Ende der Leitung. »Ich kann nach meiner Ambulanz-Sprechstunde kommen. Gegen halb elf. Ist das in Ordnung?«
»Das wäre nett von dir. Ich bin so unruhig.«
»Dann sehen wir uns nachher. Bis dann.« Es ist unnötig zu fragen, worum es geht. Wenn die Sache nicht am Telefon geregelt werden kann, besteht kein Grund, Gefühle zu wecken, mit denen sie sich im Moment ohnehin nicht auseinandersetzen könnte.
Vera gehört zu denjenigen ihrer Patienten, die viel Aufmerksamkeit verlangen. In der Kindheit an Polio erkrankt und infolgedessen so geschädigt, dass sie schon mit fünfzig Jahren an den Rollstuhl gefesselt war. Schmerzen, die schwer zu behandeln sind. Seit über dreißig Jahren Witwe. Ein drogenabhängiger Sohn. Es ist nicht das erste Mal, dass Vera anruft und Mari bittet zu kommen, und als sie an diesem Tag Veras Haus betritt, denkt Mari, dass es so wenig gibt, was sie tun kann. Nur da sein. Zuhören.
Vera ist in der Küche im Erdgeschoss. Es ist unaufgeräumt.
Man sieht, dass jemand sich bemüht, Ordnung zu halten, aber nicht ganz zurechtkommt. Alte Zeitungen, die sich auf der Bank am Fenster stapeln, ein Haufen Kleider auf einem Küchenstuhl, Gardinen, die vermutlich seit zehn Jahren nicht gewaschen worden sind, die Katzenschüssel auf einem schmutzigen Pappkarton am Boden und auf dem Teppich verstreutes Trockenfutter und Milch, die ausgelaufen und eingetrocknet ist.
Vera hat den Rollstuhl an die behindertengerechte Spülbank gerückt und schält Kartoffeln, aber als Mari hereinkommt, dreht sie den Wasserhahn zu und lässt das Schälmesser in die Spüle fallen. Sie rollt zum Tisch, nimmt die Brille ab und legt sie vor sich hin. Die Augen sind vom Weinen gerötet, das Gesicht geschwollen. Sie hat lange Haare, schwarz mit grauweißen Strähnen, im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden.
Mari betrachtet die Falten auf Wangen und Stirn, um so lange wie möglich Veras angsterfüllten Augen auszuweichen.
Im Radio, das auf dem Küchentisch steht, singt ein Chor Großer Gott. Mari schaltet es aus. »Was ist los, Vera?«, fragt sie und beobachtet die Träne, die aus Veras rechtem Augenwinkel auf den Tisch zu fallen droht.
»Bengt. Er ist nicht nach Hause gekommen.«
»Er kommt bestimmt bald, du wirst sehen.«
»Da stimmt etwas nicht!« Vera zupft an einer Häkelarbeit herum, die auf dem Tisch liegt. Sie wickelt das rote Garn von dem, was einmal eine Weihnachtstischdecke werden soll, um den linken Zeigefinger. »Ich habe Angst, dass ihm etwas passiert ist.«
»Du weißt doch, dass er manchmal ein paar Tage weg ist.« Mari könnte verschiedene Gelegenheiten aufzählen, bei denen Bengt abgehauen war. Nach Malmö oder Kopenhagen. Ab und zu nach Göteborg. Dann kam er high oder verkatert nach Hause zurück. Er saß wegen Drogenbesitzes und wurde, soweit sie weiß – in einem kleinen Loch wie Sundsby wird viel getratscht –, auch einmal wegen des Verdachts auf Rauschgifthandel verhaftet, aber aus Mangel an Beweisen wieder freigelassen. Sein Verschwinden trifft Vera immer hart. Eine krankhafte Unruhe lastet auf ihr, bis er zurückgekehrt ist.
»Heute morgen lag ich wach und dachte daran, die Pflegerin zu bitten, nach oben zu gehen und in sein Zimmer zu schauen. Dann habe ich es mir anders überlegt. Und nun kommt sie nicht vor heute abend wieder.« Sie sieht Mari flehend an.
»Selbstverständlich kann ich hochgehen«, sagt Mari. »Aber mir ist nicht klar, was ich da oben tun kann.«
»Du kannst vielleicht nachschauen, ob jemand auf den Anrufbeantworter gesprochen hat.«
»Warum?«
»Gestern abend war Bengt unten zum Essen. Er sagte, er würde später Besuch bekommen. Nachdem die Pflegerin mich kurz vor neun ins Bett gebracht hatte und ich gerade schlafen wollte, meinte ich das Telefon viermal läuten zu hören. Er geht nicht immer dran, für den Fall, dass es jemand ist, mit dem er nicht sprechen will, und dann springt der Anrufbeantworter nach dem vierten Klingeln an. Ich dachte, dass er vielleicht mit jemandem weggegangen war.«
Mari fällt ein, dass Bengt weder einen Führerschein noch ein Auto hat. »Hast du nicht gehört, ob jemand gekommen ist und ihn abgeholt hat?«
»Ich muss Schlaftabletten nehmen, sonst kann ich nicht schlafen. Wegen der Schmerzen, weißt du. Deshalb schlafe ich so tief. Aber ich glaube, ich habe einen Schlag gehört.«
»Dann machen wir es eben so«, sagt Mari. »Ich gehe nach oben und schaue nach, und dann musst du versuchen, dich ein bisschen zu beruhigen. Er ist schließlich erwachsen und für sich selbst verantwortlich.«
Die ältere Frau spielt mit dem Garn in ihren Händen, und Mari merkt, dass sie etwas Dummes, Unnötiges gesagt hat, denn Veras neurotische Unruhe lässt sich nicht wegdiskutieren.
Die Treppe zum ersten Stock ist eng, und auch hier breitet sich der Schmutz aus. Mari hat nicht wie üblich die Schuhe ausgezogen und spürt, wie sie an jeder Stufe hängenbleibt. Sie versucht, möglichst nicht daran zu denken, was da so kleben könnte. Oben auf dem Treppenabsatz steht eine Papiertüte mit Zeitungen, und ein Haufen Schuhe liegt neben einem zusammengelegten Flickenteppich. Hier oben gibt es zwei kleine Zimmer. In dem einen steht ein braungrün gestreiftes Sofa hinter einem niedrigen Tisch aus dunklem Holz. Der Tisch ist voller Glasabdrücke und Brandflecken von Zigaretten. An einer Wand stehen ein Fernseher und eine Stereoanlage auf einer Bank. Das Bett im Schlafzimmer ist ohne Laken und die Decke liegt zerknüllt am Fußende. Auf einem Nachttisch steht der Anrufbeantworter. Er blinkt. Mari geht vorsichtig über den schmutzig grünen Teppichboden, um nicht auf irgendetwas zu treten, und drückt auf Play. Der Anrufbeantworter surrt beim Zurückspulen, knackt, und dann ist eine Stimme zu hören. Nuschelnd, aber dennoch deutlich. »Hallo, ich bin es, Janne. Ich komme nachher vorbei.« Mari schaut sich im Zimmer um. Ein Stapel Pornozeitschriften liegt neben der Heizung, und mit einem starken Gefühl von Abscheu und davon, genug gesehen zu haben, beschließt sie, wieder hinunterzugehen. Unmittelbar vor der Treppe befindet sich die Tür zum Badezimmer. Aus einem Impuls heraus öffnet sie sie und bleibt mit der Hand auf der Türklinke stehen.
Das winzige Fenster zur Linken, oberhalb der Badewanne, reflektiert einen Sonnenstrahl im Spiegel über dem Waschbecken. Einen Moment lang blendet er sie, und sie denkt, hier drinnen würde gerade gestrichen.
Mari sieht, aber das Gehirn nimmt nicht auf, was die Augen ihr vermitteln. Es dauert eine Weile, bis sie versteht, worauf sie schaut.
Bengt liegt mit einem Messer im Bauch auf dem Boden. Das linke Bein liegt ausgestreckt unter dem Waschbecken, das rechte ist weggespreizt. Die Schultern lehnen am Badewannenrand, und der Kopf hängt schräg nach rechts. Dadurch sieht der Mund mit dem herabgefallenen Unterkiefer schief aus. Bengts Hände ruhen auf den Schenkeln, die Handflächen nach oben gedreht, so als habe er seinen Körper umklammert, bevor die Arme durch den plötzlichen Tod hinunterfielen. Er trägt abgenutzte Jeans. Der Aufdruck auf dem ehemals weißen T-Shirt ist nicht mehr zu entziffern.
Durch die Zahnpastaspritzer auf dem Spiegel sieht Mari ihr Gesicht und muss an den Satz denken, den Anton immer ruft, wenn er mit seinem Holzschwert herumrennt: »Das Blut spritzt, das Blut spritzt!«
Sie spürt einen Brechreiz aufsteigen und stürzt die Treppe hinunter und durch die Diele nach draußen. Auf der Außentreppe klammert sie sich ans Geländer, glaubt einen Moment lang, die Übelkeit unterdrücken zu können. Aber sie kommt zurück, und Mari beugt sich vor und erbricht sich in den Rhododendron.
Danach richtet sie sich auf und atmet die frische Luft ein. So viel Blut! Was soll sie jetzt tun? Sie muss sich erst einmal hinsetzen. Sie gleitet hinab und lehnt sich gegen das Geländer, friert. Sie hat keine Jacke dabei, die liegt im Auto. Das Auto, natürlich. Der Schlüssel, den sie aus der Hosentasche holt, liegt nicht ruhig in der Hand, sie macht einen Kratzer in den Lack, als sie die Wagentür öffnet. Das Handy liegt noch auf dem Sitz. 112. Sie fragt nach der Polizei.
Als das erledigt ist, weiß sie nicht, wie ihre Beine sie zurück ins Haus tragen sollen, zurück zu Vera. Sie schließt die Augen, lehnt den Kopf gegen die Nackenstütze. Das Schlimmste bleibt noch zu tun. Vera wundert sich jetzt bestimmt. Fragt sich, warum sie hinausgelaufen ist. Warum sie nicht wiederkommt. Wer soll es ihr sagen, wenn nicht Mari? Sie sieht ein, dass sie diejenige ist, die ihr die Nachricht überbringen muss, beschließt aber, auf die Polizei zu warten.
»Mist!«, sagt Åke. Er hat den Notruf entgegengenommen und steigt aus dem Polizeiauto, um seine halb aufgegessene Portion Fleischbällchen in den Mülleimer zu werfen. Göte nimmt seinen Hamburger mit in den Wagen. Sie verlassen den Imbissstand an der Statoil-Tankstelle und fahren durch die Hauptstraße von Sundsby. Vorbei an der Post, der Bank und der Pizzeria. In der Straße gibt es nur wenige Läden, darunter das Elektrogeschäft, in dem auch eine Spirituosenhandlung untergebracht ist, und ein Damenfriseur. Die Apotheke befindet sich bei der ambulanten Pflegestation neben dem Krankenhaus am westlichen Ende der Ortschaft. Dort ist auch die Schule.
Sundsby liegt in einem Tal und streckt sich von dort den Nordhang hinauf. In der Nähe des Zentrums stehen Mietshäuser und einfachere Eigentumshäuser. In den letzten zehn Jahren sind viele Doppelhäuser entstanden, kommunale Mietswohnungen in Pastellfarben, die auf den Grundstücken der abgerissenen Holzhäuser erbaut wurden, die früher an der Hauptstraße standen. Weiter oben zum Wald hin ist die bevorzugte Wohngegend mit Villen aus weißem Stein und mit Aussicht. Östlich vom Zentrum, Richtung Lunnered, gibt es eine Feuerwache und ein kleines Industriegebiet. Außerdem liegt im Osten die Kirche mit dem dazugehörigen Friedhof.
Bis vor einigen Jahren war die Hauptstraße eine viel befahrene Durchfahrtsroute, aber seitdem südlich von Sundsby die neue Umgehungsstraße gebaut wurde, hat der Verkehr merklich abgenommen. Es ist nun in vieler Hinsicht ruhiger, aber für den Kommerz hat das negative Auswirkungen. Niemand macht mehr halt in Sundsby, die Bäckerei mit dem angeschlossenen Café musste schließen, ebenso das Gasthaus. Eine friedliche Ortschaft, nach außen hin idyllisch.
Als Åke an der Pizzeria vorbeifährt, denkt er daran, dass an dieser Stelle früher die alte Fleischerei war. Er ist hier aufgewachsen und hat miterlebt, wie der Ort sich veränderte. Von einer geschlossenen Einheit, sicherlich nicht ohne seine Dramen und Verbrechen, zu einer offenen Welt. Nicht alles war früher gut. Der eine soff, der andere war untreu, manche Kinder hatten zu leiden. Dennoch passierte alles im kleinen Stil. Die meisten Menschen waren wohlmeinende Kleinbürger. Natürlich konnte die soziale Kontrolle manchmal lästig sein, aber sie bedeutete auch eine gewisse Sicherheit. In den sechziger Jahren gab es den Fortschrittsglauben und eine Gemeinschaft. Es wurde etwas aufgebaut. Mit PV-Volvos, Herstellungsindustrie und Möglichkeiten für alle. Ab einem gewissen Zeitpunkt, möglicherweise war das, als er Anfang der Achtziger von der Polizeihochschule zurückkam, vielleicht auch schon früher, begann alles, sich zu verändern. Plötzlich gab es Drogen, Kriminalität, Außenseiter, Arbeitslose und Fremdenfeindlichkeit. Dazu kamen Stresssymptome und eine Art kollektive Angst. Sundsby wurde eine Miniaturausgabe der globalen Probleme.
»Gut, dass wir in der Nähe waren«, sagt Göte. Er seufzt, und Åke weiß, dass er an seine Arbeitssituation denkt. Sie sind jetzt Bezirkspolizisten, zuständig für ein großes Gebiet. Zu groß, vor allem abends und an den Wochenenden. Ganz zu schweigen von den Nächten. Einen Innendienst gibt es nur auf der Station in Varberg bis vierundzwanzig Uhr. Danach gehen die Notrufe über die Zentrale in Halmstad an die zehn Polizisten, die in der Region Halland im Dienst sind. Läuft es einmal richtig schlecht, kann es sein, dass alle zehn sich im südlichen Teil des Bezirks aufhalten, wenn etwas im Norden passiert.
Åke fährt nach Westen, Richtung Klocksbo. Er überholt einen Traktor.
»Was machst du im Urlaub, Göte? Schlafen?«
»Nee. Ich werde Laub rechen. Den Boden düngen. Herbstarbeit. Du solltest auch mit Gartenarbeit anfangen.« Er leckt sich die Soßenreste von den Fingern seiner linken Hand und trinkt einen Schluck Fanta.
»Das ist der Vorteil, wenn man in einer Wohnung wohnt. Da brauche ich so etwas nicht zu machen.«
»Man muss ein Hobby haben. Denk an die Rente.«
»Wie viele Tage hast du jetzt noch?«
»Zweihundertachtundachtzig. Es wird gut sein, diesen Scheiß hier nicht mehr machen zu müssen.«
»Schön für dich.«
»Nimm es mir nicht übel, aber ich sage dir, ich bin diesen Job hier leid. Als ich vor vierzig Jahren als Polizist anfing, sollten wir den Menschen helfen. Gauner einfangen, damit die gewöhnlichen Leute ihre Ruhe hatten. Herrgott, es kommt mir vor, als sei das in der Steinzeit gewesen.« Er nimmt den letzten Schluck, rülpst und wirft die Dose auf den Boden. »Besoffene Dreizehnjährige und siebzehnjährige Autoknacker in Verwahrung nehmen. Dann kommt das Jugendamt, klopft ihnen auf die Schulter und sagt: ›Freundchen, so etwas darfst du nicht machen.‹ Am nächsten Tag schnappen wir sie uns wieder. Das nimmt nie ein Ende!«
Åke antwortet nicht. Er blinkt links, muss einen entgegenkommenden Lastwagen abwarten und biegt dann in den Schotterweg nach Klocksbo ein. Ein Bauer ist gerade beim Pflügen, und ein paar Möwen fliegen kreischend über das Feld auf der Jagd nach aufgewühlten Würmern. Nach einigen Kilometern sieht man das weiß gestrichene Haus. Vor der Scheune stehen drei Schrottautos. Das, was einmal der Garten war, ist zugewachsen. Nur die Sonne kann dem Verfall einen versöhnlichen Anstrich geben. Dem, was aufgeräumt, gestrichen und gestutzt werden müsste. Åke weicht einer Katze aus und bringt den Wagen auf dem Hof zum Stehen. Mari steht auf der Treppe. Er verspürt Lust. Eine Mischung aus Freude und Sehnsucht.
»O Gott, wie schön, dass ihr es seid!«
»Wir sollten aufhören, uns so zu treffen«, sagt Åke. Er bereut seine Worte sofort. Warum muss er nur immer spotten?
»Ist jemand tot?«, fragt Göte.
»Bengt.«
»Damit war wohl zu rechnen, dass er früher oder später eine Überdosis nimmt.« Göte hat genug von Drogenabhängigen.
»Falls man sich nicht selbst eine Überdosis Messer verabreichen kann, dann hat ihn jemand umgebracht«, antwortet Mari verärgert. »Geht hoch und schaut nach!« Sie geht zurück zu Vera.
Åke seufzt tief und folgt Göte ins Haus.
Vera sitzt noch immer am Küchentisch und zwirbelt mit leerem Blick das Garn, sie schaut nicht auf, als Mari sich neben sie setzt. Mari streicht Vera über die Hand. »Ich habe die Polizei angerufen. Sie ist jetzt da.«
»Polizei?«
»Ich musste es tun, das wirst du verstehen.« Sie fasst sich ein Herz, jetzt oder nie. »Vera, Bengt ist tot. Ich habe ihn im Badezimmer gefunden. Es sieht aus, als habe ihn jemand getötet.« Sie lässt ihre Worte auf die andere wirken, aber zweifelt einen Moment lang, ob diese sie gehört hat. Ein gelbrotes Ahornblatt fliegt gegen die Fensterscheibe und schwebt dann auf das Sims hinunter. Es schimmert im Sonnenlicht. Vera ist still, aber dann fängt sie an zu weinen. Die Tränen laufen ihr über die Wangen auf die Brust hinunter, wo sie von der glänzenden Wolle der Strickweste aufgesaugt werden. Sie machen dunkle Punkte auf dem hellen Blau, wie Schmutzflecken. Vera holt ein Taschentuch aus der Tasche, die am Rollstuhl hängt. »Er war mein Kind!« Die Worte klingen resigniert, wie bei jemandem, der die Bestätigung für etwas bekommt, das er schon lange erwartet hat.
»Ich koche uns einen Kaffee, in Ordnung?« Die ältere Frau nickt, und Mari bereitet alles vor und stellt zwei Tassen auf den Tisch.
Vera bekommt ihren Kaffee, sie wärmt beide Hände an der Tasse, trinkt aber nicht. »Er war ein Nichtsnutz, aber du weißt, egal wie es steht, dein Kind ist immer dein Kind.«
Mari rückt ihren Stuhl näher an Vera heran und legt ihren Arm um sie. »Liebe, gute Vera. Das alles ist so schrecklich.« So bleiben sie lange sitzen. Wie immer, wenn es keine tröstenden Worte gibt, ist es am besten zu schweigen.
Im Flur hört man trampelnde Schritte, als Åke und Göte hinausgehen.
Er hat ein gefährliches Leben geführt, Bengt Silén, denkt Mari. Drogen und gewalttätige Bekannte. Dass er auf dem Weg vom Altersheim zur Postbank, wo er seine Rente abheben wollte, sterben würde, hat wohl niemand geglaubt, aber sein plötzlicher Tod kommt dennoch überraschend. Sie fühlt sich unschlüssig und gestresst. Sie hat Kinderambulanz am Nachmittag. Es ist absurd, jetzt an sich selbst zu denken und daran, wie man die eigenen Sachen erledigen soll, wo Vera in solch einer Lage ist, aber sie kann es nicht ändern. Irgendetwas muss getan werden, nichts wird besser davon, dass man es aufschiebt. Sie gibt sich einen Ruck, versucht, Veras Blick einzufangen, und erhebt die Stimme so, dass die andere aus ihren Gedanken schreckt. »Du kannst hier nicht allein bleiben, nicht nach dem, was passiert ist.«
»Wohin soll ich denn gehen?«
»Ich rufe Carina an, die Pflegedienstleiterin. Sie soll versuchen, übergangsweise einen Platz im Pflegeheim für dich zu besorgen.«
Vera verzieht das Gesicht, aber nimmt das schnurlose Telefon aus der Tasche am Rollstuhl und reicht es Mari. Es ist am besten, jetzt gleich anzurufen, bevor Carina Mittagspause macht.
»Carina Ljungström.«
»Hallo, hier ist Mari. Kannst du für Vera Silén einen Platz in Svalebo organisieren?«
»Kann ich den Mond herunterholen? Wie wichtig ist es?« »Sehr wichtig.«
»Es gibt in der Kommune fast keinen freien Platz. Die Frau von Anders Johansson ist gestern aus dem Krankenhaus entlassen worden, deshalb geht er heute nach Hause. Ich dachte eigentlich daran, dass Alfred aus Näset morgen den Platz haben könnte. Sonst muss ich bei ihm mehr häusliches Pflegepersonal einsetzen.«
»Tu das! Ich komme nachher mit Vera, wenn du so nett bist, im Heim Bescheid zu geben. Ich erkläre dir dann alles.« Mari legt auf und wendet sich an Vera.
»Soll ich dir beim Packen helfen?«
Vera nickt. »Ich brauche etwas zum Anziehen und eine Zahnbürste. Windeln werden sie wohl dort haben.« »Willst du nicht deine Häkelarbeit mitnehmen? Ein paar Bücher?«
Vera zuckt apathisch mit den Schultern. Mari findet eine große Reisetasche in der Kleiderkammer und packt Röcke, Hosen, Pullover und Unterwäsche ein. Sie geht in Veras Badezimmer und findet die Toilettenartikel.
»Sind deine Medikamente in der Küche?«, ruft sie Vera zu.
»In der Schublade unter dem Besteck.«
Als Mari die Dosen und Tablettenröhrchen in die Tasche gestopft und den Reißverschluss zugezogen hat, öffnet Åke die Küchentür. Er mustert Mari, um herauszufinden, ob sie noch böse ist.
»Ich bringe Vera nach Svalebo«, sagt Mari. »Könnt ihr mit eurem Verhör, oder wofür auch immer ihr sie braucht, bis später warten?«
»Ich denke schon«, sagt Åke. Sein großer Körper füllt den Türrahmen aus, das Gesicht ist blass, zwei weiße Strähnen ziehen sich von den Schläfen durch das dunkle Haar. »Wir haben die Kripo verständigt.« Er geht unbeholfen auf Vera zu und nimmt ihre Hand. »Mein herzliches Beileid, Vera.«
Sie antwortet nicht, aber klopft ihm auf den Arm und trocknet sich die Augen mit einem zusammengeknüllten Taschentuch.
Die Polizisten helfen Vera, in Maris Clio zu steigen. Auf Åke und Göte gestützt macht sie ein paar stolpernde Schritte und setzt sich auf den Beifahrersitz. Sie sieht die Menschen um sich herum nicht an, auch nicht das Haus, das sie im Begriff ist zu verlassen. Ihr Blick starrt abwesend aus dem Autofenster.
Im Pflegeheim wird Vera gut von Schwester Siv versorgt, einer großen Frau mit einem ebenso großen Herzen. Schon im Eingangsbereich flattert sie ihnen entgegen, in einem rotweiß gestreiften Kleid, das sie wie eine aufgedunsene Zuckerstange aussehen lässt, überall an ihr schwillt und quillt es. Ihr Haar ist à la Roxette blondiert, und zwischen den mit Make-up bedeckten Wangen sitzt ein rosa Schmollmund. Sie schnalzt, jammert und verzieht das Gesicht während Maris kurzer Erklärung. Wie eine Glucke breitet sie dann ihre Flügel über Vera aus, und Mari spürt, dass diese in guten Händen ist.
Zurück in der Pflegestation schaut Mari ins Wartezimmer. Zwei Mütter sitzen dort und stillen. Keine Eile also. Im Personalzimmer ist es menschenleer, und sie wärmt ihr Essen in der Mikrowelle auf. Neben der Spüle stehend beginnt sie zu essen, aber es schmeckt ihr nicht, sie fühlt sich nicht hungrig. Ich muss essen und ich muss mich beruhigen, sagt sie sich. Deshalb setzt sie sich an den Tisch und blättert beim Essen in einer Zeitschrift. Die bunten Fotos flimmern vor ihren Augen, aber sie nimmt nicht auf, was in den Texten steht.
Nach einer Weile kommt Lars herein und setzt sich auf den Stuhl ihr gegenüber. Er ist Kreisarzt und der Chef der Pflegestation. Ihr Chef. Er hat seinen weißen Kittel abgelegt und trägt Jeans und einen hellgelben Pullover.
»Ist etwas passiert?«, fragt er. »Ich habe so etwas an der Rezeption gehört.«
Mari kämpft mit den Tränen. »Ich komme von Vera Silén. Sie hat heute morgen angerufen und war beunruhigt wegen Bengt. Er lag erstochen in seinem Badezimmer.« Mari gibt wieder, was passiert ist.
Lars schüttelt ab und zu besorgt den Kopf, aber schweigt während ihrer Erzählung.
»Wie schrecklich für dich. Schaffst du es, heute weiterzuarbeiten?«
Er sieht aus wie ein Golden Retriever, denkt Mari. Das Schlimmste an solchen Menschen wie Lars ist, dass sie so verständnisvoll sind. Sie beißt die Zähne zusammen, um nicht anzufangen zu weinen.
»Das wird schon wieder. Es ist nur so tragisch«, sagt sie. Lars hat weizenblondes, seitlich gescheiteltes Haar, eine Locke fällt ihm immer in die Stirn. Jetzt schüttelt er die Locke zurück und lehnt sich über den Tisch, fängt Maris Blick ein. »Natürlich ist es tragisch, vor allem für Vera. Aber du darfst nicht vergessen, dass Bengt sein Leben selbst gewählt hat.«
»Du hast wahrscheinlich recht. Um Vera tut es mir am meisten leid. Vielleicht sollte ich nach der Kindersprechstunde nach Hause gehen.«
»Tu das und melde dich, wenn irgendetwas ist.«
Mari bleibt noch eine Weile sitzen, nachdem Lars zurück in seine Sprechstunde gegangen ist. In einer Thermoskanne auf dem Tisch ist noch ein Rest Kaffee. Er ist kalt und wässrig, wird es aber trotzdem tun. Es ist ein Tag, an dem sie viel Koffein braucht. Veras verzweifelte Hilflosigkeit hat sich in Maris Kopf eingenistet. Wenn sie genauer darüber nachdenkt, fühlt sie sich selbst auch verzweifelt und hilflos.
Mari hat vor, Anton ausnahmsweise selbst vom Kindergarten abzuholen. Als sie mit der Behandlung der Säuglinge fertig ist, ruft sie zu Hause an und spricht mit Iris.
»Ich komme früher nach Hause. Gösta braucht Anton nicht abzuholen.«
Normalerweise ist Gösta jeden Nachmittag um vier am Kindergarten, um Anton abzuholen. Das ist ein praktisches Arrangement. Anton muss nicht allzu lange von zu Hause weg sein, und sie selbst braucht kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn sie Überstunden machen muss. Denn darum dreht sich alles bei berufstätigen Müttern, denkt sie, als sie den Kindergarten betritt. Zwar hatten Iris und Gösta angeboten, Anton die ganze Zeit zu sich zu nehmen, aber da hatte Mari Einspruch erhoben. Den ganzen Tag lang einen Fünfjährigen um sich zu haben ist anstrengend, sie sind trotz allem Rentner, und Anton braucht seine Spielkameraden.
»Mama, wir sind draußen gewesen und haben Laub gesammelt. Ich habe ein Bild gemacht.« Er lacht über das ganze Gesicht, so dass die Zahnlücken im Unterkiefer zum Vorschein kommen. Er hat Sand in seinem hellen Haar. Mari kneift ihn leicht in die noch runden Kinderwangen.
»Wie schön! Das hängen wir an die Wand.« Auf ein schwarzes Papier hat Anton gelbrote Ahornblätter, gelbes Espenlaub und Vogelbeeren geklebt.
Anton schiebt schmollend die Unterlippe vor. »Entschuldigung, aber das ist für Oma.«
»Das macht nichts. Du kannst ein anderes für mich machen. Bekomme ich einen Kuss?«
Hallsered besteht aus drei Höfen, eine Meile östlich von Sundsby. Als Mari und Anton einzogen, hatten ihre Schwiegereltern Iris und Gösta im zweiten Stock eine Küche und ein Bad installiert, so dass aus dem Haus zwei Wohnungen wurden, und sich dort oben eingerichtet. Zuerst war Mari skeptisch gewesen, aber dann hatte sie die Vorteile gesehen. Und die Nachteile. Es ist nicht immer leicht, so eng beieinander zu wohnen, aber es hat seine guten Seiten. Vor allem für eine alleinerziehende Mutter. Das erspart ihr eine Menge Sorgen. In ihrem Beruf ist es nicht leicht, kurzfristig eine Vertretung zu finden, wenn das Kind krank ist. Deshalb bedeutet ihr Fehlen doppelte Arbeit für die Kollegen. So wie es jetzt ist, bleibt Anton bei Iris, wenn er nicht in den Kindergarten gehen kann. Mari bleibt der Arbeit nur sehr selten fern. Das Gefühl nicht zu taugen, als Mutter nicht gut genug zu sein, wäre sicher noch größer, wenn sie nicht Iris und Gösta hätte. Es bedeutet auch Sicherheit, Menschen in der Nähe zu haben, die sich um einen kümmern, und sie möchte, dass Anton auf dem Land aufwächst.
Vielleicht ist das der Weg des geringsten Widerstandes, der bequeme, sichere. Mari ist nicht für alles verantwortlich, wird zum Teil immer noch versorgt. Aber warum auch nicht?, denkt sie manchmal. In einer anderen Kultur als der unsrigen, in einer Kultur, die nicht betont, dass einsam sein stark sein bedeutet, würde ihr Zusammenwohnen als etwas völlig Natürliches und Selbstverständliches angesehen.
Auf dem Hof von Hallsered liegt auf der Seeseite der große Kuhstall, flankiert vom Hühnerhaus, der Waschküche und einem kleineren Geräteschuppen. Fünfzig Meter von den Wirtschaftsgebäuden entfernt steht das Wohnhaus, ein großes, weißes, zweistöckiges Holzhaus mit roten Fensterrahmen.
Hinter dem Haus, bevor der Fichtenwald anfängt, wächst ein Buchenwald in einem Halbkreis zum See hinunter. Im Sommer sind die Buchen zartgrün und filtern das Sonnenlicht auf ganz besondere Weise. Den entlaubten Teil des Jahres über schimmert ein Teppich aus braunen Blättern unter den hellgrauen Stämmen. Kein Wald ist Maris Ansicht nach schöner als ein Buchenwald.
Gösta legte vor vier Jahren die Milchproduktion nieder, aber er hat etwa zwanzig Bullen und einige Schweine. Der Hof besteht aus zehn Hektar Ackerland, von denen er die Hälfte verpachtet, und fünfundvierzig Hektar Wald, wo er noch viel arbeitet, obwohl er im Ruhestand ist. Gösta ist nicht der Typ, der sich hinsetzt und Briefmarken sammelt.
Für ihn ist Freizeit gleichbedeutend mit Arbeit. Die Arbeitskleidung ist seine zweite Haut, die Motorsäge seine Hand, der Holzgeruch seine Atemluft. In diesem kleinen Erdenwinkel geboren hat er hier sein ganzes Leben verbracht und Wurzeln geschlagen, genau wie die große Esche auf dem Hof, das uralte, knorrige Naturdenkmal, das Mari bei ihrer Ankunft auf dem Hof sofort auf den Namen Yggdrasil taufte.
Als sie nach Hause kommen, kocht Mari Spaghetti, und gegen sechs Uhr setzt sich Anton vor den Fernseher, um das Kinderprogramm anzuschauen. Ungefähr zur gleichen Zeit kommt Gösta vorbei, um zu erfahren, wovon die Leute reden. Er hat draußen ein paar Stunden lang geschreinert und trägt noch immer seinen Blaumann. Er steht in der Tür, ganz aufrecht und so groß, dass er fast an den Türrahmen stößt. In seinem dichten, welligen Haar hängen Sägespäne. Manchmal findet Mari, dass er Lennart schrecklich ähnlich ist.
»Was zum Teufel ist passiert? Ich war unten im Supermarkt, und da haben sie gesagt, du hättest Bengt aus Klocksbo tot aufgefunden?«
Mari erzählt, wie es war, ihre Schweigepflicht gilt ja wohl nicht bei Mord, aber sie lässt die Details weg.
»Das ist ja ...« Gösta schweigt kurz, bevor er fortfährt: »Arme Vera. Wir waren gemeinsam im Konfirmationsunterricht. Bei Probst Svensson. Ich werde Iris bitten, sie zu besuchen.«
»Geh doch mit! Sie freut sich bestimmt.« Mari kann sich wahnsinnig über seine Art ärgern, alles in Frauen- und Männerarbeit einzuteilen. Soziales und Gefühle, das ist Weiberkram. Aber sie weiß, dass sie ungerecht ist. Gösta ist in Ordnung, er ist ein Produkt seiner Erziehung, etwas altmodisch. Sie denkt daran, wie nett er und Iris zu ihr gewesen sind, seit Lennart starb, und bekommt ein etwas schlechtes Gewissen. Offenbar ist das einer dieser Tage. Ein Donnerstag der Untauglichkeit.
Als Gösta gegangen ist, bringt Mari den Müll weg und wünscht sich, sie könne mit ihm alle Pflichten, alle Schuldgefühle, das ganze schlechte Gewissen wegwerfen. Symbolisch würde sie ein Sühneopfer mit einem Opferlamm in Form eines Müllbeutels machen. Sie bindet die Tüte fest zu, geht auf den Hof hinunter und drückt sie kräftig in die Tonne hinein.
Einen Patienten zu haben, dem man nicht helfen kann, vermittelt Machtlosigkeit und verstärkt die Schuldgefühle, die man schon hat, denkt sie. Sie zwingt sich, nicht mehr an Vera zu denken, und geht in den Keller, um Wäsche aufzuhängen.
Es wird Zeit, Anton ins Bett zu bringen. Als sie ihm Frosch und der Fremde vorgelesen und das Licht gelöscht hat, sagt er: »Mama, im Kindergarten haben sie gesagt, dass jemand erstochen wurde.«
Mari kann sich das gut vorstellen. In Sundsby breiten sich Gerüchte schneller aus als ein Virus. Sogar im Kindergarten. Sie wählt ihre Worte vorsichtig.
»Aber die Polizei wird den Bösen bald fangen.« Sie versucht, selbstsicher zu klingen.
»Mama, ich habe Angst. Stell dir vor, der Böse ersticht mich oder uns.«
»Anton, das wird er nicht! Es gibt böse Menschen, aber nicht viele. Die allermeisten sind nett. Das darfst du nicht vergessen. Du hast ja mich und Oma und Opa.«
Er muss sich mit der Antwort zufriedengeben und schläft nach einer Weile ein. Sie bleibt noch liegen, hört, wie seine Atemzüge gleichmäßiger werden, und seine Hand, die ihre so fest gedrückt hielt, wird schlaff. Es hat mit Vertrauen zu tun. So etwas kann ein Fünfjähriger nicht verstehen. Bevor sie neben ihm einschläft, obwohl sie vorgehabt hatte, nach oben zu gehen und die Nachrichten anzuschauen, denkt sie darüber nach, dass das, was man einem Kind nicht erklären kann, für niemanden zu verstehen ist.