Читать книгу Fein gesponnen ist die Lüge - Schweden-Krimi - Ingrid Kampås - Страница 7
ОглавлениеSie befindet sich auf einer Lichtung, und Gösta läuft ihr entgegen. Als er näher kommt, sieht sie, dass er mit Blut und Sägespänen beschmiert ist. Er lacht und wedelt mit den Armen. Sie dreht sich um und versucht wegzulaufen, aber stolpert über einen Ast und kommt nicht wieder hoch ...
Mari wacht auf, schweißgebadet. Wo ist sie? Ach ja, in Antons Bett. Sie dreht sich auf die andere Seite, um auf seine rote Mickey-Maus-Uhr zu schauen. Viertel nach zwei. Ganz vorsichtig, um den Jungen nicht zu wecken, steigt sie aus dem Bett und geht in die Küche, um etwas Wasser zu trinken. Sie hat kein Licht angemacht, und als sie ein Glas gefüllt hat, um es mit ins Schlafzimmer zu nehmen, stößt sie gegen ein Stuhlbein und verschüttet das Wasser auf den Teppich und ihre Hose. Im Schein einer kleinen Lampe wischt sie den Boden und legt ein Handtuch unter den Flickenteppich.
Aber dann, als sie im frischen Nachthemd in ihrem eigenen Bett liegt, ist es vorbei mit dem Schlaf. Die Streckübungen, die sie unternimmt, um sich zu entspannen, sind nutzlos. Sie steht wieder auf, geht zurück in die Küche und macht sich Milch warm, die sie zum gelben Sofa im Wohnzimmer mitnimmt. Sie holt sich ein Kissen und eine Wolldecke und legt sich hin. Das Sofa, einer ihrer besten Käufe, eignet sich immer, um darauf einzuschlafen. In wie vielen Nächten wurde sie nicht von Alpträumen wach, ging den üblichen Weg über die Küche – komisch, dass der Boden davon nicht ausgetreten ist – und schlief dann wie ein Kind auf dem Gelben ein. So nennt sie das Sofa. Das Gelbe.
Aber in dieser Nacht funktioniert es nicht. Wenn sie die Augen schließt, sieht sie die Szene aus dem Badezimmer vor sich. Sie beschwört andere Erinnerungen herauf. Anton in Opas Wagen in Liseberg. Der See am Mittsommerabend. Die Aussicht vom Elchturm, oben bei Råås Schlag. Sie werden zu verschwommenen Negativen, die ständig vom Bild von Bengt verdrängt werden, auf dem das Blut und der Körper messerscharf zu erkennen sind.
Es fällt schwer, nicht an den Mord zu denken. Damit ihr bei dem Gedanken an den Toten nicht übel wird, beginnt sie statt dessen zu überlegen, wer es getan haben könnte.
Es muss einer seiner kriminellen Bekannten gewesen sein. In der Zeitung steht immer wieder etwas über Auseinandersetzungen in der Unterwelt. Bengt und ein anderer Drogenabhängiger haben sich vielleicht um Rauschgift oder Geld gestritten, oder sie waren einfach besoffen. Die Obduktion wird wohl zeigen, ob er betrunken war, als er starb.
Es ist traurig für Vera. Sie braucht nicht noch mehr Sorgen und Leid. Mari fragt sich, wie es Vera geht. Sicher noch eine, die schlecht schläft.
In der Nacht kommen die Gedanken. Die frühen Morgenstunden wirken besonders lang, denn alles, was tagsüber klein scheint, bekommt riesige Proportionen, wenn man eigentlich schlafen sollte.
Was hatte Patricia noch gesagt? Patricia, die Maris überfüllte Taschen in einen Rucksack verwandelt hatte, in dem sich nur das Nötigste fand. Dass der Rucksack zwar nass und schwer würde, wenn es stürmte, aber dass er dennoch halten würde.
Mit seiner Bürde leben. Erinnerungen. Erlebnisse. Sorgen. Versäumnisse.
Nachts wird das Gepäck am schwersten.
So viele spielen auf diese Rucksäcke und Taschen an, die Gleichnisse Jesu der modernen Zeit. Das, was wir in uns tragen, das für andere unsichtbar ist. Wie leicht es ist, sich selbst zu täuschen und zu glauben, jetzt sei der Inhalt ausgepackt und geordnet. Man klatscht in die Hände, reckt das Kinn und macht ein paar Tanzschritte. Dann, ohne Vorwarnung, steht das Gepäck im Flur und wartet darauf, noch einmal ausgepackt zu werden. Eine endlose Wiederholung.
Mari will Patricias Rat folgen, das zu tragen, was sich nicht wegschmeißen lässt; sich nicht selbst mit der Illusion betrügen, alles könne weggeworfen werden. Ein intakter Bumerang kommt zurück, einer, den man zerbrochen hat und von dem man die Splitter behält, prallt dagegen nicht ganz so heftig auf dich zurück.
Schließlich fällt Mari in einen unruhigen Schlaf, und als sie aufwacht, stellt sie fest, dass sie seit einer Viertelstunde bei der Arbeit sein sollte. Sie schaut bei Anton ins Zimmer und findet ihn vor, wie er auf dem Boden sitzt und Lego spielt. Neben ihm liegt eine leere Brottüte. Eine Packung Milch steht auf dem Nachttisch.
»Ich rufe schnell bei der Arbeit an, Anton.«
»OK, Mama.« Er hat die Schlafanzugjacke ausgezogen und sitzt mit bloßem Oberkörper da.
Gunilla, eine der Sekretärinnen, ist am Telefon.
»Hallo, Mari hier. Ist Lars zu sprechen?«
»Ich glaube, die Leitung ist frei. Ich verbinde.«
»Lars Wirding.«
»Hallo! Hier ist Mari. Ich konnte heute nacht nicht schlafen und würde den Vormittag über gerne zu Hause bleiben.«
»Brauchst du Urlaub? Soll ich versuchen, für eine Woche oder so eine Vertretung zu finden?«
»Nein, das ist nicht nötig, aber vielen Dank.«
»OK. Pass auf dich auf.«
»Ja. Ich komme zur Dienstbesprechung heute nachmittag.«
Den Kindergarten ruft Mari auch noch an, bevor sie Haferbrei kocht. Anton und sie essen, und dann nimmt Mari ihre Kaffeetasse mit in sein Zimmer. Sie setzen sich auf das Bett und spielen Mensch-ärgere-dich-nicht, ein Spiel, das Mari verabscheut, aber Anton liebt. Wie üblich wirft sie ihn nicht raus, wenn sie könnte, er freut sich immer so zu gewinnen.
»Mama, du bist dran!«
»Entschuldige, Anton. Ich war in Gedanken.«
»Sollen wir lieber etwas lesen?«, fragt er.
»Gut, aber erst will ich ein bisschen kuscheln.« Sie streckt sich auf dem Bett aus und er kriecht zu ihr hin, bohrt sein Gesicht unter ihr Kinn. Sie streicht ihm über den Kopf. Er ist so weich, so warm.
»Kitzle mich, Mama!«
Sie krault ihm den Rücken, dann geht sie zum Bücherstapel und sucht ein Buch aus. Sie sitzen im Bett und lesen von einem Mädchen, das sich im Wald verirrt, als es mit einem Kleid zu einer reichen Dame gehen soll. Dann will Anton einen Film anschauen.
»Wir nehmen Der Wind in den Weiden, Mama.« Das ist sein Lieblingsfilm. »Sooo bin ich noch nie gefahren, sagte der Maulwurf ...«Er kann die Dialoge auswendig.
Als das Telefon klingelt, nachdem sie die Videocassette für ihn eingelegt hat, nimmt sie das Gespräch in der Küche entgegen. Es ist Sven aus Borstås.
»Hallo, hier Sven Johansson. Ich habe versucht, dich bei der Arbeit zu erreichen, aber dort haben sie gesagt, du seist heute vormittag zu Hause.«
»Hallo, Sven. Geht es um die Elchjagd?«
»Ja. Ich wollte nur sagen, dass wir uns am Mittwoch früh um acht Uhr bei mir treffen.« Sven ist Jagdaufseher. »Du bist doch dabei, oder?«
»Glaubst du, ich will den Höhepunkt des Jahres verpassen? Was gibt es denn?«
»Zwei Männchen. Die Kühe und Kälber schonen wir dieses Jahr wohl. Dann sehen wir uns am Mittwoch.«
Mari fühlt sich ein bisschen besser und beschließt, am Wochenende zum Schießstand zu fahren und ein wenig Probe zu schießen. Summend beginnt sie, das Essen vorzubereiten, und träumt davon, einen Sechzehnender zu schießen.
Sie ist in Gedanken schon dabei, die Krone zu bleichen – geht es mit Wasserstoffperoxid wohl am besten? –, als es an der Tür klingelt. Es ist nie angenehm, aus einem schönen Tagtraum gerissen zu werden, und etwas verärgert öffnet sie die Tür.
Draußen steht weder Iris noch Gösta, wie sie erwartet hatte, sondern ein Mann in brauner Lederjacke. Er ist um die fünfzig, hat einen grauen Schnurrbart und graue Haare, die geschnitten werden müssten. Das Gesicht ist gewöhnlich, leicht faltig und etwas aufgedunsen. Sie stellt noch fest, dass er ein paar Kilo zuviel wiegt, bevor sie an seinen braunen Augen hängen bleibt. Braun, klar, mit einem unbegreiflichen, sehnsuchtsvollen Schimmer. Schlafzimmerblick, denkt sie und wundert sich, woher sie dieses Wort hat.
»Evert Svensson, Kriminalkommissar. Darf ich hereinkommen und ein paar Fragen stellen?«
»Natürlich. Dann bringe ich vielleicht den Jungen schnell zu meiner Schwiegermutter hoch.«
Anton liegt in eine Decke gewickelt auf dem Sofa – dort herumzulümmeln gehört zu seinen Lieblingsbeschäftigungen – und fragt: »Was will er?«
»Das ist ein Mann, mit dem ich über die Arbeit sprechen muss. Kannst du solange hoch zu Oma gehen?«
Anton sieht enttäuscht aus, doch er fügt sich, als Mari ihm sagt, dass er oben bestimmt ein Eis bekommt. Sie bringt ihn zu Iris, wo es nach frisch gebackenem Kuchen duftet.
»Wie schön! Dann kannst du mir ein bisschen helfen.« Iris’ Wangen glänzen von der Hitze des Backofens. Sie hat kurzes graues Haar, Ton in Ton mit der Schürze, die sie über einem ihrer engen Polyesterkleider trägt, heute ein rotes mit blauen Blumen. Sie watschelt zum Kühlschrank, um ein Eis zu holen, und Mari betrachtet die Schleife ihrer Schürze, die wie eine Rosette über der Rundung ihres Hintern ruht. Anton hat sich schon einen Küchenstuhl an die Arbeitsfläche gezogen, auf die Iris den Teig gelegt hat. Mari verlässt die beiden und geht hinunter zu Svensson. »Möchten Sie einen Kaffee?«
»Ja, gerne.« Er folgt ihr in die Küche, wo sie die Kaffeemaschine einschaltet und Kartoffeln aufsetzt.
»Ich nehme an, es geht um Bengt.«
»Ja, ich leite die Untersuchung. Ich habe schon kurz mit seiner Mutter gesprochen. Sie ist sehr mitgenommen.« »Nicht verwunderlich. Auch wenn Bengt ein Nichtsnutz war, war er ihr Ein und Alles.«
»Sie kannten sie gut?«
»Vera ist meine Patientin. Ich fahre manchmal zu ihr und gebe ihr Vitamin-B-Spritzen. Sie ist einsam. Sie hat nur mich und den Hauspflegedienst, außer Bengt natürlich, aber der ist ja jetzt tot, und als er noch lebte, bereitete er ihr meistens Kummer.«
»Wir haben überprüft, welche Hauspflegerin an dem Abend Dienst hatte, an dem er zuletzt lebend gesehen wurde. Marita. Offenbar war sie es auch, die Vera gestern früh half. So wie ich ihren Chef verstanden habe, war es ursprünglich nicht geplant, dass sie an dem Morgen zu Vera gehen sollte, aber eine andere Angestellte fehlte, weil ihr Kind krank war, und deswegen musste die Arbeit in der Frühbesprechung umverteilt werden. Hätte Vera Marita gebeten, zu Bengt hochzugehen, hätte sie ihn gefunden.«
»Da war es wohl besser, dass ich es war.« Mari schweigt, während sie den Kaffee in zwei Tassen füllt.
»Wurde er am Abend oder in der Nacht ermordet?«, fragt sie dann.
»Die Ergebnisse der Obduktion liegen noch nicht alle vor. Aber der Gerichtsmediziner vermutet am späten Abend. Und er starb an dem Messerstich. Reines Harakiri. Die Arterie der Darmwand war perforiert. Dann ist das Messer durch den Zwölffingerdarm in die Aorta gedrungen. Das sagt Ihnen als Krankenschwester wahrscheinlich mehr als mir, aber es erklärt das viele Blut.«
Mari wird schlecht, wenn sie daran denkt, wie es im Badezimmer aussah. Sie stellt fest, dass sie sich nicht an das Messer erinnert. »Es muss wohl ein großes Messer gewesen sein?«
»Unter uns, es war ein scharfes Tranchiermesser. So eines wird bei IKEA millionenfach verkauft. Wie gut kannten Sie Bengt?«
»Wir gingen auf dieselbe Schule. Er ist achtundfünfzig geboren, ich neunundfünfzig. Er war eine Klasse über mir. Aber wir waren selten zusammen. Wir haben uns auf Festen und so weiter getroffen, sonst nicht.«
»Wissen Sie, mit wem er befreundet war?«
»Jetzt, meinen Sie?«
»Damals und heute.«
»Heute weiß ich nicht. Manchmal, wenn ich bei Vera war, hatte er Besuch. Niemand von hier.«
»Und früher?«
»Als Jugendliche bildeten sie eine Gang. Er und Janne Lundmark waren viel zusammen. Und Sven-Göran Stenström.«
»Wer sind sie? Auf dem Anrufbeantworter war ein Janne.«
»Das ist er. Janne ist auf die schiefe Bahn geraten, genau wie Bengt. Aus Sven-Göran dagegen ist etwas geworden. Er verkauft Autoteile. Er hat mehrere Geschäfte in Halland und Västergötland. Warum?« Mari reicht einen Teller mit Knäckebrot und bedauert, dass sie keine Hefeschnecken von Iris mitgenommen hat.
Svensson nimmt ein Knäckebrot und sagt: »Ich versuche nur, etwas über Bengt zu erfahren. Wer ihn getötet haben könnte.«
»Kann es sich nicht um einen Drogenstreit handeln?« »Doch, vermutlich. Erzählen Sie, warum Sie hingefahren sind.«
»Vera rief mich während meiner Telefonsprechstunde an. Sie war besorgt. Sie wollte, dass ich komme.«
»Kam das oft vor?«
»Viel zu oft. Manchmal genügte es, ein wenig am Telefon mit ihr zu sprechen; manchmal, so wie gestern, hörte ich sofort an ihrer Stimme, dass ich genausogut gleich zu ihr fahren konnte. Sie war immer so unruhig, wenn Bengt weg war.«
»Warum sind Sie in seine Wohnung gegangen?«
»Vera bat mich darum. Sie hatte sein Telefon läuten hören, kurz bevor sie am Abend vorher einschlief. Als er bei ihr zum Essen gewesen war, hatte er gesagt, dass er Besuch bekäme. Jedenfalls glaubte sie nicht, dass er ans Telefon gegangen war, der Anrufbeantworter geht nach vier Signalen an. Sie wollte, dass ich nach oben gehe und kontrolliere, ob es eine Nachricht gab, die erklären könnte, wohin er verschwunden war.«
»Ist das nicht ein bisschen weit hergeholt?«
»Nicht, wenn man Vera kennt. Sie wurde fast hysterisch vor Angst, wenn er nicht zu Hause war. Ihre Besorgnis war beinahe krankhaft. Sie ist eine zerbrechliche Person.« Svensson tunkt noch ein Knäckebrot in den Kaffee. »Es sieht nicht so aus, als sei er zu seiner Mutter besonders nett gewesen.«
»Er war ein Mistkerl! Man soll ja nicht schlecht über Tote sprechen, aber ich konnte den Kerl nicht leiden. Er kam und ging, bekam sein Essen serviert, bedankte sich nie, schrie Vera sogar an.«
»Waren Sie davor schon einmal in seiner Wohnung?«
»Ja, mehrfach. Vera wollte, dass wir, also die Hauspflegerin und ich, nach oben gehen.«
Mari beobachtet, wie der Rest von Svenssons Knäckebrot aufweicht und in die Tasse fällt. Sie reicht ihm einen Teelöffel.
»Danke. Schlechte Angewohnheit von mir zu tunken. Was haben Sie da oben gesehen?«
»Ich bin zwischen dem Müll herumgelaufen. Sie haben es ja selbst gesehen. Schmutzwäsche und Bierdosen. Dann habe ich den Anrufbeantworter auf dem Nachttisch abgehört und Jannes Nachricht gehört.«
»War die Tür zum Badezimmer geschlossen?« Svensson nimmt das letzte Knäckebrot vom Teller.
»Ja. Ich weiß nicht, wie ich darauf kam, sie zu öffnen. Das hatte ich vorher nie gemacht. Ich glaube, dass ich etwas gerochen hatte.«
»Es fanden sich keine sichtbaren Blutspuren auf der Treppe, aber der, der das gemacht hat, wird kaum umhingekonnt haben, Blut abzubekommen. Außerdem war auf dem Boden im Flur irgendetwas Klebriges, worin wir Fußspuren gesichert haben. Deshalb würde ich gerne die Schuhe ausleihen, die Sie dort trugen, um Ihre Spuren auszuschließen.«
Mari ist aufgestanden, um das Kasslergratin aus dem Ofen zu nehmen. An Svenssons Blick sieht sie, dass er hungrig ist.
»Essen Sie doch mit uns. Ich hole nur schnell Anton.« Svensson ist Jäger. Er hat ein Stück Land in Norrland und war Anfang September dort. Sie haben viel Gesprächsstoff während des Essens. So viel, dass sie ihn hinauswerfen muss, um Anton rechtzeitig zum Kindergarten zu bringen, bevor sie zur Arbeit fährt.
Der erste Freitagnachmittag im Monat ist für die Mitarbeiterversammlung reserviert. Mari schleicht sich zu einem Stuhl im hinteren Teil des Konferenzzimmers. Gunilla, die rechts neben ihr sitzt, nickt ihr zu und zeigt auf die Kaffeetassen. Mari bejaht, und Gunilla schenkt ein. Es gibt zwei Sekretärinnen für die Ärzte, Gunilla und ein Mädchen, das Margareta heißt. Sie arbeitet halbtags und ist heute nicht da.
Maris Kollegin Eva reicht ihr Kuchen nach hinten. Mari sollte nichts mehr essen, aber sie schiebt ihre guten Vorsätze beiseite und nimmt ein Stück, während Lars vorne anfängt zu reden. Er hat den Overheadprojektor eingeschaltet und eine Art Diagramm aufgelegt. Er streicht sich die Haare aus der Stirn.
Mari findet, dass er gestresst aussieht. Sie schaut sich um, die anderen wirken auch müde. Eva-Lena Grundén, die andere Kreisärztin, die immer in lila gekleidet ist, kritzelt auf einen Block. Sie ist eine gute Ärztin, engagiert und klarsichtig, die aber dennoch das Vermögen hat, nichts an sich persönlich heranzulassen. Eine Eigenschaft, die für einen weiblichen Arzt wohl notwendig ist. Die Patienten erwarten mehr von einer Ärztin. Ein männlicher Arzt darf etwas grob, unsensibel und unhöflich sein; er wird vielleicht nicht gerade geliebt, aber die Patienten kommen damit zurecht. Von einer Ärztin erwartet man dagegen ein Übermaß an all den Eigenschaften, die als weiblich gelten. Sie muss verständnisvoll, mitfühlend, tröstend sein und alle Zeit der Welt haben. Wie eine Art Über-Mutter. Dasselbe wird im übrigen auch von Krankenschwestern verlangt.
Während die Welt um einen herum von der Marktwirtschaft und ihrem Leistungsdruck gelenkt wird, steht die Krankenschwester für das genaue Gegenteil. Das Menschliche. Diejenigen, die Schwäche verachten, wollen selber mit Liebe und Verständnis behandelt werden. Aber es ist nicht so, dass diese Erwartungen an Krankenschwestern beim Gehalt honoriert würden. Noch immer bringt die Pflege von Maschinen mehr ein als die Pflege von Menschen. Ein Computerfreak, der nur Abitur hat, verdient mehr als eine ausgebildete Krankenschwester mit einem rückzahlungspflichtigen Studiendarlehen.
Mari seufzt innerlich über das ungerechte Leben, schaut Eva-Lenas lockiges, hennagefärbtes Haar an. Wie alt wird sie sein, zweiunddreißig? Als würde die Ärztin ihren Blick spüren, sieht sie auf und lächelt Mari an, die zurücklächelt. Sie sind bisher immer gut ausgekommen, vielleicht, weil Mari nie Eva-Lenas manchmal dominierende Art in Frage gestellt hat.
Im Labor gibt es zwei einfache Krankenschwestern, Lotta und Sofia. Jetzt sitzen sie nebeneinander und schauen auf eine Tabelle. Die dritte Krankenschwester, Ulla, die im Kreis arbeitet, flicht eine Strähne ihres langen blonden Haares zu einem Zopf, aber man merkt, dass sie dennoch zuhört. Ihre Berufsgruppe ist die, die unter den Einsparungen der letzten Jahre am meisten gelitten hat.
Außer Mari und Eva gibt es noch zwei weitere Kreiskrankenschwestern in der ambulanten Pflegestation. Birgitta, die bald in Rente geht und froh darüber ist. Sie meint, dass sie mit den Veränderungen nicht mehr zurechtkommt. Der Beruf, den sie einmal gewählt hat, ist heute so völlig anders als vor vierzig Jahren. Sie sitzt links von Mari und spielt mit den Kuchenkrümeln auf ihrem Teller. Mari hat nicht den Eindruck, dass Birgitta sich noch sonderlich für das interessiert, was gesagt und getan wird.
Die vierte Krankenschwester heißt Annika und ist heute nicht da. Ihr Kind ist wieder einmal krank.
Lars legt eine neue Folie auf den Overheadprojektor. Budgetzahlen. Er räuspert sich und sagt: »Wie ihr seht, soll die gesamte Erstversorgungseinheit fünf Millionen einsparen. Für unsere Abteilung sind es ungefähr dreihundertfünfzigtausend.«
»Wie sollen wir das schaffen?«, fragt Ulla. Sie ist heute energiegeladen.
»Die vakante Krankenschwesterstelle von Josefin wird nicht mehr besetzt. Sonst weiß ich auch nicht. Da wir eine vakante Arztstelle haben, müssen wir ab und zu eine Vertretung suchen. Das kostet Geld. Möglicherweise schließt das Amt für Erstversorgung die Pflegeambulanz in Lillevik. In dem Fall könnten wir die Gelder von dort übertragen bekommen.«
Sie diskutieren eine Stunde lang über das Budget. Mari macht sich Sorgen. Niemand weiß, wie sie noch mehr einsparen sollen. Es gibt einfach eine gewisse Zahl von Patienten, die jeweils eine gewisse Zeit in Anspruch nimmt. Das Personal hat schon jetzt zuviel Arbeit. Es ist unbefriedigend, dauernd die Dinge, für die man gerne mehr Zeit hätte, im Vorbeigehen machen zu müssen. Wenn ich nicht eine Stunde pro Woche Tante Anna widme, weil ich zuviel anderes zu tun habe, sitzt sie bald bei einem Arzt in der Sprechstunde. Dann kostet sie letztendlich viel mehr. Als würde man in einem zähen Brei rühren. Am schlimmsten ist es für Lars. Neben den Patienten hat er auch noch viel administrative Arbeit.
Sie gehen über zum Thema Sprechstunde und reden über eine Umfrage, die sie durchführen wollen. Lars schließt die Sitzung mit der Mitteilung, dass Eva-Lena im Herbst zur Ärzteversammlung geht. Sie bekommen für diese Tage eine der üblichen Vertretungen. Einen Kerl aus Göteborg, der lieber Theater spielt und nur ab und zu eine Woche als Arzt arbeitet, um Geld zu verdienen. Mari ist froh, dass die Besprechung vorüber ist. Nachdem die anderen den Raum verlassen haben, geht sie zu Lars, um ein paar Worte mit ihm zu wechseln.
»Wie geht’s?«, fragt Lars. Er setzt sich neben dem Overheadprojektor auf den Konferenztisch und fordert Mari auf, sich auf einen Stuhl ihm gegenüber zu setzen.
»Ich denke viel an Vera«, antwortet Mari, als sie sich gesetzt hat.
Lars streicht sich die Haare aus der Stirn, faltet die Hände, fängt Maris Blick auf und sagt: »Das wird schon wieder mit Vera. Wenn der erste Schock vorbei ist, werden sowohl du als auch sie einsehen, dass sie jetzt nicht noch mehr Sorgen hat, eher weniger. Das klingt hart, aber so ist es.«
»Vielleicht hast du recht. Aber ihr ganzes Leben ist so tragisch.«
»Übertrage das nicht auf dich. Verwechsle dich nicht mit ihr.«
Lars sieht aus wie ein Beichtvater in seinem dunkelblauen Poloshirt. Mari schlägt den Blick nieder und denkt, dass sein Rat handfest und wahr ist. Sie hat sich zu sehr in Veras Sorgen eingefühlt und diese zu ihren eigenen gemacht. »Du hast recht«, sagt sie noch einmal. »Ich muss versuchen, die Dinge auseinanderzuhalten.«
Auf dem Weg von der Arbeit nach Hause denkt sie an ihren eigenen, relativ frischen Kummer, dessen Kruste so dünn ist wie neu gefrorenes Eis auf einer Pfütze. Der kleinste Riss zerstört die Schutzschicht, obwohl es beinahe vier Jahre her ist, dass Lennart starb. Um diese Zeit war er besonders krank gewesen, deshalb ist es auch diese Jahreszeit, in der es ihr am schlechtesten geht, in der sich die Erinnerungen am stärksten aufdrängen. Sie versucht, aus dem, was in den letzten Tagen passiert ist, eine Lehre zu ziehen. Mitgefühl ist das eine, aber sich mit einem Patienten zu identifizieren ist unprofessionell. Und vor allem: Will sie Vera irgendwie helfen, muss sie das auf professionelle Weise tun.