Читать книгу Fein gesponnen ist die Lüge - Schweden-Krimi - Ingrid Kampås - Страница 8
ОглавлениеAls Mari nach Hause kommt, wird sie von Iris empfangen, die ihr auf dem Hof entgegenläuft. Iris’ Brüste schaukeln wie zwei Schlachtschiffe auf unruhiger See, und ihre Füße in Göstas Gummistiefeln machen zielbewusste Siebenmeilenschritte. Anton!, denkt Mari, bevor sich ihre Schwiegermutter über das halb heruntergekurbelte Wagenfenster beugt.
»Du musst nach Svalebo fahren! Gösta und ich waren dort, um Vera zu besuchen, bevor wir Anton abgeholt haben.«
»Ist etwas passiert?«
Iris schlägt mit der Faust auf das Wagendach. »Passiert? Passiert? Ist nicht schon genug passiert? Vera war völlig aufgelöst. Du musst hinfahren!«
»OK. Ich fahre.«
Eine Viertelstunde später ist Mari im Pflegeheim. In den Gängen riecht es nach Urin, als sie zu den Zimmern der Kurzzeitpatienten geht. Ein Mädchen, das wie ein verwachsenes Kind aussieht, sitzt bei Vera und hält ihr die Hand. Als Mari kommt, schaut sie auf und sagt: »Sie ist völlig verstört. Wir wissen nicht, was wir machen sollen.« »Ich kann mich eine Weile zu ihr setzen«, sagt Mari.
Das Mädchen geht hinaus. Mari betrachtet Vera, die mit geschlossenen Augen daliegt und sich im Bett von einer Seite auf die andere wirft. Ab und zu schreit sie auf, dazwischen jammert sie vor sich hin. Der Fernsehapparat läuft, aber der Ton ist abgeschaltet, das Flimmern des Geräts leuchtet in dem ansonsten dunklen Zimmer. Mari schaltet den Apparat aus und knipst eine Stehlampe an. Auf dem Tisch vor dem Fenster steht eine gelbe Chrysantheme. Von Iris, denkt Mari. Das Zimmer ist einfach möbliert, mit einem Tisch, zwei Stühlen und dem Bett links neben der Tür. Ein einsames Bild mit einem Obstkorb darauf hängt an der Wand.
»Vera! Ich bin es. Mari.«
Vera gibt ein langgezogenes Stöhnen von sich. »Kleine Mari. Das alles ist mein Fehler. Ich bin die Schuldige.« »Rede keinen Unsinn, Vera. Du weißt genau, dass du nichts getan hast.«
»Doch, das habe ich.« Vera hebt die Arme, mit der rechten Hand schlägt sie hart gegen die Wand neben dem Bett. »Du ahnst ja nicht.«
»Was ahne ich nicht, Vera?«
»Mein schreckliches Geheimnis.«
»So schrecklich wird es schon nicht sein.«
Vera legt die Arme nieder. Die Haare hängen ihr strähnig ins Gesicht, sie schiebt sie mit der rechten Hand beiseite, um Mari anschauen zu können. »Er war nicht von mir.«
»Wie, nicht von dir?«
»Nicht mein Kind.«
»Doch, Vera, er war dein Kind.« Mari hört, dass draußen auf dem Flur jemand nach Lisa ruft.
»Du verstehst nicht!«
»Was soll ich verstehen?« Mari sitzt unbequem, vornübergebeugt. Sie zieht den Stuhl näher an das Bett heran und richtet den Rücken auf. Vera jammert nicht mehr, sie ist lange still. Mari wartet ab.
»Er war von meiner Schwester«, flüstert Vera.
»Von deiner Schwester?«
»Er war ein halbes Jahr alt, als er zu mir und Sten kam. Wir wohnten damals in Stockholm. Sten kam ja von dort. Als Bengt acht war, starb Sten, und ich zog hierher zurück, weil Mutter und Vater nicht mehr da waren und der Hof leerstand.«
Mari erinnert sich schwach an einen Neuen in der Schule. Natürlich, das war Bengt gewesen. Jetzt weiß sie es wieder. »Was geschah mit deiner Schwester?«
»Sie war Varietékünstlerin. Sie konnte ihn nicht behalten. Wollte es wohl auch nicht. Also nahmen wir ihn zu uns.« »Wie hieß sie? Deine Schwester.«
»Berta. Sie lebt noch. Wohnt in einem Pflegeheim in Kopenhagen. Ich habe keinen Kontakt zu ihr, aber die Adresse. Sie hat mich als Angehörige angegeben, deshalb habe ich einen Brief von denen bekommen.«
»Wart ihr noch mehr Geschwister?«
»Nein, nur Berta und ich.«
»Wusste Bengt davon?«
»Ich habe nie darüber gesprochen. Er wusste es nicht.« Vera spricht leise, die letzten Worte sind kaum hörbar und der Blick wird abwesend.
Mari denkt, dass es schrecklich für Vera gewesen sein muss, all die Jahre über so ein Geheimnis zu haben.
Die unterbricht Maris Gedanken mit einem Wimmern.
»Aber ich habe ihn wie meinen eigenen Sohn geliebt. Etwas anderes darfst du nicht glauben.«
»Das tue ich auch nicht. Selbstverständlich hast du ihn geliebt.«
»Es ging schief. Er war nie fügsam. Das Schlimmste war, dass Sten starb. Das traf Bengt hart. Dann wurde ich immer kränker. Ich habe es nicht böse gemeint. Ich hätte ihn besser erziehen sollen.«
»Es war nicht deine Schuld.«
»Doch! Es war meine Schuld.« Vera weint laut. »Lieber, guter Gott, verzeih mir! Verzeih! Verzeih!«
»Beruhige dich, Vera!«
»Ich kann mich nicht beruhigen. Du musst zu Berta fahren und es ihr sagen.«
»Ich werde versuchen, für dich Kontakt zu deiner Schwester aufzunehmen. Aber jetzt musst du dich wirklich beruhigen.«
»Das kann ich nicht. Du musst hinfahren!«
Es hat keinen Sinn, länger mit Vera zu sprechen, und so drückt Mari auf den Alarmknopf. Sie blickt auf die Uhr, die auf dem Nachttisch steht. Viertel vor sechs. Es dauert sieben Minuten, bis jemand kommt. Es ist dasselbe Mädchen wie vorhin. Die Augen sind dick mit Kajal umrandet. »Sei so nett und setz dich hierher, dann kann ich schnell telefonieren.«
Das Mädchen kratzt sich die Stoppeln auf dem Kopf. »Wir sind gerade beim Essen.«
Mari spürt Wut in sich aufsteigen. »Dann dauert das Essen heute eben länger. Jetzt gehe ich telefonieren, und du bleibst hier sitzen! Halt ihre Hand und pass auf, dass sie nicht aus dem Bett fällt. Mach das Gitter hoch! Ach, ich mache es selbst.« Mari richtet das Seitengitter des Bettes auf und lässt es einrasten.
Im Personalzimmer findet sie ein Telefon und ruft den diensthabenden Arzt an. Glück gehabt! Es ist Sture Forsberg, ein Arzt aus Lillevik, den sie kennt. Sie erklärt ihm die Situation und fragt: »Kann ich ein Rezept für ein Beruhigungsmittel bekommen? Morgen, oder nach dem Wochenende, wollen sie versuchen, einen Termin in der Psychiatrie zu kriegen.«
»Du kannst ihr dreihundert Milligramm Heminevrin geben. Das müsste sie dämpfen. Bis heute abend kann man es ihr noch zweimal geben.«
»Danke, Sture!« Mari gibt Veras Geburtsdaten durch. Sie ist so oft bei Vera gewesen, dass sie die ersten sechs Ziffern der Personennummer im Kopf hat. Das reicht. Aber die Medikamente sind eingeschlossen, und das hier ist nicht Maris Revier. Sie erreicht zum Glück die Nachtschwester der Kommune. Sie heißt Kristina und ist relativ neu. Mari hat sie erst einmal getroffen. Kristina ist gerade in Lunnered, zwei Meilen entfernt. Mari nennt ihr Anliegen.
»Ich bin bald fertig«, sagt Kristina. »Eigentlich sollte ich zu einem Patienten in Saltnäs fahren, aber ich könnte Svalebo schnell dazwischenschieben. In einer halben Stunde kann ich da sein. Schreib doch bitte auf, wie der Arzt heißt und was sie bekommt. Leg den Zettel dann zu Vera.« Zurück bei Vera stellt Mari fest, dass das Mädchen gegangen ist. Vera rüttelt am Gitter, und Mari versucht, mit ihr zu sprechen, gibt es aber schließlich auf und wartet statt dessen schweigend. Nach einer Dreiviertelstunde kommt Kristina. Sie ist außer Atem und wirft ihre rote Jacke über einen Sessel. Kristinas Pferdeschwanz hat sich gelöst, und während sie das Gummiband abnimmt und das schwarze Haar neu zusammenbindet, schaut sie Vera prüfend an. »Ich konnte sie nicht alleine lassen«, sagt Mari. »Entschuldige, dass ich mich so in deine Arbeit einmische.«
»Ich muss mich doch für deine Hilfe bedanken. Ich hole die Tabletten.«
Als Kristina zurückkommt, geben sie Vera gemeinsam das Medikament und wechseln ihr die Windel. Dann fährt Kristina nach Saltnäs. Mari stopft die Bettdecke um die ältere Frau und setzt sich zu ihr. Das Weinen und Jammern lässt langsam nach, und schließlich schläft Vera ein. Erst dann verlässt Mari sie und macht sich auf die Suche nach jemandem vom Personal. Sie findet zwei Pflegerinnen in einem Raum ganz am entgegengesetzten Ende des Korridors. Sie sind gerade dabei, einen alten Mann aus dem Rollstuhl ins Bett zu heben. Er sieht klein aus, wie er da in der Hebevorrichtung hängt. Mari wartet, bis er sicher im Bett liegt, bevor sie ihnen mitteilt, was sie Vera gegeben haben.
»Versprecht, dass ihr die Nacht über oft nach ihr schaut«, ist das letzte, was sie sagt, bevor sie sich auf den Weg macht.
Sie friert, es wird wieder eine kalte Nacht, aber aus Sorge vor Wild auf der Fahrbahn fährt sie wie immer langsam. Iris hat den Wagen gehört, und in Morgenrock und Pantoffeln kommt sie die Treppe zur Erdgeschosswohnung herunter, als Mari die Haustür aufschließt.
»Anton schläft«, sagt Iris. »Wie war es?«
Mari erzählt von ihrem Telefongespräch mit dem Arzt und den Beruhigungstabletten, aber nichts darüber, was Vera ihr anvertraut hat. Iris ist zufrieden.
»Das ist klar, dass sie so einen Schock nicht verkraftet, ohne etwas zum Schlafen zu bekommen«, sagt sie.
Mari nickt zustimmend, dann schleicht sie sich zu Anton hinein. Er schläft und bemerkt die Küsse, die er bekommt, nicht. Sie kocht Tee, belegt Brote, anschließend schaut sie sich die Nachrichten an und den Anfang eines Filmes. Sie schläft auf dem Sofa ein.