Читать книгу Die zweite Braut von Cold Ashton Manor - Ingrid Kretz - Страница 10
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ОглавлениеBeim Frühstück am nächsten Morgen war Amber so still, dass es selbst Todd und Grayson auffiel. „Warum machst du keine Scherze mit uns?“, beschwerte sich Todd und zupfte an ihrem Ärmel. „Bist du krank?“
Sie neckte ihre Brüder für gewöhnlich gerne und sie hatten ihren Spaß daran. Wenn mal keine dringende Arbeit anstand, spielten sie zusammen Bagatelle, ein aus Frankreich stammendes Geschicklichkeitsspiel. Wie gut, dass Mutter nicht wusste, dass es in größerer Ausfertigung in den meisten Schankstuben gespielt wurde. Sie hätte es sofort aus dem Haus verbannt. Alles was über harmlose Gesellschaftsspiele hinausging, fand sie verwerflich.
Wahrscheinlich hatte Mutters eigene strenge Erziehung durch die Großeltern ihren Anteil daran gehabt. Nur ab und zu, so hatte sie mal erzählt, habe sie mit anderen Kindern spielen dürfen. Ansonsten gab es viel anzupacken auf dem Hof, auf dem sie lebte, nachdem ihre Eltern durch eine Infektionskrankheit dahingerafft worden waren.
Damals war ihr Vater auf einer Reise durch Frankreich erkrankt und als er zurückkehrte, hatte er seine Frau unwissentlich gleich angesteckt. Picardy Sweet nannten die Engländer die Epidemie, die zum Glück hauptsächlich in Frankreich und Deutschland grassierte. Zuerst hatten die heimischen Ärzte gedacht, der Englische Schweiß sei wieder aufgeflammt. Zwar galt der schon lange als besiegt, aber die Angst, vom Fieber dahingerafft zu werden, hatte sich über Generationen tief in den Menschen eingebrannt.
Doch bis man erkannte, dass es etwas Neues, anderes war, waren Ambers Großeltern verstorben. Ihre Mutter, die zu diesem Zeitpunkt noch sehr klein gewesen war, kam zu Ambers Urgroßeltern. Dort herrschten Armut und Strenge.
Vielleicht waren sie auch mit ihrer Trauer und der kleinen Alice überfordert. Warum sie nicht in der Familie einer Tante, wie sonst allgemein üblich, aufgewachsen war, wusste Ambers Mutter nicht. Darüber wurde nie gesprochen. Ob das erklärte, warum Alice ihr Gefühlsleben weitgehend nicht nach außen trug?
Trotzdem hatte sie sich in Vater verliebt und war ihm nach Cold Ashton gefolgt.
Amber hob nun den Kopf und schaute ihren Bruder an. „Nein, ich bin nicht krank“, lächelte sie und ignorierte die wachen Augen ihrer Mutter. Als sie gestern zurückgekehrt war, hatte sie auf deren Feststellung, sie habe ziemlich lange für die Erledigung gebraucht, etwas von rutschigen Wegen gemurmelt, was zumindest halbwegs der Wahrheit entsprach. Kleinlaut hatte sie hinzugefügt. „Ich wurde aufgehalten.“
Zum Glück war Mama damit beschäftigt gewesen, ihre neu gekauften Stiefel zu bürsten, und hatte sich damit zufriedengegeben. An den Heimweg hatte Amber tatsächlich auch gar keine rechte Erinnerung. Sie musste heimgeschwebt sein und als sie später im Bett lag, hatte sie noch lange an die Augenblicke im Pferdestall und Richards tiefen Blick gedacht, der sie bis in ihre Träume begleitete.
Ambers Mutter holte sie aus ihren Gedanken zurück. „Ich bin heute in Marshfield, um weitere Besorgungen zu machen. Anschließend treffe ich noch eine Freundin. Womöglich bin ich nicht rechtzeitig zum Lunch zurück.“ Mrs Devaney strich ihren warmen Wollrock glatt und blickte nun mit hochgezogenen Brauen zu ihr hinüber.
Amber hatte die unausgesprochene Aufforderung verstanden. „Kein Problem, Mama. Ich koche für uns.“ Schon früh hatte Mama sie mit der Küche und dem Zubereiten von Speisen vertraut gemacht. Das kam ihr an einem Tag wie diesem zugute.
Ihre Mutter atmete erleichtert auf und lächelte. „Dann will ich meinen Mantel holen.“ Während sie aufstand und die Küche verließ, sah Amber zum Fenster. Es hatte über Nacht nicht mehr geschneit und die Wolkendecke riss auf. Wahrscheinlich war bis Mittag nur noch veilchenblauer Himmel zu sehen. Das ideale Wetter für eine Jagd, vermutete sie, und hoffentlich auch für Mutters Kutschfahrt. Trotzdem war es im Winter stets ein Wagnis, mit Pferd und Wagen unterwegs zu sein …
Nach dem Mittagessen bereitete Amber mit ihrem Vater Salben und Elixiere zu. Im Winter gab es mehr zu tun als im Sommer. In den Sommermonaten streifte sie oft mit Vater durch die Wiesen und Wälder, um bestimmte Früchte und Heilpflanzen einzusammeln. Er wusste genau, wo sie wuchsen, wann man sie pflücken musste oder ob die Wurzeln, wie etwa Althaeae radix, die Eibischwurzel, von der man sogar Wurzel und Blätter verarbeiten konnte, zu bestimmten Jahreszeiten ausgegraben werden mussten.
Gegen Nachmittag kehrte ihre Mutter zurück und schien in Hochstimmung zu sein. Sie grüßte ihren Mann und Amber nur kurz, um sie wissen zu lassen, dass sie wieder da war, und verschwand dann ein Lied summend im Haus.
Je später es wurde, umso unruhiger und unkonzentrierter wurde Amber. Zuerst fiel ihr ein Tiegel mit Kamillenkonzentrat aus der Hand und nachdem sie alles aufgewischt hatte, verschüttete sie auch noch ein Gefäß mit Kräutern. Ihr sonst geduldiger Vater kräuselte die Stirn und seufzte mit müder Stimme: „Du solltest für heute aufhören. Geh spazieren oder lies ein Buch und lass mich jetzt besser allein.“
„In Ordnung, Vater. Entschuldige, ich bin wohl etwas durcheinander.“
Er lachte und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. „Den Eindruck habe ich allerdings auch. Geh schon.“ Er widmete sich wieder mit kraftvollen Bewegungen dem Mörser, in dem er Heilkräuter zu winzigen Körnchen zermalmte.
Ihre Mutter hatte nichts dagegen, dass Amber einen Spaziergang an der frischen Luft machen wollte. Amber fand, dass ihrer Mutter die Fröhlichkeit gut zu Gesicht stand. Wenn sie freundlich dreinsah, wirkte sie um Jahre jünger. Leider war ihre Laune oft fahrig und damit tat sie sich selbst keinen Gefallen.
Vater mischte ihr manchmal Johannisbeersaft mit Wasser, von dem er hoffte, es würde ihre Stimmung heben. Doch mehr als ein Glas trank Mutter nie.
Im Wohnzimmer warf Amber einen Blick auf die Uhr. Es war bereits Viertel nach Fünf. Wenn sie langsam ging, würde sie vielleicht zu Ende des Fünfuhrtees oder etwas früher beim Torhaus ankommen. Es sollte nicht so aussehen, als hätte sie schon lange Zeit gewartet.
Sie warf sich ihren dicken Mantel über, holte einen Hut hervor und zog die gefütterten Stiefel sowie einen wollenen Schal an. Als sie das Haus verließ, begann es bereits zu dämmern und sie spähte zum Laden. Licht fiel durchs Fenster, was bedeutete, dass ihr Vater längst Lampen angezündet hatte, weil wahrscheinlich noch Kundschaft da war.
Amber ging die einsame Dorfstraße entlang und je näher sie Cold Ashton Manor kam, umso mehr flatterte es in ihrem Inneren. Würde der junge Lord wirklich kommen? Was, wenn er es vergessen hatte oder sich einen Spaß machte?
Einige Minuten später sah sie, dass ihre quälenden Befürchtungen umsonst gewesen waren. Obwohl das Torhaus noch ein Stück entfernt war, konnte sie eine schlanke Gestalt im Schatten ausmachen. Das musste er sein!
Sie spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. Gleichzeitig verlangsamte sie ihre Schritte, denn sie hatte das Gefühl, zuerst noch ihre Gedanken sortieren zu müssen. Als sie mit stark geröteten Wangen bei ihm ankam, trat er aus dem Schatten heraus auf sie zu.
Sanft streckte er seine Hand nach der ihren aus. Erst hielt sie sich zurück, doch dann ließ sie es zu, dass er sie nahm. „Miss Devaney“, er lächelte sie an. „Wie schön, dass Sie gekommen sind. Ich hatte schon befürchtet …“ Er zögerte und schaute sie dann fragend an. „Darf ich Amber sagen?“
Sie nickte, auch wenn die Bitte sie verwirrte. Er hielt noch immer ihre Hand fest.
„Dann sag du bitte Richard zu mir“, fuhr er fort, ohne sie loszulassen.
Sie merkte, dass er sie etwas näher heranziehen wollte, doch sie widerstand. Was waren seine Absichten? Er war ein Lord und sie nur die Tochter des Apothekers. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass diese Situation angemessen war. Dennoch fühlte sie sich nicht imstande, ihn zurechtzuweisen und seine Hände abzuschütteln.
Sie erschauerte und Richards Miene wurde besorgt.
„Du fröstelst ja! Entschuldige, dass wir in der Kälte herumstehen. Lass uns hineingehen.“
Hineingehen? Sie schnappte nach Luft. Wie stellte er sich das vor? Sie war allein mit ihm! Eigentlich war es höchst unschicklich, ihn dazu zu ermutigen. Wenn ihr nur nicht so entsetzlich kalt gewesen wäre …
Richard. Sein Name schwirrte in ihrem Kopf umher. Sie senkte den Blick und genoss die Wärme seiner Hand. An Handschuhe hatte sie in der Aufregung gar nicht gedacht. Zwiespältige Empfindungen wühlten sie auf und sie musste an die Mahnungen ihrer Mutter denken, sich nicht in unangemessene Situationen zu begeben … Wie gut, dass diese sie jetzt nicht sehen konnte! Bestimmt hätte sie über diesen vertrauten Moment die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen.
Als habe er ihre Zweifel bemerkt, ließ er ihre Hand los, holte einen Schlüssel hervor und zeigte auf eine Tür, die sie bei ihrem ersten Besuch bemerkt hatte. „Der Pförtner ist leider nicht mehr bei uns. Deshalb ist das Torhaus vorübergehend nicht bewohnt.“
Neben dem Tor befand sich eine Tür, durch die man in die Räume des Torhauses gelang. Er schloss auf und bedeutete Amber, ihm zu folgen. „Ich muss immer mal nach dem Rechten sehen. Deshalb wundere dich nicht, dass Licht brennt und ich den Ofen befeuert habe.“
Sie atmete hörbar auf. Die innige Situation eben war zu viel für sie gewesen. Noch nie hatte sie einen Mann allein getroffen und noch keinem gestattet, ihre Hand auf diese Weise zu berühren. Plötzlich wurde sie unsicher und nagte verlegen an ihrer Unterlippe. Von Ferne hörte sie die Turmuhr eine Viertelstunde schlagen. Sie räusperte sich. „Ich glaube, ich kann nicht bleiben. Vielleicht ist es besser, dass ich wieder nach Hause gehe.“
Er wandte sich zu ihr um. „Jetzt schon? Du bist doch gerade erst gekommen.“
Amber stockte. „Ich … ich denke, es ist besser so.“ Scheu verschränkte sie die Finger.
„Bitte geh nicht.“ Er wirkte enttäuscht.
Sie rang nach Luft und trat einen Schritt zurück. „Lord Clarke … äh, Richard, ich kann doch nicht einfach mit hineingehen“, mahnte sie. „Wie stellst du dir das vor? Was denkst du, wer ich bin?“
In seinem Blick, den sie trotz der Dämmerung erhaschen konnte, lag Sehnsucht und ein Schatten von Kummer. Aber auch ein Hauch von Verständnis.
Verständnis, dass sie um ihren Ruf besorgt war? Was wusste sie schließlich von ihm? Nichts. Von seinem Charakter? Nicht viel mehr. Sie runzelte die Stirn und zwang sich zur Wachsamkeit. Sie wollte keine falschen Hoffnungen wecken, obgleich ihr sein Interesse schmeichelte.
Beiläufig hatte er gestern von der Jagd gesprochen. Sie sah sich um. Alles wirkte ruhig und keine Menschenseele war zwischen Torhaus und Herrenhaus zu entdecken. Ob es nur ein Vorwand gewesen war? Sie deutete auf Cold Ashton Manor. „Wo sind die Leute jetzt, die mit dir auf der Jagd waren? Was habt ihr geschossen?“
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als wunderte ihn nicht, dass sie nun ein völlig anderes Thema anschnitt. „Ein paar Jagdfreunde meines Vaters sind da. Sie wärmen sich im Haus auf, während in der Küche Hasenbraten zubereitet wird. Irgendwie hatten sie heute wenig Glück mit Hirsch und Reh. Nur ein paar Langohren waren es diesmal. Die gibt es um acht zum Dinner.“
Sie schauderte bei dem Gedanken, einen Hasen zu essen, der vor drei Stunden noch munter durch den Schnee gehopst war.
Er beobachtete sie und neigte den Kopf. „Du magst das nicht?“
„Ich weiß nicht.“ Fleisch gab es selten bei ihnen auf dem Speiseplan. Meist bestanden ihre Mahlzeiten aus Gemüse, Eiern und Mehlspeisen.
Die Kälte kroch jetzt heftig an ihr hoch. Sie spürte kaum noch ihre Zehen. Auch ihre Finger waren wieder eiskalt und ebenso ihr Gesicht. Wenn sie nicht morgen krank sein wollte, musste sie heim ins Warme.
Richard musste sie genau beobachtet haben. „Du zitterst ja immer noch! Ich verstehe, dass du nach Hause möchtest. Aber bevor du gehst, solltest du dich zumindest kurz aufwärmen. Ich verspreche dir, dass ich einen gebührenden Abstand halten werde.“
Sie schaute ihm in die Augen. Sollte sie wirklich hineingehen? Nur einmal kurz aufwärmen – was war schon dabei? Sein Blick ruhte sanft auf ihr und irgendwie spürte sie, dass sie ihm vertrauen konnte.
Sie nickte und trat ein.
Der Flur lag düster vor ihr. Sie schwieg, aber ihr Herz schlug schneller, während sie noch über den sanften Tonfall seiner Stimme nachdachte, die ehrlich geklungen hatte. Ob fünf Minuten statthaft waren, ohne den Anstand zu verletzen? Bestimmt. Sie würde sich nur einen Moment aufwärmen und sofort wieder gehen.
Als er die Treppe am Ende des Ganges hochstieg, die unter seinen Schritten knarrte, zauderte sie und blieb am Treppenabsatz stehen. „Hat er seine Stelle verloren? Der Pförtner, meine ich.“ Ihre Stimme kam ihr seltsam fremd vor.
Noch nie hatte sie ein Torhaus von innen gesehen. Die Stufen führten wohl zur Wohnung des Pförtners, die im Obergeschoss lag. Sie fand das Gebäude bemerkenswert. Ein steinernes Haus, durch das ein Torbogen führte, und an dem noch links und rechts Stallungen angegliedert waren. Wer hier Einlass begehrte, musste schon Mut aufbringen, um zum Herrenhaus zu gelangen. Dem Pförtner war sicher nichts entgangen. Ihr Elternhaus war viel kleiner. Trotzdem sagte die Größe eines Hauses nichts über seine Bewohner aus, allenfalls über deren Geldbeutel.
„Er war betagt und zuletzt ziemlich krank.“ Richard drehte sich zu ihr und strich sich die Haare aus der Stirn. Ihre Brust wurde eng, als sie sein gequältes Gesicht sah. „Wir haben noch den Arzt gerufen, aber er konnte ihm nicht mehr helfen.“ Er schluckte. „Uns tröstet, dass er ein gottesfürchtiger Mann war.“
Amber war berührt, wie nah ihm der Tod des alten Mannes ging. Richard glaubte anscheinend wie sie der Heil bringenden Botschaft Jesu – das erweckte in ihr eine besondere Verbundenheit zu ihm. Sie sah ihn überrascht und ergriffen an. „Wahrscheinlich hast du ihn von klein auf gekannt?“
Er nickte. „Komm. Hier oben ist es warm.“
Gleich neben dem Eingang ging eine weitere Tür ab, die ein Stück offen stand. Sie warf im Vorübergehen einen Blick hinein und sah, dass darin eine Werkstatt untergebracht war.
Amber folgte Richard in den ersten Stock und sah sich um. Das Feuer im Ofen verbreitete tatsächlich eine behagliche Wärme. Sie standen in einem Zimmer, das wohl als Schlaf- und Wohnraum gedient hatte, und an das eine kleine Küche mit einem Herd grenzte, der von Küchengeschirr, Töpfen und Pfannen umgeben war. An der hinteren Wand standen ein Bett und eine Truhe. Aus dem gleichen dunklen Holz war der Tisch mit zwei Stühlen gefertigt und der Bezug des kleinen Sofas wies abgenutzte Stellen auf. Wahrscheinlich hatte der Pförtner lange alleine gelebt, da es weder eine Tischdecke noch ein Bild an der Wand gab. Alleinstehende Männer legten oft wenig Wert auf eine gemütliche Einrichtung. Bis auf das Knistern des Feuers war nichts zu hören. Um diese Uhrzeit waren meist keine Fuhrwerke mehr unterwegs, vor allem nicht bei dieser Witterung.
Sie hatte sich die Wohnung größer vorgestellt und wusste nur, dass man den Platz unter dem Dach im Torhaus als Speicher nutzte. Das konnte man von außen nicht gleich erkennen, denn zwei kleine Giebelfenster erhoben sich zur Straße. In ihnen hingen statt Scheiben Stoffe im Rahmen, was entgegen dem sonst gepflegten Äußeren auf eine unaufschiebbar anstehende Instandsetzung hinwies. Während sie Richard beobachtete, staunte sie, wie er geschickt zwei Tassen Tee zubereitete.
Als ob er ihren Blick spürte, drehte er sich zu ihr. „Falls du deinen Mantel ausziehen möchtest, kannst du ihn einfach über den Stuhl legen. Möchtest du dich nicht setzen?“
„Nein, danke.“ Sie hatte bereits eine unsichtbare Grenze überschritten, als sie ihm gefolgt war und blickte nun zum Fenster, dessen Rahmen verzogen aussah. An einer Stelle blies Wind herein. Durch die trüben Scheiben schimmerte der Abendhimmel. Sie schluckte.
Ein unerklärliches Gefühl von unterschwelliger Beunruhigung stieg erneut in ihr hoch und nach kurzem Zögern sagte sie: „Es tut mir leid. Vielleicht war das doch kein gutes Vorhaben. Ich werde lieber doch gehen.“
Mit Mühe und zusammengepressten Lippen rang sie sich ein gequältes Lächeln ab. Richard wandte sich ihr zu und bedachte sie mit einem langen zärtlichen Blick. „Gut, ich verstehe. Und ich bitte um Verzeihung, dass ich dich überredet habe, hier hinaufzukommen.“
Amber war verblüfft, dass er so rücksichtsvoll war. Sie hob die Brauen und schüttelte den Kopf. „Nein, nein. Ist schon gut. Du brauchst kein schlechtes Gewissen haben. Du hast dich ja tatsächlich untadelig verhalten.“
Er lächelte erleichtert und hielt den Blick immer noch liebevoll auf sie gerichtet. „Wenn du möchtest, bringe ich dich zurück ins Dorf.“
Ihr Herz jubelte, aber ihr Verstand verbot es. Es war besser, sie trat alleine den Heimweg an.
„Sehen wir uns wieder?“ In seiner melodischen Stimme schwang Hoffnung und Leidenschaft. „Vielleicht bei einem unverfänglichen Spaziergang?“
Einen Moment standen sie schweigend da und bevor sie antworten konnte, sagte er: „Deine Arbeit in der Apotheke ist außergewöhnlich. Du musst mir mehr davon erzählen, und warum sie dir wichtig ist. Ich kenne keine Frau, die sich so für Kräuter und Pflanzen interessiert, es sei denn sie wachsen in ihrem Garten.“
Ein Lächeln flog über ihr Gesicht. Ihr Herz sprudelte über von den Erlebnissen, die ihr Vater und sie mit den Arzneien und Essenzen gemacht hatten. „Wenn es dich nicht langweilt …?“
„Wie könnte es! Wir hätten Zeit, uns dabei zu unterhalten und mehr voneinander zu erfahren.“
Ein harmloser Gang über die Felder klang gut. Amber hob das Kinn und sah ihn fest an. Richards Gesicht war von einem markanten Jochbein und einem entschlossenen Mund geprägt. Zwischen seinen dunklen, aus der Stirn gekämmten Haaren, blitzten ein paar helle aschblonde Strähnen. Es war schön, dass er keinen Bart trug, hinter dem so mancher Mann sein Mienenspiel versteckte.
„Gut“, versprach sie und wandte sich zum Gehen. Ihre Gedanken rasten. Die letzte halbe Stunde hatte ein wahres Gefühlschaos in ihr bewirkt.
„Morgen um die gleiche Zeit? Vorm Torhaus?“
Amber nickte, unfähig zu antworten und ging, ohne sich noch einmal umzusehen.