Читать книгу Die zweite Braut von Cold Ashton Manor - Ingrid Kretz - Страница 6
PROLOG FRÜHJAHR 1800, DORF COLD ASHTON
Оглавление„Wach auf, Amber!“ Die Stimme war ganz nah. Drängend. Fordernd.
Sie lief durch einen Wald, umgeben von riesigen Kräutern und unnatürlich großen Mörsern und Tiegeln, ohne einen Ausweg aus dem grünen Labyrinth zu finden. Es war warm hier, aber sie wusste nicht, vor wem sie auf der Flucht war, wohin sie überhaupt sollte und woher diese Rufe kamen.
Wieder herrschte die weibliche Stimme sie an: „Mach schon! Es wird Zeit.“
Es hallte über sie hinweg. Jemand rüttelte so heftig an ihr, dass ihr Kleid flatterte, als würde es vom Wind bewegt.
Langsam kam sie zu sich. Sie lag zusammengerollt wie eine junge Katze in ihrem Bett, die Decke fest um sich geschlungen, und hatte keine Ahnung, warum irgendjemand neben ihrem Bett stand.
Schattenrisse zerteilten ihr Zimmer und als sie die Silhouette neben sich erkannte, erschrak sie. Ihre Mutter! Was war nur los? Warum stand sie hier im Dunkeln? Und dieser merkwürdige Traum eben? Was hatte das alles zu bedeuten?
Mrs Alice Devaney griff wieder nach ihrer Schulter. „Steh jetzt auf!“, mahnte sie erneut in diesem befehlenden Ton.
Angst stieg in Amber hoch. „Wieso?“ Sie richtete sich auf und stützte sich mit den Armen ab. „Was ist passiert?“, blinzelte sie verschlafen. „Warum weckst du mich mitten in der Nacht?“
„Mitten in der Nacht!“, spottete ihre Mutter und ging zur Tür. „Wann denn sonst? Sollen uns die Nachbarn etwa zuschauen? Hol dir eine Lampe und zieh dich an. Wir müssen gleich los.“ Die Klinke schnappte ins Schloss.
Gleich los? Amber spürte, wie ihr Magen rebellierte und schluckte den aufsteigenden Würgereiz runter. Es war schon immer so gewesen, dass ihr Körper bei zu wenig Schlaf aufbegehrte. Wahrscheinlich tat ihre augenblickliche Lage noch das ihrige hinzu. Abermals stieg es sauer in ihr auf. Sie presste die Lippen zusammen und schwang die Beine aus dem Bett. Für einen Moment verharrte sie sitzend auf der Bettkante.
Bis auf einige wenige Geräusche im Erdgeschoss war es fast totenstill im Haus. Was ging hier vor? Warum holte Mama sie nachts aus dem Schlaf? Und wo um Himmels willen sollten sie hin? Wir müssen gleich los. Warum? Wohin mussten sie?
Langsam kroch Amber aus dem Bett und huschte mit nackten Füßen aus dem Zimmer, ohne sich einen Morgenmantel überzuwerfen. Die Kälte im Haus kroch an ihr hoch. Sie beugte sich über das Geländer und bemerkte einen Lichtstrahl, der aus der Küche in den Flur fiel. Schnell lief sie die Treppe hinunter. Einen Augenblick verharrte sie vor der Tür, bevor sie den Raum betrat. Ihre Mutter stand fertig angezogen da und sah sie ernst an. „Da“, sie wies auf eine Lampe, „und jetzt beeil dich!“
Hinter ihr stand Mary, ihre Dienerin, ebenfalls vollständig bekleidet, mit verschlafenem Blick und Äpfeln in der Hand.
Amber war völlig ratlos. „Würdest du mir bitte erklä-“
„Nein!“ Die Stimme zerschnitt die Nacht. „Dafür ist jetzt keine Zeit! Ich erkläre es dir später.“ Ihre Mutter drehte ihr den Rücken zu und wies Mary an, noch Brot und Wurst in einen Korb zu packen. „Und vergiss den Krug mit Wasser nicht!“
Amber machte keine Anstalten zu gehen und schluckte. Während Tränen ihre Augen fluteten, verschwamm die Küche zu einem düsteren Nebel. Es musste etwas ganz Schlimmes passiert sein. „Was … was ist denn nur los? Ist der Krieg bis hierhin vorgedrungen?“
Ihre Mutter drehte sich um und verzog den Mund, als habe sie in einen säuerlichen Hering gebissen. „Krieg? Bis du noch bei Sinnen? Weißt du wirklich nicht, was los ist?“
„Nein!“ Amber schrie und ahnte Verhängnisvolles. Sie stürzte aus der Küche und rannte nach oben. Warum war Richard gerade nicht da? Wie sollte sie ihm nur sagen, dass sie verreiste? Gab es jetzt keine Möglichkeit mehr, ihm noch eine Nachricht zu schicken? Hoffentlich konnte sie ihm später schreiben. Und warum war Vater nicht aufgestanden? Wusste er überhaupt von den Plänen seiner Ehefrau? Oder war das hier ein Komplott?
„Die Lampe!“, gellte die Stimme ihrer Mutter. Schluchzend stieg Amber wieder zu ihr hinab und nahm die bereitgestellte Öllampe an sich. Zurück in ihrem Zimmer streifte sie eilends ihr Nachtkleid ab, schlüpfte in ihr Mieder und das geblümte himmelblaue Kleid, das sie so gerne mochte, und holte ein Paar Strümpfe aus ihrer Kommode. Nachdem sie sich vollständig angezogen hatte, löste sie ihren Zopf, bürstete grob ihr hüftlanges Haar und steckte es mit geübten schnellen Handgriffen zu einem Dutt im Nacken zusammen. Ihre Schnürstiefel standen noch ungeputzt unterm Fenster. Vater hatte gestern Abend dringend ein paar Salben und Tinkturen in seiner Apotheke zubereiten müssen und sie war ihm bis in die späten Abendstunden zur Hand gegangen.
Endlich stand sie angezogen da und warf einen letzten, gequälten Blick in den Spiegel. Ihre Augen wirkten verquollen und glichen schmalen Schlitzen. Darüber thronten dunkle Augenbrauen gleich eleganten Bögen und hoben sich bestechend dunkel von ihren lichtblonden Haaren ab, als habe sich ein Maler in der Farbe vertan. Sie besaß keine Kraft, wie gewöhnlich frühmorgens ihrem Spiegelbild zuzulächeln. Mit dem noch feuchten Waschlappen vom Abend fuhr sie sich durchs Gesicht. Das musste für jetzt genügen und sie hoffte, ihre Morgentoilette bald wieder gewissenhafter verrichten zu können.
Vorm Haus hörte sie Hufgeklapper. Noch ehe sie sich versah, stand ihre Mutter in Mantel und mit einem monströsen Hut bekleidet in der Haustür, als gäbe es nichts Selbstverständlicheres, zu nachtschlafender Zeit mit der Kutsche auszufahren. Sie drückte ihr den Wollmantel in die Hand, schob sie in das Wageninnere der Kutsche und stellte ein kleines Gepäckstück neben die Füße. Entschlossen setzte sie sich neben Amber, die die Füße zurückziehen musste, weil Mary sich mit dem vollgepackten Proviantkorb auf die Bank gegenüber zwängte. Als der Kutscher die Tür verschlossen hatte, lehnte ihre Mutter sich zurück und seufzte laut.
Amber warf Mary einen fragenden Blick zu, doch die starrte nur zur Decke und sah nicht aus, als sei sie sonderlich überrascht über diese Fahrt. Wahrscheinlich war das junge Mädchen eingeweiht worden.
Amber senkte den Kopf. Es war düster hier, aber nicht vollständig dunkel und so erkannte sie ihren kleinen Koffer. Ob der Kutscher für Mutter den großen auf dem Dach befestigt hatte? Aufgrund der Eile und ihrer Verwirrung hatte sie ihm keine Beachtung geschenkt. Sie zeigte nach oben. „Dein Koffer ist dort?“, fragte sie zaghaft, als sich das Gefährt in Bewegung setzt. Als Letztes erhaschte sie noch das Schild über der Eingangstür zur Apotheke „Farmacy Jeff Devaney“.
Ihre Mutter schüttelte den Kopf. „Ich brauche keinen.“
„Aber du reist doch mit mir.“ Amber sah sie verständnislos und mit großen Augen an. Sie schluckte, während Kälte und Hitze durch ihren Körper rasten. Augenblicklich war sie hellwach.
Ihre Mutter nestelte an ihren Hutbändern, setzte den Hut ab und spitzte die Lippen. „Nur bis Newport. Dort werden die Pferde gewechselt. Wenn ich Glück habe, bin ich bis abends wieder daheim.“ Sie sah Amber an, die sie mit offenem Mund anstarrte. „Ich hoffe, du verstehst, dass ich Mary das Geld für die Übernachtungen anvertraut habe. Womöglich verlierst du es noch in deiner Verwirrung. Bestimmt müsst ihr ein Gasthaus aufsuchen, denn weder ihr noch die Pferde können unendlich lange fahren.“
Amber hielt die Luft an. Der abweisende Blick ihrer Mutter schmerzte. Sie faltete ihre klammen Hände und schickte ein stummes Bittgebet zu Gott. Herr, ich ahne, dass sie mich fortschafft. Bitte, bitte, hör mein Flehen! Wie viele Gebete habe ich in den letzten Wochen an dich gerichtet, o allmächtiger Gott? Ich kann doch nicht mehr, als mich schuldig zu fühlen. Wie oft habe ich in den letzten Tagen um Verzeihung gefleht? Jetzt darf ich noch nicht mal mehr zu Hause sein. Niemand will mich. Wo bringt man mich hin?
Als habe ihre Mutter ihre Frage gehört, meinte sie: „Du besuchst eine Verwandte von uns.“
„Eine Verwandte?“ Mühsam unterdrückte Amber das Zittern in ihrer Stimme. „Ich möchte aber niemanden besuchen.“
Das interessierte wohl keinen. „Sie freut sich, dich kennenzulernen.“
Ganz gewiss nicht, dachte Amber und starrte aus dem Fenster. Die Cotswolds lagen wie ein dunkel ausgebreitetes Tuch vor ihr. Am Horizont war ein hellgrauer Streifen erkennbar, der den kommenden Morgen erahnen ließ. Sie fror. Im Inneren der Kutsche war es genauso kalt wie draußen, nur dass die Landschaft draußen friedvoll von Morgentau eingehüllt war, während hier drinnen eine stille Unruhe herrschte. Der Mond hing unbeirrt über dem Land und noch war kein Vogelgezwitscher zu hören. Amber griff nach ihrem Mantel und breitete ihn über ihre Knie aus.
„Und wo, bitte, wohnt diese Verwandte?“
„Du fragst zu viel.“
„So kannst du nicht mit mir reden!“
Amber fing Marys ungläubigen Blick auf und jäh stieg Ablehnung in ihr hoch. Mochte doch die Dienerin über ihre Widerworte denken, was sie wollte.
„Ich glaube, da verwechselst du was!“ Ihre Mutter fuhr herum. „Du hast dich in Schlamm gebadet und wunderst dich, dass Dreck hängen bleibt?! Dein Benehmen hat unsere Familie mit Schande bedeckt. Und ich gebe dir den guten Rat, niemandem im Dorf einen Brief zu schreiben, geschweige denn, dein Obdach mitzuteilen!“
Ambers Herzschlag raste und sie schluchzte auf. War diese herzlose Frau tatsächlich ihre Mutter? War sie schon immer so abgestumpft gewesen? Nein, sicher nicht.
Ambers Mutter hatte zwar schon oft eine spitze Zunge gehabt und es beispielweise als Blödsinn abgetan, wenn Amber Interesse für Vaters Apotheke gezeigt hatte, aber mehr auch nicht.
Ihr Vater dagegen hatte sie immer in Schutz genommen, denn er schätzte ihren Wissensdurst und erklärte ihr mit Hingabe die verschiedensten Kräuter, Pflanzen und ihre Wirkung. Oft lobte er sie als große Hilfe.
Doch was war es dann, das ihre Mutter so handeln ließ? Sie war zwar noch nie besonders feinfühlig gewesen, aber auch nicht völlig gefühllos. Natürlich war sie nicht gewohnt, Gefühle zu zeigen. Die Sitte ließ nicht viel Spielraum für romantische Empfindungen. Die gehörten vielmehr hinter verschlossene Türen. Doch ihr jetziges Handeln überstieg alles, was Amber jemals gewohnt gewesen war.
Hatte ihr Fehlverhalten etwa dazu geführt, dass man sie nicht eingeweiht hatte? Hatten ihre Eltern mit ihrem Widerstand gerechnet und deshalb diese nächtliche Aktion gestartet?
Die Angst, ihre Tochter könne ein gefallenes Mädchen werden, hatte von dem Augenblick an wie ein Wetterleuchten über der Familie gehangen, seit es die ersten Zeichen einer körperlichen Veränderung gegeben und Amber nicht mehr wie ein Besenstiel ausgesehen hatte. Ungeachtet welcher Gesellschaftsschicht man angehörte, gab es strenge Regeln für junge Leute, und die betrafen insbesondere das sittliche Verhalten.
Das Gefährt rumpelte über die Landstraße. Mary saß still neben Amber und hielt die Augen geschlossen. Bald sackte ihr Kopf auf die Brust, während ihr gleichmäßiges Atmen einem vernehmbaren Schnarchen wich. Mutter war in Schweigen versunken und hielt sich kerzengerade auf dem Sitz. Bei einem Blick aus dem Fenster bemerkte Amber, dass der Mond hinter Wolken verschwunden war. Am Horizont warf die aufgehende Sonne einen großen Bogen, der von orangenen Farben hinauf bis zu mystischen Violetttönen reichte. Erst allmählich erwachte die Natur. Irgendwo bellte ein Hund und Vogelgezwitscher begleitete ihre einsame Fahrt. Sie durchfuhren Dörfer, die oft nur aus wenigen Häusern und Gehöften bestanden. Hier und da waren Leute zu sehen. Frauen schütteten das Nachtgeschirr auf der Straße aus.
Amber fragte wiederholt nach, wohin die Reise ginge und wie lange sie wegbleiben würde, doch ihre Mutter hüllte sich in Schweigen. Die Fahrt schien kein Ende zu nehmen. Wer war diese Verwandte, von der Mutter gesprochen hatte? Vater hatte eine Schwester, die sie als Kind kennengelernt hatte, aber sie wusste nicht, wo diese lebte. Dann gab es noch einen Onkel, der irgendwo in die Nähe von London gezogen war. Es wurde nicht viel von den Angehörigen erzählt, aber hin und wieder traf man sich doch. Bis heute hatte sie dem keine Bedeutung zugemessen. Ihre Mutter hatte keine Geschwister, nur drei Tanten und einen Onkel. Sie lebten in umliegenden Dörfern. Eine Tante war bereits verstorben. Ob die Reise zu Vaters Verwandten ging? In Gedanken versunken nahm sie die Landschaft, die am Fenster vorüberzog, kaum noch wahr. So bemerkte sie zuerst nicht, dass sie plötzlich zum Stehen gekommen waren.
Als plötzlich die Tür aufgerissen wurde, schreckte sie auf. Es war der Kutscher, der Mutter jetzt beim Aussteigen half. Amber seufzte erleichtert und nahm die entgegengestreckte Hand, um sich ebenfalls heraushelfen zu lassen. Auch Mary war hochgeschreckt. Kein Wunder, hatte sie doch die ganze Zeit geschlafen und wusste jetzt sicher nicht, wo sie sich befanden.
Erst jetzt bemerkte Amber, dass sie vor einer Postkutschenstation standen. Ein großes, nachlässig gemaltes Schild über dem Eingang wies darauf hin. Männer hasteten um Pferde herum, riefen sich Kommandos beim Einschirren zu und versuchten, unruhig gewordene Rösser zu beruhigen. Es roch nach Pferdemist und Ruß, den der Wind von der Straße und von den Schornsteinen naher Häuser herüberwehte. Ihre Mutter sprach mit dem Kutscher, während Mary dicht zu Amber trat und sich zitternd den Mantel umschlang.
„Er muss die Pferde wechseln“, rief Mrs Devaney, „und ihr könnt euch im Gastraum bei einem Tee aufwärmen, bis er die Order zur Abfahrt gibt. Mary, achte auf das Geld! Und du, Amber, richte bei deiner Ankunft meine Grüße aus.“
Mutters Stimme klang entschieden und wenig mitfühlend. Enttäuscht traten Amber Tränen in die Augen und sie schniefte. Was würde nun werden? Wohin sollte die Reise gehen? Würde sie je wieder nach Cold Ashton zurückkehren? So musste es Gefangenen ergehen, die nach ihrer Verurteilung auf Nimmerwiedersehen nach Australien deportiert wurden. Sie hatte gehört, dass nicht wenige bereits auf der Überfahrt starben und selten jemand in die alte Heimat zurückkehrte. Sie schnappte nach Luft. Warum rettete sie niemand vor einer Zukunft, die ungewiss und nur schlimm sein konnte? Ja, sie hatte einen Fehler begangen. Einen schlimmen Fehler. Die Folgen waren gravierend, aber sah so die Hilfe einer liebenden Mutter aus? Noch nicht mal von ihren kleinen Brüdern hatte sie sich verabschieden können. Wie ein Dieb in der Nacht musste sie sich davonstehlen.
Ihre Mutter trat auf sie zu und wollte sie formhalber zum Abschied umarmen, doch Amber wich zurück. Ein Hauch von Beschämung schwelte in ihr. Nur mühsam hielt sie sich auf den Beinen und starrte ihre Mutter wortlos an. Dann schüttelte sie den Kopf, drehte sich um und stürzte auf die Tür der Postkutschenstation zu. Sie riss sie auf, floh in den warmen Aufenthaltsraum und ließ mit einem Krachen die Tür hinter sich ins Schloss fallen.