Читать книгу Die zweite Braut von Cold Ashton Manor - Ingrid Kretz - Страница 9
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Оглавление„Was hast du denn da bekommen?“ Mrs Devaney reckte den Hals und griff nach Ambers Hand. Ihre stilgemäß gelegten Wellen, die ihr Gesicht umrankten, hüpften durch die ruckartige Bewegung auf und ab.
Amber blinzelte befangen und betrachtete Mutters hübsche, hochgeschlossene Bluse aus Baumwolle, die am Hals mit weißer Spitze besetzt war und den Blick auf üppige Wangen freigab. Sie trug dazu den grün gestreiften Rock, der ihre kräftige Figur nicht verhehlen konnte.
Jetzt entzog Amber ihr die Hand und presste den Brief an die Brust. „Eine Nachricht.“ Es war keine Nachricht einer Freundin oder Verwandten, das spürte sie. Niemand in ihrem Bekanntenkreis besaß ein solch edles Siegel. Das Schreiben war an sie gerichtet und kampflos würde sie es ihrer Mutter nicht überlassen. Die Aufregung um dieses Stück Papier hatte ihr den Magen zugeschnürt. Die auffällige Prägung auf dem besonderen Schreibblatt verwirrte sie derart, dass ihr Hunger verflogen war und sie im Kartoffelstampf und dem Stück Bratenfleisch herumstocherte. Wer hatte ihr geschrieben?
Todd und Grayson kicherten. „Bist du etwa verliebt?“, fragte Todd aufgekratzt und stieß seinem jüngeren Bruder, der neben ihm am Mittagstisch saß, in die Seite. „Sie ist verliebt! Sie ist verliebt!“, sang daraufhin Grayson lauthals, was ihm einen Verweis seines Vaters einhandelte.
Ihre Mutter trank einen Schluck Wasser und stellte das Glas wieder ab. Sie bedachte Amber mit einem Blick, den sie nicht richtig zu deuten vermochte. Amber senkte den Kopf und spürte, wie sie errötete.
„Was sagst du dazu, Jeff?“, wandte sie sich an ihren Mann. Dann fuhr ihr Kopf wieder zu Amber herum. „Ist er von einem Verehrer? Wo hast du ihn kennengelernt? Hat er ernste Absichten?“
Amber seufzte innerlich. Wahrscheinlich würde ihre Mutter nicht eher ruhen, bis sie Bescheid wusste. „Es war ein Diener von Cold Ashton Manor, der mir heute Vormittag den Brief gegeben hat, aber er kommt von …“
„Du solltest nicht so neugierig sein und sie nicht bedrängen, Liebes“, unterbrach Mr Devaney sie lächelnd, „wir waren schließlich auch mal jung. Außerdem hat sie die Nachricht doch noch gar nicht geöffnet, oder?“
Amber atmete tief ein und hielt die Luft an, ob ihre Mutter nachhakte. Das erste Mal in ihrem Leben erhielt sie den Brief eines Bewunderers – so sah der Briefumschlag zumindest aus – und den sollte sie unter Mamas Blicken öffnen?
Sie schüttelte den hochroten Kopf, während ihr Vater fortfuhr: „Die Gräfin braucht Medizin, die ich nicht vorrätig habe und erst noch herstellen muss. Ich habe dem Diener des Lords gesagt, er soll sich in der Dorfschänke die Zeit vertreiben, bis sie fertig ist.“
„Und das hat er bestimmt brav getan!“, entgegnete Mrs Devaney grinsend und hob abwehrend die Hände. „Also, wenn du mich fragst …“
Mit einem erstaunten Blick wies er seine Frau zurecht. „Wo, bitte, soll er sich bei dieser Kälte eine Stunde lang aufhalten, wenn nicht im Gasthaus?“
Sie würgte ihre Entgegnung herunter. „Ihr könnt aufstehen“, gestattete sie ihren Söhnen, die sofort aufsprangen und aus dem Zimmer stürmten. Ihre Mutter beobachtete Amber mit gekräuselter Stirn, schien sich dann aber zu besinnen und wechselte das Thema. „Was wollte der Diener denn für eine Arznei?“
Er seufzte, kannte er die Neugier seiner Frau schließlich nur zu gut. „Alice, lediglich ein Mittel gegen Migräne. Unser Tee hat nicht geholfen.“
„Ach?! Dann willst du diese Paste zubereiten, die schon Hildegard von Bingen ihren Kranken auf den Kopf gestrichen hat?“ Mrs Devaney schmunzelte bei dieser Vorstellung und warf ihm einen Seitenblick zu. „Oder lieber was mit Pestwurz?“
„Eher Pestwurz.“ Er wurde ernst. „Amber hat im Herbst die Wurzelstöcke des Petasites hybridus gesammelt. Ich müsste noch was dahaben. Pestwurz ist inzwischen nicht mehr so in Mode – frage mich nicht, warum. Trotzdem halte ich daran fest. Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht.“
„Nun gut.“ Die Antwort schien sie zufriedenzustellen und sie wandte sich an Amber. „Du kannst die Wäsche im Korb flicken. Mary hat mit der Kochwäsche noch den ganzen Tag zu tun.“
„Aber ich soll doch Vater helfen“, flehte Amber, die viel lieber in der Apotheke stand und sich die Sorgen der Menschen anhörte, die Hilfe wegen ihrer Beschwerden suchten. Die einfachen Leute hatten meist kein Geld für einen Arzt und kamen dann zu ihnen. Wenn jemandem dann wirklich geholfen werden konnte, erfüllte sie das mit tiefer Freude. Aber wie es jetzt aussah, würde heute nichts mehr daraus werden.
Bevor sie sich nach dem Frühstück an die Arbeit begab, eilte Amber nach oben in ihr Schlafzimmer. Es war eisig im Raum. Wahrscheinlich hatte Mary mal wieder vergessen, das Fenster zu verriegeln. Amber schloss die Flügel und setzte sich auf die Bettkante. Endlich fand sie Gelegenheit, unbeobachtet den Umschlag zu öffnen. Er trug ein Siegel mit einem Hirsch im Wappen. Was bedeutete das?
Zitternd riss sie an dem Papier und faltete es auseinander. Sie überflog die Zeilen, dann las sie sie ein zweites und auch noch ein drittes Mal. Es war so unwirklich. Versonnen drückte sie den Brief an sich und schloss für einen Moment verträumt die Augen. Lord Richard Clarke wollte sie wiedersehen! Der Grafensohn von Cold Ashton Manor. Wieso interessierte er sich für sie?
Ob ein Treffen inmitten vieler Kirchgänger eine gute Idee war? Sie schluckte und überlegte. Wahrscheinlich hatte er recht. Es war ja nichts dabei, sich zu unterhalten. Aber ob sie ihm überhaupt in die Augen sehen konnte? Vielleicht war es, wie es in Romanen stand? Ein paar Höflichkeiten austauschen. Herzklopfen bekommen und heiße Wangen. Allein der Gedanke daran versetzte sie jetzt schon in Aufregung. Würde sie bis Weihnachten überhaupt noch ein Auge zubekommen?
Sie dachte an seine dunkelbraunen Haare, die entgegen den Gepflogenheiten bis über seine Ohren reichten, und wie interessiert er ihren Erklärungen zugehört hatte. Das kam selten vor, weil die Leute ihre Mitarbeit in der Apotheke mit Argwohn betrachteten. Sein Verhalten fand sie beeindruckend.
Doch hier in der Stille keimten Selbstzweifel auf. Was wollte er von ihr? War er tatsächlich an ihr interessiert? Als Erbe von Cold Ashton Manor warteten bestimmt zahllose Debütantinnen und andere adelige junge Damen auf Bewunderung und Achtung seinerseits. Was unterschied sie von diesen Frauen? Ihre manchmal impulsive Art? Gab es nicht genügend liebenswerte Verehrerinnen? Welche, die nicht danach strebten, außerhalb von Haushaltung und Kindererziehung etwas dazuzulernen?
Sie spürte ihr Herz pochen und fuhr mit zittrigen Fingern über das besondere Briefpapier. Es war von ungleicher Dicke und an den Kanten leicht abweichend geformt, ein Briefbogen, der teuer war und von höhergestellten Personen benutzt wurde.
Amber blickte zu den Büchern auf ihrem Nachttisch, griff sich eines davon und ließ den Bogen zwischen den Seiten verschwinden, bevor sie es als unterstes in den Stapel schob. Hoffentlich blieb der Brief damit unentdeckt. Mamas Neugier war geweckt und wer wusste, ob sie nicht in ihrem Zimmer herumschnüffelte …
Als sie nach unten ging, musste sie sich zusammenreißen, damit ihre Mutter ihre Verwirrung nicht bemerkte. Sie beeilte sich, die Näharbeiten schnell zu erledigen, um wieder im Laden zu sein, doch der Diener von Cold Ashton Manor kam nicht mehr zurück.
Nach zwei Stunden schickte ihr Vater sie zur Dorfschänke, wo der Wirt erklärte, dass der Bursche nichts vom Mittagstisch bestellt habe, sondern sich die Zeit mit Bier und Brandys vertrieben habe. Als er aufgebrochen sei, habe es nicht lange gedauert, bis ein Nachbar mit dem Diener am Arm wieder hereingekommen sei. „Er hat gehumpelt, nein, eher gewankt“, hatte der Wirt mit einem Augenzwinkern hinzugefügt. Das sei allerdings nicht nur seinem Alkoholkonsum zuzuschreiben gewesen, denn er sei auf der Dorfstraße ausgerutscht und habe sich den Fuß verstaucht. Ein Nachbar habe ihm aufgeholfen und jetzt werde er in einem Hinterzimmer von der Wirtin versorgt.
Amber durfte kurz mit ihm sprechen. Der Lakai sah ziemlich zerknirscht aus, doch außer geröteten Wangen und einem dumpfen Blick war ihm nichts von seiner Weinlaune anzumerken. Aber vielleicht war er auch nur gut in Schauspielerei.
„Schätzchen, ich schwör’, ich hab’ nur einen Becher Wein getrunken“, säuselte er langsam und mit zusammengebissenen Zähnen.
Fast hätte Amber laut gelacht. Sie hielt die Tüte mit der Arznei hoch und schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht hier, um dir Vorhaltungen zu machen. Sag mir lieber, wie die Gräfin jetzt ihre Medizin erhält?“
„Aua“, stöhnte er, griff sich ans Bein und hob die Schultern. „Mein Fuß ist ziemlich geschwollen und tut gewaltig weh. Ich kann unmöglich heimlaufen.“
„Ich verstehe“, erklärte Amber und versicherte, Hilfe zu holen.
Ein paar Minuten später kehrte Amber außer Atem in die Apotheke zurück. Es war mühsam gewesen, durch den tiefen Schnee zu stapfen. „Und was machen wir jetzt?“, keuchte sie.
„Vermutlich wundert man sich auf Cold Ashton Manor, wo der Diener bleibt“, sagte ihr Vater und schüttelte besorgt den Kopf. Er mochte es auch, mal ein Glas Wein zu trinken, aber alles in Maßen und angeheitert zu sein war ihm fremd. Eine rutschige Straße und ein benebelter Kopf brachten einen schnell zu Fall. „Kannst du nicht die Arznei hinbringen? Falls Mutter dich entbehren kann.“
„Gerne!“ Ihr Herz hüpfte und schlug zugleich wie wild. Nach Cold Ashton Manor! „Sie hat sicher nichts dagegen.“ Vater würde Mutter auf Nachfrage schon erklären, dass sie in seinem Auftrag unterwegs war. „Ich geh sofort los, damit ich vor Anbruch der Dunkelheit zurück bin.“
Während er nickte und ihr den Preis für die Arznei nannte, schlüpfte Amber in den Mantel, schlang sich einen dicken Schal um und zog eine Strickmütze auf. In ihrer Aufregung fand sie ihre Handschuhe nicht, bis sie sie ganz hinten in einer Schublade entdeckte.
Sie trat auf die Straße. Zwei Dorfbewohnerinnen standen beisammen und hielten im Gespräch inne, als sie Amber bemerkten. Sie und ihre Familie lieferten öfter Grund für Gesprächsstoff. Gerade Frauen betrachteten Ambers Mithilfe in der Apotheke als ungehörig und warfen ihrem Vater vor, sie nicht zur Ehe, sondern zur Berufstätigkeit zu erziehen. Dieses neumodische Benehmen könne unmöglich gesund sein und würde sicher mögliche Ehebewerber abschrecken.
Bei diesem Gedanken lächelte Amber vor sich hin. Bisher gab es niemanden, der sich für sie interessierte, obwohl sie im Frühjahr bereits achtzehn Jahre alt geworden war. Würde einer ihrer Brüder in Vaters Fußstapfen treten, wäre das normal und erwünscht, denn was gab es Edleres, als den Beruf des Vaters zu erlernen?
Wenig später befand sie sich auf dem Weg, der vom Dorf auf gerader Straße an der Dreifaltigkeitskirche vorbei und dann um ein paar Biegungen zum Herrenhaus führte. Ein paar Kinder tollten herum und bewarfen sich mit Schneebällen. Ihre Gesichter glühten vor Kälte und Glück. Lautlos tanzten Flocken vom Himmel und malten weiße Punkte in die Luft. Amber spürte, wie der Frost ihre Wangen und Lippen einfror. Sie zog den Schal enger, presste sich das Schalende vor den Mund und drückte die Mütze tiefer ins Gesicht. Die Schneedecke ließ einige Fußspuren auf dem Weg vor ihr nur noch erahnen. Je näher sie dem Herrenhaus kam, desto mehr verlangsamte sie ihren Schritt.
Vor ihr tat sich die Silhouette des Anwesens auf. Wie musste es wohl sein, in einem solch großen Gebäude zu wohnen? Ein Haus, das edel und abgesondert dastand, im Gegensatz zu den Hütten im Dorf, die sich windschief und Wand an Wand aneinanderquetschten. Je näher sie kam, umso schwerer wurde ihr ums Herz. Mit einem Mal beherrschten sie wilde Gedanken.
Warum wollte Lord Clarke sie wiedersehen? Vielleicht würde der sympathische junge Mann sie nur umschwärmen und anbeten wollen, um sie dann auszunutzen zu können. Ihr Ruf wäre dahin und eine Ehe mit einem anderen Mann unmöglich. Und falls er doch ernste Absichten hatte, würde es möglich sein, sich einfach über Konventionen und ungeschriebene Gesetze hinwegzusetzen? Ehre zu Ehre und Ländereien zu Ländereien – so war es schließlich bisher immer gewesen. Sie gestand sich ein, dass ihre Bedenken nicht gering waren.
Während ihre Gedanken hin und her flogen, erreichte sie das Torhaus von Cold Ashton Manor. Verwundert, dass es offen stand, blieb sie stehen. Durfte sie einfach eintreten? Sie spähte hindurch und sah das im Stil der Renaissance errichtete graue Herrenhaus in einiger Entfernung stehen, beherrscht von steilen Dachgiebeln. Aus den mit schlanken Steinstäben umrahmten Fenstern drang Licht. Kein Wunder, hatte sich doch der Himmel immer mehr verdunkelt, als wolle es am helllichten Nachmittag Abend werden, und versetzte durch starken Schneefall die Welt in Stille.
„Hallo? Ist da jemand?“ Amber wartete, doch niemand kam. Auf dem überdachten Boden vor ihr waren Wasserlachen, als sei kürzlich jemand mit einer Kutsche hindurchgerollt. Der Weg zum Herrenhaus war zugeweht und falls vorhin jemand hier entlanggefahren war, hatte der Schnee jede Spur verwischt.
Amber trat ein paar Schritte vor und sah sich um, dabei bemerkte sie links und rechts Eingangstüren zum Torhaus. Die Fenster waren dunkel und es schien niemand da zu sein. Wie sollte die Gräfin ihr Medikament bekommen, wenn sie es keinem Bediensteten übergeben konnte? Wie lange sollte sie warten?
„Hören Sie mich?“ Der Klang ihrer hellen Stimme verhallte dumpf. Anscheinend war tatsächlich niemand da. Selbst aus den Wohnräumen über ihr kam kein Laut. Vorsichtig schritt sie durch das offene stehende Portal und kam bald auf dem knirschenden Schnee entlang der Zufahrt an einigen Nebenhäusern vorbei zum Herrenhaus. Es war in Form eines U gebaut und stand in einem riesigen Park, dessen Umfang und Bepflanzung sie zurzeit nur erahnen konnte.
Links und rechts des Gebäudes erstreckten sich zwei große Flügel und der Innenhof mit schneebedeckten Pflanzen und Sträuchern steuerte zu einer mächtigen Eingangstür, vor der sie nun stehen blieb. Gäbe es keine hell erleuchteten Fenster, hätte sie gedacht, das Haus sei unbewohnt.
Die Stille pochte in Ambers Ohren und sie sah sich mit großem Herzklopfen um. Ihr Kopf war noch immer voller Fragen und Gedanken, infolgedessen sie mit den Augen hilflos nach dem Türklopfer suchte. Sie seufzte – er war direkt vor ihrer Nase! Zaghaft betätigte sie ihn und klopfte, als nichts geschah, entschlossener. Sie hatte das Gefühl, ihr Herz hämmerte gellender als das Klopfgeräusch.
Endlich erschien ein Diener in der Tür. Ehrfürchtig starrte Amber auf die graue Livree, die tadellos angepasst war.
„Sie wünschen?“, fragte der ältere Mann mit ausdrucksloser Miene und betrachtete sie von oben herab.
Sie kam sich plötzlich ganz unbedeutend vor. Ihr Mund fühlte sich vertrocknet an und sie lächelte verlegen, bevor sie allen Mut zusammennahm.
„Ich komme im Auftrag von Apotheker Devaney und bringe eine Arznei für Lady Kathleen Clarke.“ Ihr Blick schwenkte an dem Diener vorbei in die Halle. Trotz des steinernen Bodens wirkte sie gemütlich, soweit sie das von hier erkennen konnte, da sie im Schatten lag. Schemenhaft erkannte sie einige Türen, die in umliegende Räume führten. Im Hintergrund blieb ihr Blick an einer breiten Treppe hängen, deren Aufgang links und rechts ein wunderschönes, kunstvoll gestaltetes Eisengeländer begrenzte. Davor breitete sich ein ansehnlicher, mit wildem Muster versehener Teppich aus, der sicher nicht nur den Eingangsbereich schmücken, sondern auch die Schritte dämpfen sollte.
„Hmm.“ Der Lakai räusperte sich.
Sie zuckte zusammen. „Ich … ich“, stotterte sie, „bitte entschuldigen Sie meine Unaufmerksamkeit.“ Sie senkte den Blick auf die Medizin in ihren Händen.
Er strich sich über den Arm, als wolle er ihr bedeuten, dass er fror. „Ich fragte, ob Ihre Ladyschaft weiß, wie sie die Arznei anwenden soll?“
„Mein Vater hat eine Nachricht dazugelegt.“ Sie übergab ihm das Päckchen.
„Gut. Wünschen Sie sofortige Bezahlung?“
„Das übernehme ich“, hörte Amber eine wohlklingende Stimme dicht an ihrem Ohr und fuhr erneut zusammen.
„Nicht erschrecken.“ Die Stimme klang jetzt sanfter und in nächsten Augenblick stand der junge Lord neben ihr. Er sah sie erfreut und erstaunt zugleich an und für einen kurzen Moment schauten sie sich schweigend in die Augen. Amber spürte, wie Hitze in ihr aufstieg und ihren Kopf zum Glühen brachte. Ihr Herz klopfte jetzt immer schneller und sie wusste nichts weiter zu sagen.
„Hmm.“ Der Diener räusperte sich ein weiteres Mal und blinzelte. „Eure Lordschaft?“
Der Lord blickte ihn an, als ob er sich auch erst sammeln musste. „Eddy, bring der Gräfin die Medizin. Sie wartet darauf.“ Während er gehorsam mit der Arznei verschwand, fühlte sich Amber unter Richards Blicken zunehmend unsicherer.
Leise erklärte sie: „Der Diener ist auf der High Street ausgerutscht. Es war glatt und er hat sich am Fuß verletzt. Deshalb bin ich hergekommen. Kann ihn jemand abholen? Er wartet in der Dorfschänke.“
„Das tut mir leid. Ich werde sofort jemanden schicken.“ Sein Ton war nachsichtig. „Umso mehr freut mich, dass Sie die Liebenswürdigkeit haben, uns die Arznei zu bringen.“
Er trat einen Schritt auf sie zu, dass sie sogar einen Hauch seines herben Parfüms erhaschen konnte. „Miss Devaney, haben Sie meinen Brief bekommen?“ Er ergriff ihre Hand, aber sie entzog sie ihm sofort.
Seine Brauen fuhren hoch. „Ich darf also nicht hoffen? Haben Sie nicht mal ein paar Minuten, die Sie mir schenken können?“ Er wirkte plötzlich traurig.
Noch immer stand die Haustür offen und im Hintergrund huschten Dienerinnen durch die Halle. Amber war sich sicher, dass sie und der junge Lord beäugt wurden. Thema eines Tratsches zu werden war das Letzte, was sie sich wünschte.
Sie kreuzte die Arme. Ihr war kalt und die Schneeluft roch metallen. Wahrscheinlich machte man sich zu Hause bereits Sorgen, wo sie blieb. „Ich danke Ihnen für Ihre Nachricht“, sagte sie lächelnd und senkte den Blick, „und … ja, ich werde da sein, aber meine Eltern werden es nicht gern sehen.“ Sie wies aufs Haus und hob den Blick. „Sie verstehen? Sie werden Ihre Absichten hinterfragen.“
„Ja, gewiss“, sagte der Lord leise.
Einen Moment war es ganz still. Amber wurde nervös und sah zur Eingangshalle. Um die entstandene Stille zu unterbrechen, sagte sie: „Das Haus ist wirklich beeindruckend.“
„Das ist es. Und es wartet förmlich darauf, dass ich es Ihnen zeige“, lachte er. „Kommen Sie!“
„Eigentlich muss ich nach Hause“, zögerte sie. „Bestimmt werde ich schon vermisst.“
„Ich verstehe.“ Er beugte sich formgewandt vor. „Aber vielleicht darf ich Ihnen noch kurz die Pferdeställe zeigen? Meine Stute wird wahrscheinlich heute Nacht fohlen. Die Anzeichen dazu verdichten sich. Ich würde mich freuen, wenn …“ Richard hielt inne und sah sie voller Wärme an. „Bitte!“, sagte er voller Inbrunst.
Es klang ehrlich und sie musste zugeben, dass seine Nähe angenehm war. Die Idee mit den Pferden fand sie harmlos, weshalb sie die innere Stimme, die sie anmahnte, unverzüglich heimzugehen, abtat.
„Ja“, sagte sie mit einem Wackeln in der Stimme, „in Ordnung, ich bin gespannt.“
Er wies auf die Eingangshalle. „Wir gehen durchs Haus. Das ist der kürzeste Weg. Kommen Sie, ich gehe voran.“
Durchs Haus? Sie sollte Cold Ashton Manor einfach so betreten, als sei es normal, dass ein Mädchen aus dem Dorf in Begleitung des Erben durch die riesige Halle stapfte? Was würde die Dienerschaft denken? Wie ging eine Dame von Stand durchs Haus? Vorsichtig? Hoch erhobenen Hauptes? In dicken, nassen Stiefeln? Amber sah auf ihre Füße. Ihre Schuhe waren voller Schnee und sie stampfte ein paarmal auf, damit er abfiel.
Trotzdem traute sie sich nicht, einfach hineinzugehen. Zögernd rückte sie ihre Mütze zurecht und schob eine Haarsträhne darunter.
„Das macht nichts“, amüsierte sich der junge Lord mit Blick auf ihre Stiefel und hielt ihr die Tür auf. „Bei diesem Wetter ist das normal.“
Das nahm ihr ein klein wenig von der Aufregung und Scheu. Sie mochte sein charmantes Lachen. Vorsichtig trat sie ein und blieb dann mit verschränkten Armen stehen. Ein Dunst von Seifenlauge schwebte noch in der Luft. Wahrscheinlich waren gerade die großflächigen graublauen Fliesen gescheuert worden. Vorsichtig blinzelte sie zur Seite. An den Wänden hingen große Gemälde mit Frauen und Männern in edler Kleidung und erhobenen Blickes darauf. Wahrscheinlich waren es Ahnen der jetzigen Bewohner.
An der einen Seite fand sich ein hoher Kamin aus hellem Stein, an der anderen Tische mit großen Vasen, eine beachtliche schwarze afrikanische Skulptur und über allem ein monströser Lüster. Obwohl das Feuer im Kamin brannte, war es kühl.
Lord Richard Clarke gab einem Bediensteten den Auftrag, sich um den verletzten Diener zu kümmern. „Und jetzt hier entlang.“ Er bog in einen kleinen Flur ab. Glücklicherweise musste sie mit ihren nassen Schuhen nicht über den schönen Teppich laufen. „Von hier aus ist man gleich bei den Ställen“, erklärte er. „Sie sind noch ziemlich neu. Die Stallungen beim Torhaus mussten wir aufgeben.“
Eine Braue schnellte nach oben. Dabei hatten die Bauten gar nicht runtergekommen ausgesehen. „Schade.“ Trotzdem erklärte das nicht, warum das Tor unbeaufsichtigt offen gestanden hatte und kein Pförtner in der Nähe gewesen war.
„Zu alt und zu klein.“
Amber war verblüfft von der Wärme im Stall. Den Dunst fand sie nicht unangenehm. Als kleines Mädchen hatte sie mal im Dorf in einem Pferdestall gestanden, in dem es streng gerochen hatte und ziemlich düster gewesen war. Der Pferdestall hier dagegen war groß, hell und gepflegt. Die Tiere verströmten ihren typischen Geruch, der sich mit dem Heu und ihrer Körperwärme zu einer eigenwilligen und sympathischen Duftkomponente verwob. In der Apotheke gab es auch sowohl wohltuende als auch penetrante Aromata der Pflanzen. Vielleicht war sie deshalb kaum überrascht, wie es hier roch.
Sowohl links als auch rechts reihte sich eine Pferdebox an die nächste, in denen sich braune, helle und schwarze Pferdeköpfe reckten. So viele Tiere hatte sie hier gar nicht vermutet. Ein Stalljunge schüttete Futter in den Trog einer Box, ein anderer war mit dem Striegeln eines Pferdes beschäftigt und ein anderer Mann mistete einen Verschlag aus. Der Lord gab ihr mit einem Wink zu verstehen, ihm weiter durch den Gang zu folgen. Dabei ertappte sie sich bei der Überlegung, wie es sei, reiten zu können. Durch die Weite der Cotswolds mit ihren Feldern, Wiesen und Flüssen auf einem Pferderücken mit der Natur eins zu werden, musste herrlich sein.
Am Ende des Ganges blieb Lord Clarke stehen. Ihr Puls überschlug sich. Die ungeahnte Nähe und das Wissen um seinen Brief machten sie befangen, besonders verwirrt von ihren zwiespältigen Gefühlen.
Ihr surrte der Kopf. Hilfe suchend sah sie sich nach einer Sitzgelegenheit um, aber es gab keine, bis auf ein paar Strohballen, die am anderen Ende des Stalles lagen.
Vielleicht war der Besuch hier doch keine gute Idee gewesen. Nervös flog ihr Blick durch den Stall. Ein paar Pferde schnaubten, andere spähten neugierig herüber. Angesichts der Stallgröße ging es ziemlich ruhig zu. So schöne, aus Holz gezimmerte Boxen hatte sie noch nie gesehen. Sogar die Pfosten waren mit Schnitzereien verziert. Weiß getünchte Wände, ein gründlich gefegter Boden und das dunkle Holz versprühten mit den auserlesenen Rössern mehr Harmonie, als sie sich jemals vorgestellt hatte.
Richards warme Stimme holte sie in die Wirklichkeit zurück. „Alles in Ordnung?“ Fragend schob er seinen Arm unter ihren, um sie zu stützen, als sei sie ins Wanken geraten. Seine Augen beobachteten sie mit einem wissenden Lächeln.
„Ja“, sagte sie mit belegter Stimme und atmete tief durch, um ihre Aufgeregtheit abzuschütteln. „Der Stall ist wunderschön.“ Während sie ihn noch anstarrte, strich er ihr plötzlich sanft über die Wange. Die unerwartete, zärtliche Geste verwirrte sie und sie spürte, wie sie errötete. Aus der Nähe bemerkte sie, wie seine ebenmäßige Haut und sein schmales Gesicht mit seiner standesgemäßen Kleidung harmonierten. „Ich wurde gerade lediglich daran erinnert, dass mein Vater einen Kunden hat, der nach einer Reise auf den Kontinent von einem Marstall geschwärmt hat.“
„Ich muss gestehen, ich war noch nie auf dem Kontinent. Doch mit der Gestaltung unseres Baumeisters bin ich mehr als zufrieden. Wichtig ist mir die artgerechte Haltung der Pferde.“
Ihre Augen weiteten sich. „Sie züchten auch Pferde?“
Er nickte und lächelte. „Ich stehe noch am Anfang und es kursieren wilde Gerüchte über meine Methoden, wie ich meine Pferde behandle. Aber wie es aussieht, gibt mir der Erfolg recht. Die Pferde folgen meinen Anweisungen, ohne dass ich Strenge anwenden muss.“
Amber dachte, wie wenig Verständnis die Leute für eine ungewöhnlich milde Art und Weise übrighatten. „Ich finde es gut, wenn man so handelt, wie das Herz es einem sagt. Und mutig dazu.“
Sie spürte, wie er sie aufmerksam musterte und seine strahlenden Augen sie festhielten. „Ich sollte jetzt besser gehen“, gab sie leise von sich, raffte ihre Röcke und wandte sich zum Gehen.
Er legte eine Hand auf ihren Arm, worauf sie ihn fragend anblickte. Sein Gesicht wurde ernst. „Miss Devaney“, flüsterte er. Seine Stimme klang rau. „Werden wir uns wiedersehen? Vielleicht noch vor dem im Brief genannten Zeitpunkt?“
Ob er ihr Zögern bemerkte? Sie drehte sich weg und blickte flüchtig auf die Stalltür am Ende des Ganges. Die Reitknechte waren verschwunden. Wie lange standen sie schon hier? Hatten sie ihretwegen den Stall verlassen? Kam er öfter mit einer jungen Dame hierher? Wie spät war es überhaupt?
„Morgen findet hier eine Jagd statt“, fuhr er fort, als sie nichts sagte. Als sie ihn wieder anblickte, erinnerte sie das Grün seiner Augen an das Waldstück rings um Cold Ashton Manor. „Zwischen Heimkehr und Festessen könnten wir uns sehen. Nach dem Fünfuhrtee. Beim Torhaus.“
„Ich …“, setzte sie zu einer Erwiderung an, aber dann gelang ihr nur ein Nicken. Sie würde sehen, ob sie es einrichten konnte. Bevor er Gelegenheit hatte sie aufzuhalten, verließ sie mit einem Lächeln den Stall.