Читать книгу Verfangen - Ingrid Neufeld - Страница 4
ОглавлениеFast perfekt
Familie Hübschmann wohnte in einem schmucken Einfamilienhaus in einer netten gewachsenen Siedlung mit gepflegten Gärten. Vor dem Haus parkte ein chices Auto, ein neuer Audi A 4, in Silbermetallic. In der Garage stand ein weiteres Auto, ein VW Golf, den die Frau des Hauses fuhr.
Die Familie war das was man im Allgemeinen als gut situiert bezeichnet. Eine Bilderbuchfamilie mit Mutter, Vater und Kind. Das Kind war ein herziges fünfjähriges Mädchen, das noch in den Kindergarten ging. Sie zeigte schon in ihren jungen Jahren eine hohe Intelligenz und ihre Eltern erwarteten, dass sie einmal eine steile Karriere machen würde. Deshalb wurde Lisa schon jetzt nicht nur in Englisch und Flöte unterwiesen, sondern erhielt außerdem Klavierunterricht.
Frau Hübschmann stand mit Jeans und Gummistiefeln bekleidet in ihrem Garten und schnitt mit einer Schere ihre Hecke. Die langen blonden Haare trug sie im Nacken zusammengebunden. Auf dem Kopf saß ein Käppi zum Schutz vor der Sonne. Mareike Hübschmann wirkte durchtrainiert. Sie legte großen Wert auf Bewegung in frischer Luft und hielt sich so oft es ging in freier Natur auf. Sie prüfte die Hecke auf überstehende Zweige und setzte gerade zu einem neuen Schnitt an, als Veronika Meier um die Ecke bog.
„Hallo Mareike“, begrüßte sie Frau Hübschmann. „Denkst Du an unsere Probe heute Abend?“
„Na klar“, antwortete Mareike. Seit sie in der Siedlung wohnten, waren sie alle engagierte Mitglieder in der Kirchengemeinde. Frau Hübschmann sang im Kirchenchor und arbeitete außerdem im Kindergottesdienst mit, während sich ihr Mann Paul im Kirchenvorstand einbrachte.
Beide nahmen ihre Tätigkeiten sehr ernst. Sie waren angesehene Mitglieder ihrer Gemeinde und eine Stütze für ihren Pfarrer.
„Dann sehen wir uns später!“, rief ihr Veronika zu, bevor sie hinter der nächsten Biegung verschwand.
Mareike winkte ihr noch mit der Schere hinterher, aber das sah Veronika nicht mehr.
Frau Hübschmann schaute auf die Uhr und seufzte: „Schon so spät.“
Sie packte die Schere und stapfte zielstrebig auf das Haus zu. Drinnen schlüpfte sie aus den Stiefeln, wusch sich die Hände und huschte in ihr Arbeitszimmer. Dort kramte sie ihre Unterlagen aus der Tasche und begann sich auf den nächsten Tag vorzubereiten. Sie war Lehrerin von Beruf und musste täglich Arbeiten korrigieren und sich den Unterricht für den nächsten Tag überlegen. Manche hielten den Beruf einer Lehrerin für einen Halbtagsjob, aber in Wirklichkeit war das eine Knochenarbeit, vor allem, weil es sich um eine Hauptschulklasse handelte, die sie unterrichtete.
Um vier Uhr legte sie ihre Arbeit zur Seite. Sie zog sich an und machte sich auf den Weg zum Kindergarten. Jetzt hieß es Lisa abholen.
Als attraktive, moderne, junge Frau war Mareike darauf bedacht, Beruf und Kindererziehung unter einen Hut zu bringen. Die Hausfrauenrolle, die ihre eigene Mutter noch mit Begeisterung ausgeübt hatte, wäre gar nichts für sie gewesen. Jetzt freute sie sich darauf, die Zeit mit Lisa verbringen zu dürfen. Als Paul nach Hause kam, tollten die beiden gerade durch den Garten, wie zwei vergnügte Kinder und gar nicht wie Mutter und Tochter.
Paul blieb einen Moment stehen und genoss den Anblick seiner kleinen Familie. Die Frühlingssonne zauberte Farbe auf die Wangen seiner Frau. Lisas Zöpfchen lösten sich, die Haare hingen ihr wirr ins Gesicht. Freudestrahlend schoss sie auf ihren Vater zu, als sie ihn entdeckte.
„Papa! Komm spiel mit uns. Fang mich!“, forderte sie ihn auf und sauste schon wieder weg.
Gerne ging Paul darauf ein. Er rannte hinter ihr her und tat so, als ob er sie niemals einholen könnte. Zum Schein schnaufte er wie eine historische Dampflokomotive.
Er gab vor, Seitenstechen zu haben. „Du bist mir viel zu schnell. Rennt ihr im Kindergarten alle wie kleine Raketen?“
„Noch viel schneller!“, erklärte Lisa und zischte schon wieder ab, so schnell ihre kleinen Beinchen sie trugen.
Bevor sie noch mal entwischen konnte, schnappte der Vater sie. „Hab dich!“
Lachend zappelte Lisa in seinen Armen.
Auch Paul sah gut aus. Seit kurzem suchte er regelmäßig ein Fitness-Studio auf. Mareike hatte ihm dazu geraten, als sein Arzt Bluthochdruck bei ihm diagnostiziert hatte. Er sei noch zu jung für solche Krankheiten, meinte sie und riet ihm zu einem Sportprogramm.
Außerdem hatte sie Kuchen und Süßspeisen von seinem Ernährungsplan gestrichen. Das gefiel Paul weniger. Zum Glück ahnte Mareike nichts davon, dass er mittags regelmäßig in der Bäckerei neben seiner Arbeitsstelle Kuchen kaufte.
Den kleinen Bauchansatz konnte er sich so oder so nicht abtrainieren. Aber er sah auch so attraktiv aus, fand er jedenfalls.
Doch auch Mareike war mit seinem Aussehen durchaus zufrieden. Neuerdings trug er die Haare ziemlich kurz, was seinem Gesicht einen sehr markanten Ausdruck verlieh. Den Bart rasierte er täglich ab. Stoppeln liebte Mareike gar nicht. Seine Nase war ein wenig breit geraten. Dafür hatte er wunderschöne stahlblaue Augen, in die sich Mareike sofort verliebt hatte. Bergseeblau nannte sie es.
Im einen Arm die zappelnde Lisa, zog er jetzt mit dem anderen Arm Mareike an sich.
„Komm, lass uns rein gehen. Ich habe einen Mordshunger. Was gibt’s denn?“
Mareike machte sich von ihm los. „Das was du kochst.“
„So, so“, murmelte Paul. Als moderner Mann war er es gewohnt, beim Kochen selbst Hand anzulegen.
Mareike und er wechselten sich beim Kochen ab. Ganz nach Lust und Laune. Einen festgelegten Plan hatten sie da nicht.
„Ich schau mal nach, was wir denn daheim haben“, bot sich Paul auch gleich an.
„Nicht, dass ich erst einkaufen muss.“
„Eingekauft habe ich schon!“, nahm ihm Mareike diese Besorgnis.
Paul öffnete den Kühlschrank und warf einen langen und ausdauernden Blick hinein. Er stöberte im Vorratsschrank und entschied sich dann für Schnitzel mit Pommes.
Die waren schnell gebraten und serviert.
Nach dem Essen brachten die Eltern ihre Tochter ins Bett. Paul griff nach der „Sams“-Geschichte und las Lisa daraus vor. Er und seine Tochter lachten gemeinsam über das lustige Sams und den unbeholfenen Herrn Taschenbier. Dann kam auch noch Mareike um Lisa Gute Nacht zu sagen. Die Eltern löschten das Licht und Lisa sollte schlafen. Mareike schnappte sich ihre Jacke und musste gleich los. Sie wollte ja zur Probe in den Kirchenchor.
Paul hatte vollstes Verständnis dafür. Er stand absolut hinter Mareikes Mitsingen im Kirchenchor. Er war sogar ein klein wenig stolz auf sie. Mareike hatte eine sehr schöne Stimme und Paul hörte sie bei jedem Auftritt des Kirchenchores ganz deutlich heraus. Jedenfalls behauptete er das.
An diesem Abend blieb Paul bei der kleinen Lisa zu Hause, damit Mareike in aller Ruhe zu ihrer Probe gehen konnte. Am nächsten Tag sollte Mareike dann zu Hause bleiben, damit Paul an der Kirchenvorstandssitzung teilnehmen konnte.
So hatte jeder der beiden seine Tage, an denen er alleine und ohne Familie unterwegs war und jeder hatte seine Tage, an denen er zu Hause das Kind hütete.
Als modernes Ehepaar, als zukunftsorientierte Eltern teilten Mareike und Paul alles miteinander, die freie Zeit genauso, wie die Betreuungszeiten für die gemeinsame Tochter. Ihnen war klar, dass Elternschaft gemeinsame Verantwortung bedeutete.
Paul saß in seinem großen, geschmackvoll eingerichteten Wohnzimmer. Eine moderne Sitzgruppe stand gegenüber einer High-Tech-Wand, in deren Mitte ein überdimensionaler Flachbildschirm prangte. Doch der Fernseher war nicht eingeschaltet.
Paul hockte stattdessen am Esstisch und bearbeitete seinen Laptop. Er begutachtete gerade die Aktienkurse im Internet. Paul hatte BWL studiert und arbeitete als Betriebswirt in der Finanzabteilung eines größeren Unternehmens. Täglich schob er mehrstellige Beträge hin und her. Gerne hätte er privat auch mal eine größere Summe auf seinem Konto gehabt. Deshalb hatte er in Aktien investiert. Auch die Finanzkrise konnte ihn nicht daran hindern. Es mussten nur die richtigen Aktien sein. Doch irgendwie hatte er aufs falsche Pferd gesetzt. Jedenfalls war jetzt von seinem Depot nicht mehr viel übrig. Aber noch hatte er die Aktien nicht verkauft. Deshalb schaute er täglich nach dem aktuellen Stand. Er wollte nicht wahrhaben, dass er so viel Geld verloren hatte. Geld, das die junge Familie dringend brauchte. Doch das allein, war nicht das Schlimmste. Wirklich schlimm war, dass er mit Geld spekuliert hatte, das Mareike von ihrer Großmutter geerbt hatte. Seine Frau hatte ihm das Geld anvertraut, damit er es in festverzinsliche Wertpapiere anlegte, doch er kaufte Aktien davon. Obwohl seine Frau ausdrücklich eine sichere Anlageform haben wollte. Jetzt saß er in der Patsche und Mareike ahnte nichts davon. Sie wusste nicht, wie viel Geld Paul verspekuliert hatte. Und wenn es nach Paul ging, würde sie auch nie davon erfahren. Nur – wie sollte er die Verluste wieder ausgleichen? Er musste sich was einfallen lassen.
Gedankenverloren betrachtete er die Aktienkurse. Seufzend klickte er sich aus dem Internet und schloss den Laptop. Irgendetwas würde ihm schon einfallen!
*
In seiner Arbeit hatte Paul mit vielen verschiedenen Firmen zu tun, denen sein Arbeitgeber Geld für Dienstleistungen oder Waren schuldete. Er war derjenige, der diese Gelder anzuweisen hatte.
Seit er wusste, dass die von ihm gekauften Aktien so starke Verluste eingefahren hatten, dachte er pausenlos darüber nach, wie er möglichst schnell zu Geld kommen könnte.
Seine Misere verschlimmerte sich noch, als Mareike meinte: „Du hast doch mein Geld auf ein Jahr angelegt. Das müsste doch jetzt demnächst fällig werden. Mein Auto gibt in letzter Zeit so komische Geräusche von sich. Wenn ich wieder eine Reparatur habe, trenne ich mich davon. Dann kaufe ich mir ein anderes Auto.“
Paul schluckte. „Du hängst doch so an deinem Auto. Lass es doch noch mal reparieren.“
Mareike wirkte gestresst. Sie wischte sich eine Haarsträhne aus der Stirn. „Na ja, ich lass es erst mal durchchecken. Aber wenn die in der Werkstatt sagen, dass ich wieder so eine teure Reparatur habe, dann ist endgültig Schluss.“
„Bestimmt ist es nicht so schlimm. Bring das Auto erst mal in die Werkstatt.“ Paul war froh, noch ein wenig Luft zu haben. Wenn Mareike aber das Geld wirklich haben wollte, müsste er Farbe bekennen. Es sei denn, er hätte einen anderen Einfall. Sein schlechtes Gewissen erdrückte ihn fast.
Er betete in seiner Not. Paul glaubte an Gott. Seit frühester Kindheit betete er zu ihm. Deshalb engagierte er sich auch im Kirchenvorstand. Für ihn war es ganz einfach: er engagierte sich für Gott, also musste Gott jetzt was für ihn tun.
Er betete immer wieder dasselbe: „Lass ein Wunder geschehen und meine Aktien steigen.“ Gebetsmühlenhaft, immer wieder leierte er den Satz herunter. Wieder und immer wieder.
Doch Gott erhörte seine Gebete nicht. Im Gegenteil: Am nächsten Tag brachen die Aktienkurse erneut ein.
Da setzte sich ein Gedanke in ihm fest. Ein Gedanke, der ihn nicht mehr los ließ. Ein Gedanke ganz anderer Art. Ganz wohl war ihm dabei nicht. Aber hatte er eine Wahl? Gott wollte ihm ja nicht helfen!
Er könnte doch eine Firma gründen und seinem Arbeitgeber Waren in Rechnung stellen. Niemand würde nachprüfen, ob diese Sachen auch geliefert worden wären. Das müsste doch ganz einfach sein. Er ignorierte die Stimme, die leise in ihm flüsterte, dass das der falsche Weg war.
Am nächsten Tag ging er zu einer Bank und eröffnete ein Konto für eine Firma namens „Kaufgut“. Mit Hilfe des Computers gestaltete er sich Geschäftspapiere und schon schickte er die erste Rechnung an seinen Arbeitgeber.
Wenige Tage später wies er diese Rechnung mit etlichen anderen zur Bezahlung an. Es ging ganz einfach. Niemand schöpfte Verdacht.