Читать книгу Verfangen - Ingrid Neufeld - Страница 9
ОглавлениеUnheimlich
Paul saß abends noch im Büro und arbeitete Unterlagen auf, zu denen er den ganzen Tag über nicht gekommen war. Auf seiner Etage gab es sonst niemanden mehr. Alle genossen längst ihren wohlverdienten Feierabend. Erst recht seine Sekretärin, die heute wegen eines Zahnarzttermins schon um fünfzehn Uhr gegangen war. Paul kniff die Augen zusammen. Er arbeitete ungern bei künstlichem Licht. Wenn er so lange am Computer saß, sah er zunehmend immer schlechter. Plötzlich schrak er hoch, denn jemand stand vor ihm am Schreibtisch. Komisch, er hatte doch gar niemanden kommen hören. Außerdem müsste doch längst die Eingangstür abgesperrt sein. Seltsam. Er musterte den späten Besucher. Ein Mann unbestimmten Alters, gekleidet in einen gut sitzenden Anzug. Paul spürte sofort die ungewöhnliche Ausstrahlung und wurde augenblicklich von dessen faszinierender Persönlichkeit in Bann gezogen. Obwohl der Besucher eher durchschnittlich aussah und keine besonderen Merkmale, wie ein besonders markantes Gesicht, oder einen durchtrainierten muskulösen Körper aufwies. In seiner Durchschnittlichkeit wirkte dieser Mann außergewöhnlich. Paul hätte nicht sagen können wieso.
Die Firma, in der Paul arbeitete, stellte wichtige Medikamente her. Das Geschäft lief ausgezeichnet. Als Betriebswirt wusste er wie gut das Unternehmen dastand. Vor kurzem hatte die Geschäftsführung beschlossen, zusätzlich zur Herstellung auch eine Forschungsabteilung aufzubauen. Pauls derzeitige Arbeit bestand darin, die richtigen Lieferanten für die Einrichtung der benötigten Laboratorien zu finden.
„Mein Name ist Lukas Morgen. Ich komme von der Firma Laboromed und wollte Sie noch mal daran erinnern, dass wir uns an Ihrer Einrichtungs-Ausschreibung beteiligt haben. Also wie sieht’s aus?“
Überrascht klappte Pauls Unterkiefer herunter. Damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet. Er wollte den Kopf schütteln. Eine abwehrende Bewegung machen. Doch er war von der Persönlichkeit seines Gegenübers so sehr gefangen genommen, dass er all seine Kraft brauchte, um zu murmeln: „Ihr Angebot wird wohlwollend geprüft.“
Lukas Morgen zog sich einen Stuhl heran, auf den er sich unaufgefordert setzte. „Das reicht mir nicht.“
Er schaute Paul so durchdringend an, dass dem in Sekundenschnelle kleine blitzartige Schauer durch den Körper jagten, von der Fußsohle bis ins Gehirn, wo sie in atomkleine Teile explodierten. Dort lähmten sie ihn so, dass er das Folgende wie in Zeitlupe wahrnahm.
„Sie haben finanzielle Probleme, Herr Hübschmann.“, verriet der Besucher. Pauls Gesicht verlor jede Farbe. Woher wusste der Besucher das? Er hatte mit keinem Menschen darüber gesprochen. Pauls Magen krampfte sich zusammen und er fühlte sich, als habe er einen Schlag dorthin erhalten. Langsam kroch ihm die nackte Angst den Rücken hinauf. Sie spiegelte sich in seinen weit aufgerissenen Augen wieder. Wer war der unheimliche Besucher?
„Aber wer hat die nicht?“, relativierte Lukas Morgen das vorher Gesagte. „Trotzdem haben wir eine Lösung für Ihr Problem. Wir machen das Geschäft und geben Ihnen ein Stück vom großen Kuchen ab. Sagen wir 10 000 Euro? Das dürfte genügen.“
Paul sagte gar nichts mehr. Er schluckte. Das Angebot hörte sich verlockend an.
Dann meinte er: „Das kann ich nicht allein entscheiden.“
Morgen lächelte unmerklich. „O doch, das können Sie und Sie werden. Ihre kleine Firma brauchen wir da gar nicht erst zu erwähnen.“
Paul Hübschmann sackte zusammen. Der fremde Besucher kannte nicht nur sein finanzielles Desaster, sondern wusste sogar von seinen unsauberen Geschäften!
Er saß in der Zwickmühle. Er, der sich immer für integer und absolut unbestechlich gehalten hatte, für den Ehrlichkeit so etwas wie Ehrensache gewesen ist, sah sich jetzt einer völlig ausweglosen Situation gegenüber. Einer Situation, die zwangsläufig in Unehrlichkeit enden musste.
Paul erkannte, dass diese unerklärliche Angst, die ihn befallen hatte, berechtigt war. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. Die ausweglose Situation jagte Adrenalin in absoluter Höchstdosis durch seine Adern.
Wie war er nur hier hineingeraten? Hektisch schaute er von seinem Besucher hinüber zum Fenster, als ob er sich von dort Hilfe erhoffte. Doch die gaben nur den Blick auf den dunklen Nachthimmel frei, an dem noch nicht einmal Sterne als Hoffnungsschimmer blinkten. Nur der Mond ließ kurz seine silberne Sichel hinter schwarzen Wolken auftauchen.
Die Finsternis der Nacht schien sich in Pauls Büro fortzusetzen. Die Gegenwart von Lukas Morgen senkte sich wie ein dunkler Schleier auf Pauls Seele. Sein Vorschlag lastete wie ein Zentnerstein auf ihm.
Das hatte er nun davon, dass er seit Wochen kleinere Betrügereien am laufen hatte. Hätte er doch seiner Frau gleich reinen Wein eingeschenkt. Jetzt verzettelte er sich immer mehr in ein Lügengeflecht und Betrug. Kam er da noch mal raus? Dieser Typ da hatte ihn am Haken. Wenn der ein Wort von seiner Scheinfirma an seinen Arbeitgeber verriet, konnte er seinen Job vergessen, und damit seine Karriere.
Paul war klar, dass das Angebot, Schmiergeld an ihn zu zahlen, mit einer klaren Erpressung einherging. Wenn er das Angebot ablehnte, flog sein Betrug auf. Was konnte er tun?
Er sandte in seiner Not ein Gebet zu Gott. Ob der ihn jetzt hörte? Jetzt da er sich immer tiefer in Schuld verstrickte?
Übelkeit erfasste ihn. Ekel vor sich selber und das Gefühl sich übergeben zu müssen. Mit Gewalt zwang er sich, wieder klar zu denken. Seinem Zeitgefühl nach, musste ein Jahr vergangen sein, als er endlich antwortete:
„Gut, ich werde sehen, was ich für Sie tun kann.“ Seine Stimme klang brüchig dabei.
Natürlich war das keine Zusage. Paul klammerte sich an diesen Gedanken. Er war doch nicht bestechlich…
Danach verschwand Herr Morgen ebenso plötzlich wie er kam. Paul saß wie gelähmt am Schreibtisch und realisierte erst nach einer Weile, dass er wieder allein war. Der Besuch erschien ihm wie ein Traum. Doch ein leichter seltsamer Geruch, den er nicht einzuordnen vermochte, erinnerte ihn an die Realität der Begegnung.