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Ein guter Kern

Sven kam gerade von einer kleinen Spedition, die einen Fahrer suchte. Der Berater vom Arbeitsamt hatte ihm mehrere Adressen in die Hand gedrückt. Sven Bachmeyer telefonierte die Adressen der Reihe nach durch. Einige winkten gleich ab. „Schon besetzt.“, lautete die Antwort, die Sven am häufigsten zu hören bekam.

Nur bei der Spedition Josef Müller erreichte er den Inhaber persönlich. Der lud ihn gleich zum Gespräch. Es handelte sich um eine kleine Firma, die von zu Hause aus betrieben wurde. Josef Müller setzte zwei Fahrer ein, die für ihn Liefertouren übernahmen. Das erzählte er Sven, auch, dass die Touren rund um die Uhr fuhren, Wochenenden eingeschlossen.

„Wir richten uns nach dem Kunden, darum fahren wir immer, auch am Wochenende.“, erzählte der künftige Chef.

„Wie ist denn das dann mit Lenkzeiten und so?“

Josef Müller kratzte sich am Kopf, seine abstehenden Ohren wackelten. Er war ein kleiner glatzköpfiger Mann in den sogenannten besten Jahren. Vielleicht vierzig, schätzte Sven.

„Wollen Sie jetzt den Job, oder wollen Sie ihn nicht?“, fragte Müller.

„Klar will ich ihn“, beteuerte Sven.

„Was kommt denn da so an Lohn rüber?“, wollte er vom künftigen Chef wissen.

Josef Müller wand sich und redete eine Weile um den heißen Brei herum.

„Kommt ganz drauf an, wie lange der Fahrer unterwegs ist. Wir zahlen nach Stunden. Mal mehr, mal weniger.“

Auch jemand, der nicht so helle im Kopf war, merkte schnell, dass es wohl eher auf eine geringere Bezahlung hinauslief, bei viel Arbeit, versteht sich.

„Ich ruf Sie an!“, rief ihm Josef Müller hinterher, als Sven ihn verließ. Sven Bachmeyer fühlte sich gefrustet. Wenn zu wenig Kohle rüber kam, konnte er seine Familie nicht ernähren. Dann nützte ihm auch ein fester Job nichts. Er hatte jedes Monat feste Abzüge: Miete, Telefon, Strom. Da musste man sich nichts Großes leisten. Schon die normalen laufenden Kosten fraßen die Einnahmen weitgehend auf. Vorausgesetzt er hatte einen Job. Wenn er wie jetzt arbeitslos war, geriet das Konto schnell ins Minus.

„Scheiße verdammte!“, knurrte er ärgerlich. Er fischte seine letzte Zigarette aus der Packung, zündete sie an und rauchte hastig. Wütend warf er die leere Packung auf den Boden und kickte sie mit dem Fuß vom Gehsteig. Sven nahm den Bus, der ihn zurück in seine Straße bringen sollte. Er stieg aus und stattete dem Edeka-Markt gleich neben der Haltestelle einen Besuch ab. Dort besorgte er sich einen Kasten Bier. Durch das Gewicht des Bierkastens kam er nur langsam voran. Vier Mietskasernen tauchten vor ihm auf. In der rechten hinteren wohnte er. In jedem dieser Häuser gab es neun bis zwölf Stockwerke, auf jeder Etage lagen mehrere Wohnungen. In jeder dieser Wohnungen lebten Familien, teilweise mit mehreren Kindern. Dazwischen gab es auch leerstehende Wohnungen, die wie Zahnlücken in einem schlechten Gebiss wirkten. Fenster ohne Gardinen, Wohnungen, denen man das fehlende Leben schon von außen ansah. Sven starrte die Fassade seines Mietshauses hinauf. Er nahm schon gar nicht mehr wahr, dass das Dach erneuert werden müsste, sich Risse in der Fassade gebildet hatten und der Putz bröckelte, Irgendein Rowdy hatte wohl seine Wut an der Haustür abgelassen, die seitdem einen Sprung im Glas aufwies.

Die ganze Straße wirkte trist und erinnerte an die trostlose Leere in einem Western, kurz vor dem Indianerangriff. Sven setzte den Bierkasten ab, wischte sich den Schweiß von der Stirn und beschloss sich auf die Bank auf dem Spielplatz direkt vor dem Haus zu setzen.

Er ließ sich auf die Bank plumpsen, fast mechanisch griff er nach der ersten Flasche Bier, öffnete sie mit den Zähnen und ließ das Bier durch die Kehle zischen.

„Aaaah, tut das gut!“, seufzte er wohlig.

Spielplatz war eigentlich nicht der richtige Name für den verdreckten Sandkasten vorm Haus. An den Brettern der Umrandung nagte der Holzwurm. Sie lagen nur mehr lose auf, die Schrauben fehlten längst. Die wackelige Angelegenheit stellte eine Gefahr für alle Kleinkinder dar. Doch niemand störte sich daran. Genauso wenig wie an den leeren Bierflaschen die herumlagen, manche direkt neben dem Abfallbehälter. Wahrscheinlich hatten sich Jugendliche einen Spaß daraus gemacht, dort hineinzuzielen. Wer nicht traf, ließ seine Flasche einfach liegen. Dort blieben sie bis sie festgewachsen waren, oder von einem unterbezahlten und mürrischen Hausmeister entfernt wurden.

Auch eine Rutsche gab es noch. Hier mussten die Kinder über eine hölzerne Leiter nach oben klettern. Aber auch da fehlten einzelne Sprossen, andere waren kurz vorm Durchbrechen.

Sven saß auf einer der beiden Bänke, die für die Mütter bereitstanden, damit die ihre Kleinkinder beaufsichtigen konnten. Im Augenblick war er allerdings allein. Eine Mutter, die jetzt beabsichtigte, ihr Kind auf den Spielplatz zu begleiten änderte ihren Plan sofort, wenn sie Sven dort sitzen sah. Sven wirkte nicht gerade wie der ideale Bekannte für eine junge Mutter. Er griff gerade nach einer neuen Flasche Bier, wobei er wieder mit seinen Zähnen den Kronkorken abriss. Sven trug ein Top, bei dem die Drachentätowierung auf seinen Oberarmen gut zu sehen war. Seine Muskeln wirkten entsprechend beeindruckend. In seiner Nähe fürchtete man sich davor, im nächsten Moment eine Klinge im Bauch zu haben. Der Rechtsextremisten-Haarschnitt verstärkte diesen Eindruck noch.

Sven war sich seiner Ausstrahlung auf andere nicht wirklich bewusst. Er merkte zwar, dass manche Menschen „komisch“ zu ihm waren. Aber die hielt er halt für bekloppt. Er hatte zwei, drei Kumpels, mit denen er ab und zu einen drauf machte. Das war’s. Mehr Kontakte brauchte er auch nicht. Und seine Kumpels sahen ähnlich aus wie er.

Eine junge Türkin näherte sich dem Spielplatz. Trotz der schon warmen Temperaturen war sie völlig verhüllt. Sie trug Kopftuch. Mit dunklen Augen lugte sie darunter hervor. Als sie Sven erkannte, rief sie sofort ihren kleinen Sohn zurück, der schon zum Sandkasten voraus gerannt war. Ohne Sven noch eines Blickes zu würdigen, ging sie gemessenen Schrittes, den Sohn an der Hand am Spielplatz vorbei.

Das hatte der große, breite Mann auf der Bank gar nicht richtig mitbekommen. Er köpfte schon die nächste Flasche aus seinem Vorrat und ließ es sich richtig gut gehen. Doch umso mehr er trank, umso mehr holte ihn auch der Frust wieder ein. „Kein Job, kein Geld, kein Leben.“, knurrte er vor sich hin. Langsam wurde er richtig wütend. Er köpfte noch eine Flasche, dann noch eine. Seine Wut steigerte sich von Flasche zu Flasche. Mit dem Alkoholpegel stiegen sein Aggressionsdrang und gleichzeitig der Kontrollverlust. Minute um Minute. Sven war eine tickende Zeitbombe.

Er stand auf und zerrte wütend an der Sandkastenverkleidung. Doch bei dem lose aufgelegten Brett stieß er auf keinen Widerstand. Damit hatte Sven nicht gerechnet. Deshalb riss ihn sein eigener Schwung sofort nach hinten. Er stolperte und fiel dumpf auf seinen Hosenboden. Als er wieder auf die Beine kam, war er erst recht auf hundertachtzig. Mit erheblich erhöhtem Adrenalinspiegel nahm er die Bretter vom Sandkasten und donnerte sie gegen die Bank. Dabei zerbrach ein Brett nach dem anderen. Sven raste jetzt wie ein Stier in der Arena. Seine ganze Wut über die Arbeitslosigkeit und den permanenten Geldmangel ließ er dabei raus. „Gequirlte Scheiße… Arschlöcher… verdammte Wichser… hirnlose Bande…“ Mit jedem Schimpfwort wütete er gegen seine Hoffnungslosigkeit. Er trat auf den morschen Holzteilen herum, bis sie zerbröselten. Lauter kleine Holzstücke verschandelten jetzt den gesamten Platz. Doch Sven hatte noch immer nicht genug. Er näherte sich der Rutsche und rüttelte am Aufbau. Dann zerschlug er mit der bloßen Hand die Sprossen der Leiter.

Erst jetzt kam Sven langsam zur Ruhe. Er hatte sich den Alkohol aus dem Leib gewütet. Jedenfalls wurde er allmählich wieder nüchtern. Na ja so richtig blau war er ja gar nicht. So ein paar Flaschen Bier waren gerade mal genug, dass man so richtig wütend werden konnte, aber besoffen? Besoffen war was anders. Jetzt hatte er den Alkohol größtenteils wieder rausgeschwitzt.

Genug, um sich die Misere mit klaren Augen anzuschauen.

Er begriff, was er da angerichtet hatte. „Scheiße verdammte!“, schimpfte er. Aber diesmal galten die Aggressionen ihm selbst.

„So eine Sauerei!“

Er schaute sich die Folgen seiner Raserei an und schämte sich auf einmal in Grund und Boden. Sven war ein Baum von einem Kerl, der auch schon mal seine Aggressionen so richtig raus ließ. Aber jetzt fiel ihm wieder ein, dass er eine Tochter hatte.

Morgen wollte er Anja vom Kindergarten abholen und danach auf den Spielplatz gehen. Aber auf diesen Schrotthaufen? Er sah, dass er das seiner Tochter nicht mehr zumuten konnte. Einem anderen Kind auch nicht. Nervös schaute er sich um. Zum Glück war gerade niemand da, der auf den Spielplatz wollte.

Obwohl Sven nicht gerade der gute Kumpel von nebenan war, hatte selbst er das, was man einen guten Kern nannte. Dieser Keim seines besseren Ichs durchrang sämtliche Schichten und schwamm in sein vom Alkoholdunst umnebeltes Gehirn. Dort breitete sich sein besseres Ich aus und befahl ihm, die Verantwortung für die Spielplatzrandale zu übernehmen. Deshalb, beschloss Sven, die Schäden zu beseitigen.

Also suchte er nach dem Hausmeister der Anlage. Nicht in der Absicht, dem zu erzählen, dass der momentane Zustand des Spielplatzes auf sein Konto ging.

„Gut, dass ich Sie treffe. Am Spielplatz müsste was gemacht werden. Die Bretter… und so…“, begann er.

Der Hausmeister reparierte gerade eine Türklingel und war gar nicht gut drauf. Irgendein Kontakt funktionierte nicht, wie er sollte. „Als hätte ich sonst nichts zu tun.“, knurrte er ungnädig.

„Ja, deshalb wollte ich ja helfen. Wenn Sie ein paar Bretter hätten, würde ich das für Sie übernehmen.“, bot sich Sven an.

Der Hausmeister, Martin Schlegel, legte den Schraubenzieher hin, kratzte sich am Ohr und schaute Sven ungläubig an. Der wollte freiwillig was tun? Kam sonst nie vor. Alle wollten sie was von ihm. Keiner tat selber was.

Natürlich wusste er über die morschen Bretter Bescheid, aber er hatte bisher keine Zeit und auch keine Lust gehabt, sie zu reparieren, aber wenn der Bachmeyer das tun wollte…

„Im Keller gleich hinter der ersten Tür liegt ein Stapel Bretter. Sind noch übrig. Die können Sie nehmen.“

Wenig später machte sich Sven am Spielplatz zu schaffen. Zuerst entsorgte er die kaputten Holzreste. Richtig ordentlich, obwohl Sven sonst gar nicht zur Ordnung neigte, eher zum Chaotentum. Danach machte er sich daran, die neuen Bretter des Hausmeisters entsprechend zurechtzusägen und am Sandkasten fest und kindersicher zu verschrauben.

Auch die Holzkonstruktion, die als Leiter auf die Rutsche führte, versah er mit stabilen Holzbalken, auf die die Kinder treten konnten, ohne durchzubrechen.

Als er die Arbeit beendet hatte, fühlte sich Sven so richtig zufrieden mit sich selbst.

Verfangen

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