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Am Existenzminimum

In einem anderen Teil derselben Stadt wohnte Familie Bachmeyer. Ihr Zuhause war eine Drei-Zimmer-Wohnung in einem großen Wohnblock aus den späten Siebzigern. Unten gleich neben dem Eingang gab es eine ganze Wand mit Briefkästen, aus denen reihenweise Werbeblätter hingen, die von niemandem entleert wurden. An der gegenüberliegenden Wand stand völlig verblasst, aber dennoch zu lesen: „Fick deine Mutter.“ Die Großbuchstaben waren irgendwann einmal vom Hausmeister überstrichen worden. Vielleicht hatte er eine nicht deckende Farbe benutzt, jedenfalls war der Satz noch immer zu entziffern.

Der ehemals weiße Anstrich schimmerte gräulich und vermittelte einen trostlosen Eindruck. Neben dem Treppenhaus führte ein Lift hinauf bis in die neunte Etage.

Familie Bachmeyer wohnte im achten Stockwerk. Der Lift hielt dort mit einem geräuschvollen Blong. Sven Bachmeyer war mitte dreißig, zwei Jahre älter als seine Frau Jasmin. Gemeinsam hatten sie zwei Kinder, einen vierzehnjährigen Sohn namens Kevin und eine fünfjährige Tochter, namens Anja. Sven war groß, breitschultrig, muskulös mit einem kantigen Gesicht. Die blonden Haare trug er kurz abrasiert. Seine wässrigen blauen Augen hatten einen Rotstich, so als hätte er eine Bindehautentzündung. Er trug ein ärmelloses Top, damit man seine Drachen-Tätowierungen an den Oberarmen gut sehen konnte. Seine Gesamtausstrahlung war die eines gewalttätigen Menschen, eines Mannes, dem man als Frau nicht so gerne im Dunkeln begegnen würde.

Bis vor kurzem hatte Sven als LKW-Fahrer gearbeitet. Bei einer Zuliefererfirma für die KFZ-Industrie. Doch dann fehlten Aufträge. Seine Firma musste Insolvenz anmelden und Sven verlor seine Arbeit. Seitdem verbrachte er die meiste Zeit zu Hause vor dem Fernseher und tröstete sich mit einem Kasten Bier.

Frau Bachmeyer war mit 1,58m nicht gerade besonders groß. Sie trug ihre dunklen Haare kurz und stylte sie vom Kopf abstehend, so dass ihr Haar meist aussah, als sei sie direkt in einen Sturm geraten. Ihre Stupsnase zierte ein Piercing, genauso wie ihre Ohren, die beide drei Piercings aufwiesen. Ihren fülligen Körper kleidete sie in Schlabber-T-shirts über bequeme Jeans mit Gummibund.

Auch der vierzehnjährige Sohn gelte seine dunklen Haare regelmäßig so, dass sie vom Kopf abstanden. Er zog am liebsten Sporthosen an, mit denen er sogar die Schule besuchte. Falls er hinging, denn er fiel immer wieder durch Schulschwänzen auf.

Die Tochter war schüchtern, in sich gekehrt und redete für ihr Alter recht wenig. Wenn sie dann doch was sagte, neigte sie zum Stottern und zum Verschlucken von Silben. Sie hatte eine Fehlstellung der Augen, weshalb eines der Augen regelmäßig mit einem Pflaster abgeklebt werden musste. Ihre blonden Haare waren zu dünn für eine längere Frisur, deshalb wurden sie regelmäßig geschnitten, und zwar von der Mutter selbst. Denn sie musste das Geld für den Friseur sparen.

Jasmin Bachmeyer arbeitete als Regalauffüllerin in mehreren Supermärkten. Sie musste meist schon um sechs Uhr aus dem Haus, da lag der Sohn noch ganz gemütlich unter seiner Decke. Ob er später aufstand, entzog sich ihrer Kontrolle. Jetzt war der Vater zu Hause. Aber der kümmerte sich nicht um seinen Sohn. Auch er stand auf, wann er wollte und dann schaute er nicht, ob der Sohn noch im Bett lag, oder in die Schule gegangen war. Seit Sven seine Arbeit verloren hatte, fühlte er sich nutzlos. Er litt unter dem Geldmangel und versuchte sein Versagen im Alkohol zu ertränken. Gerade, dass er es hinkriegte, die Tochter in den Kindergarten zu bringen. Das klappte auch nicht immer. Oft lag der Vater zu lange im Bett. Dann war es zu spät für den Kindergarten und Anja musste den Tag in der Wohnung verbringen.

Kevin befand sich gerade mitten in der Pubertät. Er stand auf, wann er wollte, zog sich irgendwelche Klamotten aus dem Schrank, ging vielleicht in die Schule, vielleicht auch nicht. Wenn er in die Schule ging, fiel er durch aggressives unangepasstes Verhalten auf. Er flegelte sich auf seinen Stuhl, die Füße auf dem Tisch, die Arme hinterm Kopf verschränkt. Auf manche Lehrer hörte er, auf einige überhaupt nicht. Dann blieb er so sitzen, gab freche, oder gar keine Antworten, spielte mit anderen Karten, oder redete in normaler Lautstärke über das letzte Fußballspiel. Er gab sich keinerlei Mühe, wenigstens so zu tun, als sei ihm die Schule wichtig. Stattdessen ignorierte er den Lehrer und alles, was der erklärte.

Herr Ruppert, der Englischlehrer teilte die letzte Arbeit aus: „Bachmeyer, das war leider zu wenig. Ich konnte dir keine andere Note geben.“

Kevin nahm die Arbeit entgegen, ohne auch nur drauf zu schauen. Die „6“ war ihm völlig egal. Er steckte das Blatt weg und murmelte nur: „Und wenn schon.“ Sekunden später spielte er mit seinen Freunden weiter Karten, ohne sich noch um den Unterricht zu kümmern.

Der Lehrer resignierte. Er hatte schon öfter versucht, den Jungs, ihr Kartenspiel wegzunehmen, aber entweder rückten sie es nicht raus, oder aber einer der Buben hatte ein weiteres Spiel dabei, so dass sein Handeln ins Leere lief. „Ey Alter“, rief ihm Kevin hinterher, als er durch die Klasse ging. „gib’s endlich auf. Englisch rafft doch eh keiner. Wann checkst du’s endlich?“

Herr Ruppert wandte sich von Kevins Clique ab und den Schülern zu, die etwas lernwilliger in den vorderen Reihen saßen.

Wenn Kevin keinen Bock auf Schule hatte, ging er erst gar nicht hin. Dann hing er lieber auf dem Spielplatz unweit seines Wohnblocks ab, eingedeckt mit Bierflaschen aus dem väterlichen Vorrat. Kevin war vierzehn und wenn er so weitermachte, war es fraglich, ob er seinen Hauptschulabschluss schaffen würde.

Deshalb bestellte die Klassenlehrerin Frau Bachmeyer zum Elterngespräch in die Schule.

Jasmin Bachmeyer ahnte, dass es nicht um eine Belobigung für ihren Sohn ging. Sie schlich über den tristen Schulhof, vorbei an Abfallbehältern, neben denen achtlos hingeworfene Bananenschalen, Apfelbutzen, oder auch Zigarettenschachteln lagen. Jasmin nahm diese Unordnung nicht wirklich wahr, genauso wenig wie den Wind, der an ihrer Jacke zerrte. Sie starrte auf die Fahrradständer, an denen Blech an Blech gekettet stand. Irritiert fiel ihr Blick auf die weißen Striche, mit denen der geteerte Schulhof aufgepeppt worden war. Ein Irrgarten? Sie wusste nichts damit anzufangen. Genausowenig wie mit dem modernen Kunstwerk mitten im Hof, auf dem jede Seite von einer anderen Errungenschaft unserer Demokratie kündete: Freiheit, Toleranz, Freude, Geborgenheit. Schlagwörter, mit denen die Kinder im Kunstunterricht bombardiert worden waren. Begriffe, die für die Schüler über die Kunst erfahrbar gemacht werden sollten und von denen die Kinder letztlich doch nicht viel verstanden.

Jasmin erinnerte sich an ihre eigene Schulzeit und die damit verbundenen negativen Erfahrungen. Sie kam sich klein vor, als sie jetzt über den Schulhof ging. Doch ganz im Gegensatz zu ihrem Empfinden straffte sie ihren Körper, nahm die Schultern zurück und zog schwungvoll die schwere Tür auf. Gleich darauf stand sie im wenig einladenden Eingangsbereich, der sich am Ende des Flurs zur Aula weitete. Am anderen Ende lag das Lehrerzimmer, in dem ihr Gespräch stattfinden sollte.

Auf ihr mutiges Klopfen, ertönte ein energisches „Herein!“

Sie trat ein und sah sich der Klassenlehrerin ihres Sohnes gegenüber. Die Lehrerin hieß Frau Mareike Hübschmann und hielt sich für eine erfahrene Pädagogin. Frau Bachmeyer sah gleich, dass sie in ihrem Alter war und so erfahren gar nicht sein konnte.

„Kommen wir gleich zur Sache“, begann die Lehrerin ohne Umschweife und ohne Jasmin Bachmeyer einen Platz anzubieten. Jasmin kam sich vor, wie ein dummes Schulmädchen, als wäre sie es selbst, die jetzt eine Rüge erhielt.

So ähnlich war es aber auch. Denn die Lehrerin sah hinter den Unartigkeiten ihres Schülers eine Pflichtverletzung der Mutter. Offen, oder heimlich gab sie ihr die Schuld an der ganzen Misere. Laut sagte sie das nicht so direkt. Mareike hatte Kevin nun schon seit zwei Jahren im Unterricht und konnte ihn deswegen ziemlich gut beobachten. Von Anfang an fiel Kevin durch ausgesprochen aufsässiges Verhalten auf. In der Regel war so ein Verhalten auf die mangelnde Erziehung im Elternhaus zurückzuführen. Kurz, sie hatte den Verdacht, dass die Eltern ihn vernachlässigten.

„Ihr Sohn hat allein im letzten Monat fünfmal die Schule geschwänzt! Wussten Sie davon?“ Die Lehrerin donnerte die Worte der armen Jasmin entgegen, als wollte sie die junge Frau damit zerschmettern. Instinktiv zog Jasmin den Kopf ein. Sie ließ sich jetzt auch ohne Aufforderung einfach auf einen Stuhl gleiten.

Mareike sah es missbilligend und dachte sich, dass die junge Frau keinen Anstand hatte, weil sie sich ungefragt einfach hinsetzte.

„Nein“, entgegnete Jasmin tonlos. „Ich hatte keine Ahnung.“

Mareike Hübschmann gönnte ihr kein Mitleid. Im Gegenteil, das bestätigte sie nur in ihrem Verdacht, dass die Eltern das Kind total verwahrlosen ließen.

„Dann kümmern Sie sich gefälligst um ihren Sohn. Der macht was er will. So geht das nicht. Sie müssen ihm Grenzen setzen.“

Jasmin seufzte. Sie wusste nicht wie. Aber das traute sie sich nicht zu sagen. Innerlich dachte sie sich: da läuft was total falsch. Die geht mit mir um, als wäre ich schuld. Als wäre ich das dumme Schulmädel. Aber hallo, ich bin die Mutter. Ich brauche keine Standpauke.

Mareike Hübschmann musterte die junge Frau und bildete sich ihr Urteil. Na klar, dachte sie. Hartz IV Empfängerin, dem Staat auf der Tasche liegen und nichts gebacken kriegen. Ist doch wieder mal typisch! So wie die schon aussieht! In ihrem Proleten-Look, im 3-Euro-T-shirt von KIK!

„Sie müssen doch merken, dass ihr Sohn nicht in die Schule geht?“, hakte sie noch mal nach.

Jasmin starrte ihr Gegenüber an. Die mit ihrer Designer-Jeans, dachte sie. Das was die da an ihrem dicken Hintern trägt, hat mehr gekostet, als ich im ganzen Monat verdiene. Wahrscheinlich hat sie neben dem dicken Lehrerinnen-Gehalt auch noch einen Mann, der die große Kohle einsackt. Für die bin ich doch nichts.

„Wenn das so einfach wär“, begann sie dann doch. „Muss jeden Tag um sechs Uhr auf Arbeit. Da krieg ich nicht mit, wenn der Bengel länger schläft und nicht in die Gänge kommt.“

Mareike schluckte. Na gut, nicht Hartz IV, aber mit der Nummer, ich bin die Mutti, die sich fürs Kind kaputtarbeitet kommt sie bei mir auch nicht durch.

„Vielleicht ihr Mann?“, fragte sie vorsichtig an.

Jasmin bekam einen Hustenanfall. „Der… der kommt auch nicht in die Gänge. Hat seine Arbeit verloren und jetzt sitzt er zu Hause rum und trinkt den ganzen Tag.“

Das hätte sie lieber nicht sagen sollen. Mareike streckte sich, Sie schlug die Beine übereinander. Ihr Weltbild war wieder in Ordnung. Habe ich mir doch gleich gedacht. Wenn nicht die Frau, dann eben der Mann. Assi-Familie halt. Sie beugte sich vor.

„Frau Bachmeyer, wenn Sie das nicht hinbekommen, müssen wir ihm halt eine Strafe auferlegen. Ihr Sohn wird in dieser Woche jeden Tag nachsitzen. Verstanden?“

Jasmin nickte. Sie war mit allem einverstanden.

„Trotzdem Frau Bachmeyer. Sie scheinen mir mit der Situation absolut überfordert zu sein. Haben Sie schon mal darüber nachgedacht professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen?“

Mit großen schreckgeweiteten Augen starrte Jasmin die Lehrerin an. „Hilfe, was meinen Sie damit?“

„Na ja, da gibt es die sozialpädagogische Familienhilfe des Jugendamtes. Da käme regelmäßig jemand bei Ihnen vorbei, würde kontrollieren, ob Ihr Sohn die Hausaufgaben macht und wie es sonst so bei Ihnen läuft.“

Jasmin hörte nur das Wort „Jugendamt“ und sprang sofort auf. „Ich lass mir doch von Ihnen nicht mein Kind wegnehmen!“

Bevor Mareike noch irgendetwas sagen konnte, war Jasmin schon aus der Tür.

„So warten Sie doch!“, rief sie ihr noch hinterher. Doch zu spät. Ihr Ruf prallte an der geschlossenen Tür zurück.

„Auch gut“, seufzte Mareike. Sie rückte ihren Stuhl hinter dem Pult zurecht. „Dann wird er erst mal nachsitzen und wenn das nicht hilft, schalte ich trotzdem das Jugendamt ein. Mit oder ohne Einwilligung der Mutter. Sollen die halt sehen, wie es mit dem Typen weitergeht.“

Mareike hielt sich für einen sozialen Menschen. Von Kindesbeinen an war ihr durch ihre Eltern der christliche Glaube vermittelt worden. Deshalb wollte sie auch ihren Nächsten lieben, aber Kevin machte es ihr sehr, sehr schwer. Er gehörte zur der Kategorie Schüler, die sie lieber gehen, als kommen sah. Sie war auch gar nicht traurig, wenn Kevin die Schule schwänzte. Dann musste sie sich wenigstens nicht mit ihm herumärgern. Aber natürlich war ihr auch klar, dass das kein Dauerzustand sein konnte und dass sie als Lehrerin für ihn Verantwortung trug. Deshalb, und nur deshalb hatte sie die Mutter zum Elterngespräch gebeten. Aber sie hatte sich von vornherein nicht viel davon versprochen. Aus Erfahrung wusste sie, dass „solche“ Familien meist wenig zur Mitarbeit bereit waren.

Als sie sich damals entschied, Hauptschullehrerin zu werden, hatte sie das nicht nur getan, weil der Studiengang zufällig gerade nicht mit einem Numerus clausus belegt war. Nein, sie hatte das Studium gewählt, weil sie sich engagieren wollte, weil mit ihrer Hilfe auch sozial Benachteiligte eine Chance erhalten sollten.

Jetzt mit der Realität konfrontiert, sah Mareike nach einigen Jahren Erfahrung im Umgang mit schwierigen Jugendlichen, die keine privilegierten Starthilfen gehabt hatten, ihre Arbeit mit sehr viel weniger Enthusiasmus. Sie war oft genug gegen ihre eigenen Grenzen gerannt und hatte resigniert. „Wie oft habe ich dem Kevin gepredigt, dass er seine Hausaufgaben machen soll. Wie oft habe ich ihm und auch den anderen ins Gewissen geredet, damit sie im Unterricht mitdenken, ihnen erzählt, wie wichtig es ist gute Noten zu schreiben. Zigmal habe ich wiederholt, dass nur gute Noten eine Eintrittskarte in den Arbeitsmarkt bedeuten. Wie eine alte hängen gebliebene Schallplatte habe ich immer wieder dasselbe gesagt. Trotzdem denken die Kids, was die Lehrer sagen, interessiert sie nicht.“

Wegen ihrem Glauben war Mareike aber trotz ihrer zeitweiligen Resignation überzeugt, dass sie das Richtige tat, wenn sie sich in diesem Bereich einsetzte.

Deshalb war ihr auch besonders bewusst, dass sie das Jugendamt einschalten musste, wenn im Verhalten von Kevin keine Besserung eintrat.

Als Kevin an diesem Tag nach Hause kam, erwartete ihn seine Mutter schon in der Tür. Der Sohn wunderte sich. Das kam noch nicht mal an seinem Geburtstag vor. Sogar da stand sie normalerweise nicht in der Tür, um ihn zu begrüßen. Entweder war sie auf Arbeit, oder sie war von der Arbeit so platt, dass sie im Bett lag. Die Rolle mit dem Empfangskomitee war jedenfalls neu.

Jasmin zupfte an ihrem Nasenpiercing. Sie war so nervös, dass sie ihn versehentlich raus zog. Hastig stopfte sie ihn in ihre Hosentasche. Sie hatte jetzt wirklich nicht den Nerv, sich um einen herausgefallenen Piercing zu kümmern.

„Kommst du aus der Schule?“, fragte sie ihren Sohn, weil sie nicht wusste, wie sie sonst auf den Punkt kommen sollte.

Kevin zuckte die Schulter. „Klar, woher sonst?“

Das war das Stichwort. „Genau, woher sonst? Das frage ich dich. Deine Lehrerin sagt, du schwänzt ständig die Schule!“

Jetzt erst wusste Kevin was Sache war. „Und darum stehst du hier in der Tür, oder was?“ Er quetschte sich an ihr vorbei und war schon sauer.

Jasmin merkte, dass ihr das Gespräch entglitt, bevor sie es überhaupt begonnen hatte. Was lief da nur schon wieder schief?

„Wie das mit dem Schule schwänzen ist, will ich wissen!“

„Gar nichts ist damit“, behauptete Kevin und warf seine Schultasche in die Ecke, die Schuhe hinterher, genauso wie die Jacke. Wieso aufhängen? Die lag doch gut dort am Boden.

„Dann hat deine Lehrerin also gelogen, oder was?“

Kevin kaute nachdenklich auf seinem Kaugummi. „Und wenn schon. Die Alte hat doch sowieso nen Knall.“

„Und dann darf man einfach die Schule schwänzen?“, versuchte es seine Mutter wieder. Sie lief ihm hinterher in die Küche und stand jetzt direkt hinter ihm. Flehend schaute sie ihn an. „Das darf man doch nicht einfach.“

Kevin schob sie zur Seite. „Ach lass mich doch in Ruh. Ist doch alles gequirlte Scheiße!“ Er zischte ab.

Jasmin rief ihm hinterher. „ich bin noch nicht fertig. So einfach ist das nicht.“

Kevin, der schon fast aus der Tür war, drehte sich noch einmal um und zeigte seiner Mutter den ausgestreckten Mittelfinger. „Fuck“. , hörte sie noch, ehe der Sohn in seinem Zimmer verschwand und dort die Tür lautstark zuschlug.

Jasmin ließ sich auf den Klappstuhl vor dem Esstisch sinken. Sie fühlte sich hilflos und wusste nicht, was tun. Sollte sie ihm hinterherrennen? Ihn ohrfeigen? Ins Zimmer einschließen? Gedankenfetzen flogen durch ihren Kopf. Splitter aus ihrer Kindheit. Sie sah sich wieder als Fünfjährige. Bierflaschen überall, volle und leere, überquellende Aschenbecher. Der Vater ständig sturzbetrunken, der Kühlschrank gähnend leer, Schimmelränder, die Mutter nie zu Hause und wenn doch, dann hing auch sie an der Flasche. Sie erinnerte sich an Unordnung, Chaos, überall Wäsche dreckige und saubere, Geschirr, ungespült und unhygienisch, Ungeziefer, Müllberge, Streit, andauerndes lautes Gezeter, wütende Gesichter. Dann irgendwann kam jemand und nahm sie mit. Ins Heim, wo sie dann aufwuchs, inmitten von anderen Gestörten und früh vom Leben Gezeichneten. Sie lernte schlecht, hatte auch keine Lust, besuchte die Sonderschule und verließ die Schule dann irgendwann ohne Abschluss. Innerhalb weniger Sekunden zogen diese Bilder durch ihren Kopf. Und da fiel es ihr wie Schuppen vor die Augen: ihrem Kevin würde es nicht anders ergehen. Auch er würde die Schule ohne Abschluss verlassen. Auch er würde chancenlos in seinem Leben sein.

Jasmin wollte ihren Sohn retten. Er sollte kein so armes Schwein werden wie sie selbst. Er sollte mal in einem eigenen Haus leben, eine nette Frau und hübsche Kinder haben, die alle studieren sollten. Jasmin dachte nach, wie sie ihm helfen könnte, dass er solche Ziele erreichen würde.

Leider interessierte sich Kevin überhaupt nicht für solch ferne Ziele. Er wollte seine Mutter nicht sehen. Sie sollte ihn in Ruhe lassen. Hausaufgaben waren für ihn kein Thema. Sie existierten gar nicht. Jasmin kochte eine Suppe und rief ihren Sohn zum Essen. Doch der reagierte nicht.

„Kevin, jetzt komm endlich. Die Suppe wird kalt!“, rief die Mutter durch die geschlossene Tür.

„Kein Bock!“, kam endlich die Antwort.

„Du musst doch was essen!“, flehte Jasmin.

Da kam Kevin raus, doch nur um sich seine Jacke zu schnappen. „Scheiße verdammte. Kannst du mich nicht endlich in Ruh lassen?“

Er warf die Tür zu und verschwand. Jasmin wusste, dass sie ihn so schnell nicht wieder zu Gesicht bekommen würde. Wohin er ging, sagte er nicht. Auch wann er wieder kam, verriet er mit keinem Wort. Wahrscheinlich aß er bei MC Donalds. Woher er das Geld dazu hatte, blieb im Dunkeln. Denn Taschengeld bekam er nur wenig.

Jasmin fühlte sich als Versagerin. Sie war nicht oft zu Hause und sie kümmerte sich wenig um ihre Kinder. So war Anja auch jetzt im Kindergarten. Sie wurde von ihrer Mutter erst am Spätnachmittag abgeholt. Danach hatte sie meist keine Lust mehr, sich um ihre Tochter zu kümmern. Sie setzte sie vor den Fernseher und hoffte, möglichst nicht gestört zu werden. Oft musste sie aber auch abends noch arbeiten. Dann saß Anja mit ihrem Mann vor dem Fernseher. Ob der dann Kindersendungen schaute, war fraglich.

Die Tür klackte. Hoffnungsvoll schaute Jasmin auf. War Kevin zurückgekommen?

Da schlurfte ihr Mann in die Küche. Das heißt genau genommen schwankte er. Seine Alkoholausdünstungen füllten den kleinen Raum. Jasmin zog die Luft scharf ein. Obwohl sie diesen Zustand gewöhnt war, hielt sie den Atem an, als wäre die Luft mit gefährlichem Reizgas versetzt.

„Warst du beim Arbeitsamt?“, fragte Jasmin, obwohl sie genau sah, dass er bestimmt nicht direkt vom Amt kam. Vorsichtig atmete sie dabei aus und mit offenem Mund wieder ein.

„Klar, war ich“, behauptete Sven und konnte sich kaum mehr richtig artikulieren. „Sind alles Schweine dort drinnen. Alles Schweine…“

Er plumpste auf den nächsten Stuhl und strich sich mit der Hand übern Kopf. Die Augen fielen ihm zu. Er riss sie gleich darauf wieder auf. „War auf dem Amt“, wiederholte er. „Aber … sind alles Schweine…“

„Was istn los?“, wollte Jasmin wissen.

„Haben keine Arbeit für mich… Sagen sie… Aber… die tun nichts…. Die sitzen dort nur rum…. Kümmern sich gar nicht um einen.“

Jasmin schüttelte den Kopf. „Laber keinen Quatsch. Die können dir nichts vermitteln, wenn keiner einen einstellt.“

Doch Sven war viel zu betrunken, um noch logisch denken zu können. Ganz offensichtlich hatte er nach dem Besuch beim Arbeitsamt noch tüchtig gebechert. Es war doch danach, oder? Jasmin schoss dieser Gedanke wie ein elektrischer Stromstoß durch den Körper. Er wird doch nicht schon besoffen dort aufgetaucht sein? Kein Wunder, dass die dann keine Arbeit hatten. Für einen betrunkenen Fahrer!

„Du bist doch nicht besoffen auf dem Amt gewesen?“ Sie schaute ihren Mann eindringlich an.

„Was ist los?“, lallte der.

Jasmin begriff, dass sie aus dem nichts mehr herausbringen würde. Sie packte ihn und schleppte ihn ins Schlafzimmer. Dort hievte sie ihn samt Klamotten aufs Bett. Sollte er erst mal seinen Rausch ausschlafen.

Verfangen

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