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Steine auf dem Herzen

Auf Paul Hübschmann lasteten Zentnersteine. Er fühlte sich, als sei ein riesiger Backstein aus einem fünften Stockwerk auf ihn gefallen. Er stellte sich jedenfalls vor, dass man sich dann so fühlen müsste. So mies, so kaputt und so verzweifelt.

Dabei lief eigentlich alles wunderbar. Die Scheinfirma, die er angemeldet hatte, kassierte die Überweisungsbeträge auf Waren, die nie geliefert wurden. Es waren zumeist kleinere Beträge, so dass niemand Verdacht schöpfte. Sein Plan ging auf. Er überwies und kassierte. Allerdings waren die Beträge so klein, dass es noch eine ganze Weile dauern würde, bis er das Geld, das er von Mareikes Erbe verspekuliert hatte, wieder zusammen hätte.

Darum fühlte sich Paul elend. Mareike fragte immer wieder nach ihrem Geld. Bisher ließ sie sich mit einer Ausrede abspeisen. Doch wie lange noch? Paul wusste, dass er sich auf sehr dünnem Eis bewegte. Er flüchtete sich in seiner Not wieder ins Gebet. Aber konnte ihn Gott überhaupt noch hören, jetzt da er mit voller Absicht einen falschen Weg eingeschlagen hatte? Er flehte zu Gott: „Herr zeige mir eine Lösung!“

Er dachte an seine Frau. Mit Mareike zu reden, ihr das eigene Versagen einzugestehen, erschien ihm als zu einfach. Das konnte er jetzt nicht mehr. So konnte er ihr nicht kommen. Unruhig lief er im Raum hin und her, wie ein Tiger in einem zu engen Käfig.

Er musste ihr das Geld zurückgeben können. Er brauchte also Geld. Unbedingt. Um jeden Preis. Egal was es kostete. Und wenn er seine Seele dem Teufel verkaufen müsste! – Hatte er das gerade eben wirklich gedacht?

Paul entsetzte sich über sich selbst. So tief war er schon gefallen! Dass Geld ihm alles bedeutete? Dass er seine eigenen Überzeugungen dafür aufgeben würde? Das war doch nicht er?

Paul war der Sohn eines angesehenen Landarztes mit gut gehender Praxis. Seine Mutter half bis heute in der Praxis mit. Sie hielt den Betrieb am laufen und war die gute Seele auch für die Patienten. Von Anfang an erhielt Paul die bestmögliche Förderung. Er konnte Klavier spielen, mehrere Sprachen sprechen und war natürlich aufs Gymnasium übergetreten. Im Sport zeigte er nicht gerade überragende Leistungen, betätigte sich aber trotzdem im Fußballverein und spielte gelegentlich Tennis. Paul hatte BWL studiert und jetzt einen guten Job in einem Pharmaunternehmen. Im Gegensatz zu ihm hatte sich sein jüngerer Bruder Simon schon früh für medizinische Themen interessiert. Simon studierte wie erwartet Medizin und würde später die Praxis seines Vaters übernehmen.

Pauls Eltern waren zu Recht stolz auf ihn. Sie hatten ihm auch den Glauben vorgelebt. Schon der Vater saß seit Jahren im Kirchenvorstand. Auch jetzt gehörte es in seiner Familie zu einem gelungenen Sonntag, dass man den Gottesdienst besuchte.

Seine Eltern waren für Paul sehr wichtig. Sie zu enttäuschen wäre ihm furchtbar gewesen.

Allein deshalb musste er eine gute Lösung für sein Problem finden. Es konnte nicht sein, dass er zum Betrüger wurde.

An dieser Stelle fiel Paul ein, dass er ja schon betrogen hatte. Sein Betrug war ja bereits im vollen Gange. Wie gerne hätte er das jetzt verdrängt. „Du bist ein Betrüger! Du bist ein Betrüger!“, hämmerte es in seinem Kopf. Wieder und immer wieder. Er legte sich abends ins Bett und konnte nicht einschlafen, weil er nichts als diese dürren Worte in seinem Kopf vernahm. Gleichzeitig lag dieser Zentnerstein auf seiner Brust. Er fühlte sich in einer unendlichen Zwickmühle.

Am nächsten Tag wachte er auf und der Blick in den Spiegel brachte ihm seine ganze Misere wieder zu Bewusstsein. Ein müder alter Mann mit glanzlosen Augen und Drei-Tage-Bart schaute ihm mürrisch und finster entgegen. Sein Gewissenskampf war ihm förmlich ins Gesicht geschrieben.

„Paul beeil dich, ich muss noch mal ins Bad!“, Mareike klopfte an die Badtür.

Dass Frauen aber auch immer so ewig brauchen müssen. Sie hatte sich doch schon fertig gemacht. Wieso musste sie jetzt noch mal rein.

Die Gedanken über die Widersprüchlichkeiten von Frauen lenkten Paul zumindest vorübergehend von seinen Problemen ab. Trotzdem lasteten seine Sorgen so schwer auf ihm, dass er den Rasierapparat falsch ansetzte und sich tief ins Fleisch schnitt. Jetzt sah er aus, als sei er einem Messerwerfer in die Quere gekommen. Sein sonst so makelloses Gesicht – entstellt mit einer zentimetergroßen Schramme.

Er klebte ein Pflaster über die Wunde, was es auch nicht besser machte. Das auch noch! Und in einer Stunde musste er zu einer wichtigen Besprechung! Er seufzte. Zum Glück war er wenigstens keine Frau, die würden sich wegen einer solchen Verletzung bestimmt krankschreiben lassen.

Mareike schüttelte nur den Kopf, als sie Paul mit dem Pflaster sah. „Wie siehst du denn aus?“, murmelte sie ungnädig und ohne sich liebevoll um seine Wunde zu kümmern. Zu einem größeren Kommentar fand sie keine Zeit mehr. Eigentlich war Paul froh, dass sie weder Zeit noch Lust hatte, sich mit seiner Schnittwunde zu beschäftigen. Er hätte ihre Fürsorge jetzt nicht ertragen können.

Mareike drängte sich an ihm vorbei ins Bad, um ihre Frisur mit Haarspray in Form zu bringen und sich Make-up aufzulegen. Ungeschminkt traute sie sich nicht vor ihre Klasse, mit siebenundzwanzig Pubertierenden.

Mareike wunderte sich über Pauls Unausgeglichenheit. Seit Wochen ging er ihr aus dem Weg. Bisher dachte sie eigentlich, dass sie eine gute Ehe führten. Sie hatten viel gemeinsamen Gesprächsstoff. Sie konnten stundenlang miteinander diskutieren und lachen. Ab und zu verbrachten sie einen gemeinsamen Abend im Kino, oder auch mal im Theater. Sie besuchten zusammen ihre, oder seine Eltern. Es gab wenig Streitpunkte und ihre Ehe hatte eine gemeinsame Basis.

Doch in letzter Zeit hatte Paul Geheimnisse vor ihr. Sie spürte es ganz deutlich. Er brach Gespräche plötzlich ab, so wie neulich, als sie ihm von ihrer Entscheidung erzählt hatte, im Fall von Kevin die sozialpädagogische Familienhilfe einzuschalten. „Meinst du, es war richtig?“, fragte sie ihn.

Paul starrte durch sie hindurch, als wäre sie überhaupt nicht vorhanden. „Ja natürlich.“, gab er abwesend zur Antwort. Er hatte ihr überhaupt nicht zugehört. Stattdessen stand er auf einmal auf, um ganz plötzlich zu telefonieren.

Sie verstand ihn nicht. Oft war er gereizt und fuhr wegen einer Kleinigkeit aus der Haut. Einen gemeinsamen Abend hatten sie auch schon länger nicht miteinander verbracht. Selbst der Sex kam Mareike wie eingeübt vor, ohne inneren Bezug.

Sie wusste nicht, was dahinter steckte, fühlte aber, dass etwas nicht stimmte. Natürlich dachte sie, da ihr Mann nicht darüber sprach, dass es etwas mit ihrer Beziehung zu tun hatte. Vielleicht hatte er eine andere? Mareike konnte es sich zwar nicht vorstellen, aber es sind schon so viele Männer fremdgegangen, von denen man es niemals gedacht hätte.

Sie spielte mit dem Gedanken, ihn ganz offen danach zu fragen. Aber im letzten Moment zuckte sie immer wieder davor zurück. Was, wenn er wirklich eine Geliebte hätte? Was wäre die Konsequenz? Scheidung? Plötzlich stand ein Begriff im Raum, von dem sie niemals gedacht hätte, dass der in ihrem Leben einmal eine Rolle spielen könnte. Er tauchte auf wie ein Gespenst, genauso unheimlich und voller Bedrohung. Nein, sie würde ihn nicht danach fragen. Vielleicht war’s ja die Midlife-Crisis, von der doch so viele Männer bedroht waren. Möglich, dass Paul einfach früher in diese Jahre kam, als andere.

Mareike seufzte tief auf. Ja, so musste es sein. Eine Krise - die sich bald wieder in Luft auflösen würde.

*

Ein paar Tage später. Mareike kochte vor Wut.

„Es ist mein Geld. Du hast es für mich nur angelegt. Es gehört dir nicht. Meiner Erinnerung nach müsste der Vertrag jetzt auslaufen und der Betrag wieder frei werden. Ich will doch nichts anderes, als dass das Geld jetzt auf mein Konto kommt.“

Paul versuchte alles, um die Wogen zu glätten. „Aber du bekommst es ja. Nur nicht jetzt. Du erinnerst dich falsch. Die Anlage ist noch nicht fällig.“

„Warum habe ich die ganze Zeit das Gefühl, dass du mich anlügst?“

Mareike stemmte die Hände in die Hüften und stand in kämpferischer Pose vor ihrem Mann.

Der schaute sie hilflos an. Er wusste ja, dass sie Recht hatte. Aber verdammt noch mal. Das brauchte sie nun wirklich nicht zu wissen.

„In einem Monat bekommst du dein Geld.“, behauptete Paul, drehte sich um und knallte die Tür zu. Draußen drückte er auf seinen Auto-Fernbedienungs-Schlüssel und das Auto signalisierte mit einem Blinken, seine Fahrbereitschaft, wie ein Hund, der seinem Herrn mit dem Schwanz entgegenwedelt. Er hüpfte ins Auto und düste davon.

Mareike trieb indessen ihre Tochter zur Eile an. „Erst Stress mit dem Mann“, seufzte sie. „Dann trödelt auch noch die Kleine.“

Natürlich konnte Lisa ihre Schuhe längst selbst binden. Doch heute hatte Mareike keinen Nerv dafür. Rasch half sie ihr dabei.

„Aber ich kann doch selber…“, klagte Lisa und schob trotzig ihre Unterlippe vor. Was war ihre Mutter heute aber auch gar so hektisch!

„Heute nicht Lisa“, erklärte ihr Mareike, der alles viel zu lange dauerte. „Wir sind zu spät dran.“ Sie schob Lisa durch die Tür, rannte mit ihr rüber zu ihrem VW und öffnete die hintere Tür. Gleich darauf schnallte sie die Tochter auf dem Kindersitz fest und zwängte sich auf den Fahrersitz.

Sie war stocksauer. Als emanzipierte Frau hatte sie einen Mann geheiratet, mit dem sie eine gleichberechtigte Ehe führen wollte. Und jetzt behandelte sie eben dieser Mann wie eine unmündige Dreijährige. Als wäre sie nicht selbst imstande, ihr Geld zu verwalten. Als müsste sie ihn erst um Erlaubnis bitten. Entwürdigend empfand sie das. Hätte sie ihm doch nie das Erbe ihrer Großmutter anvertraut!

„Das passiert mir nicht noch einmal!“, dachte sie voller Wut.

Nach dem sie Lisa im Kindergarten abgeliefert hatte, sprang sie gleich wieder in ihr Auto und fuhr zur Arbeit in ihre Schule.

Heute hatte sie nur vier Stunden. Denn nach der vierten Stunde sollte eine Konferenz stattfinden.

Sie fand das gut. Gerade heute hatte sie wenig Nerven und die paar, die ihr noch übrig blieben, wollte sie ungern in der Schule verschleißen.

Manchmal wünschte sie sich ein dickes Nervenkostüm, umwickelt mit Drahtseilen.

Ihre Klasse mit lauter Vierzehnjährigen war meistens nicht gerade einfach zu handhaben. Die Kinder steckten mitten in der Pubertät und einige von ihnen kamen aus schwierigen Verhältnissen. Das zeigte sich dann auch in ihrem Verhalten. Sie sahen sich selbst als arme Opfer und die Lehrer als die natürlichen Feinde der Schüler.

Die Kids zeigten sich selten motiviert und ganz bestimmt nicht, sobald am Ende der Schulgong ertönte.

Tom stand an der Tafel. Als es klingelte, warf er die Kreide auf die Ablage, rannte zurück zu seinem Platz und schnappte sich die Schultasche. Alle anderen sprangen von ihren Stühlen auf und stürmten zur Tür. Mareike konnte ihre Schüler gar nicht schnell genug entlassen. Wenn sie am Anfang des Schultages meist noch zu müde und langsam waren, so übertrafen sie sich jetzt beim Starten in den Nachmittag.

Sie drängten und schubsten, stolperten übereinander und schoben sich unter viel Gekreische, Gejohle und Geschrei nach Draußen. Wenn eine Klasse Vierzehnjähriger die Treppe hinunterpolterte, hörte sich das an wie eine Herde Zirkuselefanten auf der Flucht.

Mareike schaute ihnen hinterher und fühlte sich für den Augenblick wie befreit. Bis zum nächsten Morgen um acht Uhr hatten ihre Nerven Zeit sich zu erholen. Sie seufzte aus Herzensgrund.

Die Lehrerin zog einen kleinen Handspiegel aus ihrer Tasche, warf einen Blick hinein und strich eine widerspenstige Strähne aus der Stirn. Sie kontrollierte, ob ihre Wimperntusche nicht verschmierte. Alles in Ordnung. Dann also ab zur Lehrerkonferenz.

Schnell eilte sie den Gang entlang und schlüpfte durch die Tür ins Lehrerzimmer. Die meisten ihrer Kollegen waren schon versammelt. Sie zwängte sich neben Irene, einer älteren und gutmütigen Kollegin. Von ihr hatte sie schon so manchen Tipp bekommen, wie sie die Klasse behandeln musste. Irene teilte ihre Erfahrungen gerne mit jüngeren Kollegen, dabei war sie nicht überheblich, oder von oben herab. Ihre Tipps kamen ganz natürlich und unaufdringlich.

Zwei Minuten später erschien Karsten Schneider, der Schulleiter. In seiner Begleitung befand sich ein neuer Kollege, wie es schien.

Karsten Schneider stellte ihn auch sofort dem Kollegium vor.

„Das ist Lukas Roth. Er wird ab sofort die Vertretung für unsere erkrankte Kollegin, Frau Roswitha Schön übernehmen.“

Dann übergab er das Wort dem neuen Kollegen. Damit der sich persönlich vorstellen konnte. Allerdings sagte der nicht sehr viel über sich. Trotzdem zog er alle im Raum in seinen Bann. Jeder war sofort von ihm eingenommen. Seine eindrucksvolle Persönlichkeit übte auf alle eine große Faszination aus.

Vor allem Mareike war schwer beeindruckt. „Der schaut aber gut aus!“, dachte sie. „Und eine Ausstrahlung hat der…“ Durch ihre kleine Krise mit Paul war sie ganz besonders empfänglich für den Charme gut aussehender Männer.

Er schaute mehrmals in ihre Richtung und jedes Mal hatte sie das Gefühl, er wäre nur ihretwegen gekommen und würde nur sie anschauen.

Unsinn, rief sie sich selbst zur Ordnung. Wie kannst du bloß so einen Schwachsinn denken. Deine Nerven sind völlig hinüber. Wahrscheinlich brauchst du Urlaub. So dachte sie und konnte sich doch nicht davon lösen, dass sie vollkommen von dem neuen Kollegen fasziniert war.

Verfangen

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